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Krim-Krise
Ein fundamentaler Vertrauensverlust in die Eliten

Die Geschehnisse in der Ukraine stellen nicht nur den jungen Nationalstaat vor große Herausforderungen. Es ist auch das erste Mal, dass die Europäische Union an ihrer Außengrenze mit einem territorialen Konflikt konfrontiert ist.

Von Cornelius Wüllenkemper |
    "Die Vorgänge in der Ukraine sind ein Wendepunkt in der Geschichte Europas. Ende der Dreißigerjahre war Österreich eine problematische Nation, und die Tschechoslowakei war ein multinationaler Staat. Es war einfach, von außen auf diese Staaten zu blicken und zu sagen: Vielleicht sollten sie gar nicht existieren, vielleicht ist es einfacher, wenn wir sie in kleine Teile zerlegen. Wenn sie die Ukraine als Staat zerstören, würde dies die gleichen Konsequenzen für die europäische Sicherheitsordnung haben wie damals die Zerstörung der Tschechoslowakei und Österreichs."
    Timothy Snyder, Geschichtsprofessor an der Yale University, ist überzeugt: in 40 Jahren werde man sich an die Aktivisten auf dem Maidan als Kämpfer für ein vereintes, friedliches Europa erinnern. Snyder ist Autor der preisgekrönten Studie "Bloodlands" über die blutige Geschichte Osteuropas zwischen Hitler und Stalin und gilt als einer der renommiertesten Experten für osteuropäische Zeitgeschichte. Wer bestreite, dass die Ukraine eine einheitliche Nation sei, wie noch Ende März der russische Außenminister Lawrow bei seinem Treffen mit US-Außenminister Kerry, ignoriere, dass Nationen stets aus ethnisch und zum Teil auch sprachlich verschiedenen Bevölkerungsgruppen bestehen.
    "Kiew ist eine russischsprachige Stadt, und sie ist das Zentrum der Aufstände. Genau deswegen ist der Maidan so bedrohlich für Russland. In der Ukraine geht es um eine russischsprachige Bürgerbewegung, mit einer freien russischsprachigen Presse. Russlands Propaganda will glauben machen, wir hätten es hier mit einer nationalistischen ukrainischen Bewegung zu tun. Dabei fühlt sich Russland nur bedroht, weil es um die größte russischsprachige Protestbewegung in der heutigen Welt geht! Die polarisierende Aussage, die Ukraine teile sich in Westen und Osten, ist reine Propaganda, um dem Land als Staat die Legitimation abzusprechen."
    Bereits das zaristische Russland gründete seine nationale Identität auf der Idee einer slawischen Einheit, für die das heutige ukrainische Territorium konstitutiv war. Die Bezeichnung Russland geht auf die Kiewer Rus zurück, dem ersten slawischen Staat aus dem 11. Jahrhundert. Putin, so sagte Timothy Snyder auf der Tagung in Berlin, habe sich diesem Erbe verschrieben und wolle mit der Eurasischen Union aus Kasachstan, Weißrussland und der Ukraine einen imperialen Gegenpol zur Europäischen Union aufbauen. Das Argument, er müsse seine Landsleute in der Ukraine schützen, sei historisch und völkerrechtlich äußerst fragwürdig, so Snyder.
    Putin entscheidet, wer ein "Volksgenosse" ist
    "Mich überrascht, wie auch in der westlichen Presse zwischen ethnischen Russen und ukrainischen Bürgern unterschieden wird. Ganz so, als gäbe es keinen moralischen Unterschied, ob wir von Ethnizität oder von Nationalität sprechen. Putin spricht ja nicht einmal von ethnischen Russen, sondern von 'Volksgenossen'. Das ist ein sehr schwammiges, breites Konzept, denn ein Volksgenosse, das kann in etwa jeder sein. Und Putin allein entscheidet, wer ein russischer Volksgenosse ist und wer nicht."
    Snyder geht noch weiter: wenn die ukrainische Nation zerfalle, zerfalle damit auch die europäische Idee, oder vielmehr das, was von ihr übrig sei. Denn die Revolte, die zum Sturz von Viktor Janukowitsch und wenig später zur russischen Invasion auf der Krim führte, habe sich ursprünglich gegen ein ukrainisch-europäisches Phänomen gerichtet.
    "Die Oligarchen profitieren sowohl von der Korruption in der Ukraine, als auch vom österreichischen Bankengeheimnis und von der Möglichkeit, sich die britische Staatsbürgerschaft zu erkaufen. Insofern ist die Revolution in der Ukraine für die EU eine Gelegenheit: Wenn sie sich bewusst werden, wie viel Einfluss Oligarchen aus Russland und der Ukraine durch ihr Geld und ihr Lobbysystem real in der EU haben, können die Europäer sich überlegen, wie sie ihre Innen- und Außenpolitik neu gestalten."
    Während für den Yale-Professor Europas rechtsstaatliche Demokratie allein durch postsowjetische Autokratien bedroht wird, wurden auf der Berliner Konferenz auch differenziertere Lösungen angeboten. Längst habe sich nicht nur in der Ukraine, sondern auch bei den EU-Bürgern die Überzeugung durchgesetzt, dass das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft nicht mehr gelte, sagte Ivan Krastev, Vorsitzender des bulgarischen Zentrums für Liberalismusstudien. Politische Entscheidungen, egal wie demokratisch sie getroffen und egal ob sie das linke oder das rechte Lager bedienen, änderten daran nichts. Denn die Eliten bräuchten den Wähler im globalisierten Liberalismus zwar zur Aufrechterhaltung des demokratischen status quo. Aber weder als Konsumenten, noch als Produzenten, noch zu ihrem eigenen Schutz.
    Der Wähler als Konsument hat an Bedeutung verloren
    "Heute basiert der Schutz unserer Gesellschaften weniger auf dem Einsatz von Bürgersoldaten als auf Drohnen und modernster Militärtechnik. Auch der Wähler als Konsument hat an Bedeutung verloren: Deutsche Produkte werden heute eher in China verkauft als in Deutschland. Und die Arbeitskräfte zur Herstellung von Waren befinden sich heute vorwiegend außerhalb der mächtigen Industriestaaten. Das heißt, dass der Wähler enorm an sozialer Macht verliert."
    Ivan Krastev diagnostiziert einen fundamentalen Vertrauensverlust in die politischen und wirtschaftlichen Eliten. Die EU werde von den Bürgern als Sachverwalter globaler Wirtschaftsinteressen wahrgenommen und nicht als Gemeinschaft europäischer Identitäten. Wenn Regierungschefs milliardenschwere EU-Rettungsfonds durchwinken, sei das wirtschaftlich zwar sinnvoll, stelle die EU aber vor ein grundlegendes Zukunftsproblem, so Krastev.
    "Wenn die Menschen Politik nicht mehr als Wettbewerb verschiedener Wirtschaftsinteressen verstehen, wird Politik für sie zusehends eine Frage von Identität. Wenn man also in Europa wirtschaftliche Entscheidungen zusehends zwischenstaatlich regelt, ist das zwar gut für die Wirtschaft, aber gleichzeitig ein großes Risiko für die EU. Denn es ist sehr viel einfacher, über Gehälter zu verhandeln, als über Identitäten."
    Die Krise in Kiew treffe die EU in einem äußerst ungünstigen Augenblick. Denn derzeit werde die europäische Idee aufgerieben zwischen Jugendarbeitslosigkeit, Vertrauenskrise Rechtspopulismus, europakritischen Bürgerbewegungen und einem allgemeinen Identifikationsmangeln mit "denen in Brüssel". Wer angesichts der Ukraine-Krise nach den Idealen des heutigen Europas fragt, fand auf der Berliner Tagung ziemlich ernüchternde Antworten. Während an den EU-Außengrenzen um nationale Identität und Zugehörigkeit gekämpft wird, scheint man im vereinten Europa weiterhin nach Identitätsangeboten jenseits des gemeinsamen Marktes zu suchen.