Martin Zagatta: Frank-Walter Steinmeier, der deutsche Außenminister, ist schon wieder unterwegs nach Brüssel zum Treffen mit seinen Amtskollegen von der NATO. Das Bündnis will über den Wunsch der osteuropäischen NATO-Mitglieder, vor allem der baltischen Staaten beraten, nach der Krim-Krise jetzt mehr Schutz zu erhalten, und das war auch schon Thema beim sogenannten Weimarer Dreieck, beim Treffen der Außenminister von Polen, Frankreich und Deutschland am Vormittag.
Wir haben es gehört: Auch wenn man nicht so recht weiß, wie man das umsetzen soll, Polen und die baltischen Staaten wünschen sich von der NATO mehr Hilfe. Und das Bündnis will dem jetzt offenbar auch nachkommen, wenn heute und morgen die Außenminister der NATO-Staaten tagen.
Mitgehört hat der Sicherheitsexperte und Publizist Walther Stützle, früher einmal Staatssekretär im Verteidigungsministerium und lange Jahre Leiter des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI. Guten Tag, Herr Stützle!
Walther Stützle: Guten Tag, Herr Zagatta.
Zagatta: Herr Stützle, wie ordnen Sie das ein, dass die Luftraumüberwachung an den Grenzen zu Russland jetzt verstärkt werden soll, auch mit Einsatz der deutschen Luftwaffe? Ist das ein unfreundlicher Akt gegenüber Moskau jetzt, oder ist das eine Selbstverständlichkeit in dieser Situation?
Stützle: Alles was militärisch demonstrativ jetzt gemacht wird, ist politisch schädlich. Alles was routinemäßig abläuft wie immer sozusagen, ist politisch neutral. Ich darf aber vielleicht mal daran erinnern und Sie und ich, wir erinnern uns daran: 1968, als die Sowjetunion Truppen an der Grenze zur damaligen Tschechoslowakei massierte, hat der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Ulrich de Maizière, ein politisch außerordentlich feinfühliger Mann, der politischen Leitung seines Landes – das war Bundeskanzler Kiesinger und Verteidigungsminister Strauß – geraten, ein geplantes Großmanöver, das auch in die Nähe der tschechischen Grenze geführt hätte, abzusagen und nach Baden-Württemberg zu verlegen, um keinerlei falsche politische Signale zu senden. Vielleicht sollte man sich an diesem Wissensstand der Allianz ein bisschen orientieren und alles, was so demonstrativ wirkt, einfach unterlassen.
Zagatta: Was die NATO jetzt macht, vor hat und die Bundesregierung ja offensichtlich auch, ist dann nicht ganz so feinfühlig aus Ihrer Sicht?
Stützle: Der Luftraumschutz wird seit vielen Jahren ausgeübt in den baltischen Staaten – die Kollegin hat das ja völlig richtig geschildert. Aber daraus jetzt eine politische Demonstration zu machen, oder mit Schiffen in die Ostsee demonstrativ einzulaufen, das bringt politisch nur Irritation und nützt militärisch gar nichts. Es scheint ein bisschen vergessen zu sein, dass es gar keine militärische Bedrohung gibt für diese Staaten.
"Nicht ins Klein-Klein verfallen"
Zagatta: Martin Erdmann, der deutsche Botschafter bei der NATO, der meint, jetzt in dieser Krim-Krise würden die NATO-Partner ganz besonders auf Deutschland schauen. Ist da jetzt irgendwie auch eine deutsche Führungsrolle gefragt? Sehen Sie da einen gewissen Druck auf die Bundesregierung?
Stützle: Ja. Es ist insofern eine Führungsrolle gefragt – und es gibt ja allererste Anzeichen, dass das auch verstanden wird in Berlin -, und zwar bei dem Treffen des Bundesaußenministers mit seinem polnischen und französischen Kollegen gestern in Weimar – wir haben das schon auf dem Sender gehört – ist zum ersten Mal deutlich geworden, dass diese drei Außenminister verstanden haben, dass es bei der Auseinandersetzung um die Ukraine um eine politische Ordnungsfrage im Nach-Kalten-Kriegs-Europa geht und dass diese politische Ordnungsfrage nicht gelöst werden kann in der Konfrontation mit Russland, sondern nur in der Kooperation mit Russland, und deswegen haben die drei Außenminister in Weimar ja gestern vorgeschlagen, dass man als Europäische Union und mit Russland auch über diese Ordnungsfragen spricht. Und wenn das geschehen sollte, dann hätten wir zum ersten Mal einen Hinweis darauf, dass die großen sicherheitspolitischen und außenpolitischen Orientierungsfragen endlich die politische Spitze erreicht haben und man sich endlich darüber Gedanken macht, statt im Klein-Klein zu verfallen.
Zagatta: Das würde dann aber wahrscheinlich auch bedeuten, wenn es diese Verhandlungen für die Zukunft gibt, man müsste anerkennen, die Krim gehört jetzt zu Russland. Das wird dann damit anerkannt?
Stützle: Die russische Führung hat sich die strategische Gedankenlosigkeit der atlantischen Allianz und der Europäischen Union in einem Moment westlicher Schwäche zunutze gemacht, um völlig rechtswidrig – das ist völlig klar – die Krim zu okkupieren. Das wird vermutlich nicht zurückzudrehen sein. Aber es darf bei diesem Thema ja nicht, wir dürfen ja bei diesem Thema nicht stehen bleiben. Politik muss ja die Frage stellen, wie kann man aus dieser Krisenfalle wieder herauskommen, und das kann nur mit politischen Konzepten geschehen, nicht mit militärischen Demonstrationsmanövern.
Parlamentswahl in der Ukraine abwarten
Zagatta: Wie kann man aus dieser Krise wieder herauskommen? Darüber beraten ja jetzt die NATO-Außenminister. Herr Stützle, Russland fordert da schon, dass die Ukraine auf keinen Fall in die NATO aufgenommen wird. Sollte man dieser Forderung nachkommen? Kann man da überhaupt nein sagen, falls die Ukraine NATO-Mitglied werden will?
Stützle: Die NATO ist völlig frei, darüber zu befinden, ob ein Staat, wenn er denn die Voraussetzung erfüllt, in die atlantische Allianz aufgenommen werden kann. Es ist völlig eindeutig, dass die der Ukraine ursprünglich 2008 zugesagte Aufnahme in die atlantische Allianz derzeit nicht erfolgen kann, weil die Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Eine der Kernvoraussetzungen ist völlig unerfüllt, nämlich die Stimme der Ukraine selbst, was will die Ukraine selbst. Wir werden die Wahlen zur Präsidentschaft abzuwarten haben, wir werden die Parlamentswahlen abzuwarten haben und wir werden abzuwarten haben, wie die politische Willensbildung erfolgt. Und wie dann die dann gewillte politische Führung sich orientiert und deren Signale in Richtung Europäische Union, in Richtung NATO, in Richtung Russland sind, wird man sorgfältig zu prüfen haben.
Dabei geht es keineswegs nur um die strategischen Interessen der atlantischen Allianz, so wichtig die auch sind, sondern es geht auch um die strategischen Interessen der Ukraine selbst und um die strategischen Interessen des Nachbarn Russland, der in nicht geringem Umfang auch in einer militärischen Abhängigkeit zur Ukraine steht. Ein Punkt, der in der Öffentlichkeit und offenbar in der atlantischen Allianz auch völlig vergessen ist.
Zagatta: Der Sicherheitsexperte und Publizist Walther Stützle. Herr Stützle, ich bedanke mich für das Gespräch.
Stützle: Ich danke Ihnen, Herr Zagatta.
Zagatta: Schönen Tag.
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