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Krimi Spezial
Jack Londons Agententhriller ohne Spione

Jack London ist der autodidaktische Tausendsassa unter den US-amerikanischen Bestsellerautoren – Schwerarbeiter, Weltreisender, Goldsucher, Seemann, Farmer und erklärter Sozialist. Zu seinem 100. Todestag erscheint sein einziger Krimi "Mord auf Bestellung" in neuer Übersetzung.

Von Pieke Biermann | 23.12.2016
    Zeitgenössisches Porträt des US-amerikanischen Schriftstellers Jack London. Durch seine Abenteuerromane "Der Seewolf" (1904) und "Lockruf des Goldes" (1910) wurde er weltberühmt. Jack London, der eigentlich mit bürgerlichen Namen John Griffith hieß, wurde am 12. Januar 1876 in San Francisco geboren und starb am 22. November 1916 in Glenn Ellen durch Selbstmord.
    Der US-amerikanische Schriftsteller Jack London (1876-1916) wurde mit seinen Abenteuerromanen "Der Seewolf" und "Lockruf des Goldes" weltberühmt. (picture-alliance / dpa)
    Wer sich angesichts der Werbung freut auf Jack London als meisterhaften Vorfahren von Eric Ambler & Co, der ist nach zehn Seiten – freundlich gesagt – verblüfft. Gut, es gibt in "Mord auf Bestellung" eine Agentur, die beschäftigt auch Agenten. Nur, von Spionage ist weit und breit keine Spur. Also kann das mit dem "ersten Agententhriller" logischerweise nicht stimmen. Und das mit der Wiederentdeckung? Nun ja, das Werk war nie aus der Welt, auch nicht aus der deutschsprachigen. 1971 erschien es hier zum ersten Mal, unter dem schiefen Titel "Das Mordbüro", seitdem wird es mit Ehrfurcht behandelt wie eine Ikone.
    Aber hat Jack London eigentlich wirklich einen Krimi geschrieben? Schauen wir mal. Es geht bei ihm um eine Frage, die vermutlich so alt ist wie die Entdeckung der Moral im Laufe der Menschwerdung: Kann Böses Gutes tun? Kann es, zum Beispiel, ethisch korrekt sein, jemanden zu töten? Das Kriegsrecht hat seine eigenen Antworten darauf. Im Zivilleben dagegen ist Töten immer unrechtmäßig und muss geahndet werden.
    Mord im Namen irgendeiner angeblichen Moral ist für Krimischreiber natürlich ein verlockendes Spielfeld: Es bietet Platz für schöne Plot-Möglichkeiten, für Figuren, die Zeitgeist und moralische Haltung eines Autors verkörpern, für philosophisch-politisches Räsonnieren und spannende Twists, die uns Leser intellektuell bei der Stange halten.
    Attentate für verschiedene Auftraggeber
    Jack London erfindet dafür eine florierende GmbH, die Attentate für verschiedenste Auftraggeber erledigt. Wir sind im New York von 1911, anarchistische Attentäter sind damals so präsent wie heute terroristische. Der Exilrusse Ivan Dragomiloff hat daraus ein Geschäftsmodell mit flexibler Preisgestaltung entwickelt:
    Hausmann zog eine dicke Brieftasche hervor. "Ist die Bezahlung der vollen Summe erforderlich – Sie wissen doch, dass wir Anarchisten arme Leute sind."
    "Deshalb mache ich Ihnen auch so einen günstigen Preis. Zehntausend Dollar für die Tötung des Polizeichefs einer Großstadt ist nicht überzogen. Wären Sie Millionär und keine bettelarme Vereinigung, würde ich Ihnen für McDuffy fünfzigtausend Minimum berechnen."
    "Du lieber Himmel! Was würden Sie denn dann für einen König verlangen!"
    "Das kommt ganz darauf an. Ein König, sagen wir der von England, würde eine halbe Million kosten. Bei zweit- oder drittrangigen Königen beliefe sich das Honorar auf etwas zwischen fünfundsiebzig- und hunderttausend Dollar."
    Tötung muss gesellschaftlich wertvoll sein
    Gezahlt wird vorher, ein Auftrag kann nicht widerrufen werden, wird aber nur erledigt, wenn eine Bedingung stimmt: Die Tötung dieses oder jenes Menschen muss gesellschaftlich wertvoll und rechtmäßig sein. Trifft das nicht zu, gibt's das Geld zurück, abzüglich zehn Prozent für die Nachforschungen. Misslingt die Tötung – dito, und mit Zinsen. Die Attentäter sind allesamt Professoren – Geistesriesen und Topkiller in einem, der Chef ein Philanthrop mit totsicherer Grifftechnik. Kurz, die Attentats-GmbH ist eine vorbildliche Firma für perfekte Verbrechen.
    Bis ihr der reiche Sozialist Winter Hall in die Quere kommt. Er ist so moralisch-ambitioniert, dass er beim Tête-à-tête mit einer russischen Blondine namens Grunya erst mal ein Referat über Slums hält. Grunya findet das durchaus sexy – sie ist schließlich auch Sozialistin. Dass sie außerdem Dragomiloffs Tochter ist, weiß weder sie noch Hall, als er ihr danach von einem Verbrecherverein erzählt, den er hinter dem vermeintlichen Suizid eines Freundes vermutet. Es kommt, wie es kommen muss: Dragomiloff und Hall treffen aufeinander.
    Ein echter Krimiautor schrieb das Buch zu Ende
    Erfunden hat Jack London diesen Plot, genau genommen, nicht, er hat ihn Sinclair Lewis abgekauft: 1910, für ein paar Dollar, auf der Suche nach Stoff, mit dem sich rasch neues Geld verdienen lässt. 1000 Wörter pro Tag, das müsste doch zu machen sein. Nur, so leicht geht "Krimi" leider nie. Und schon gar nicht, wenn man wie London als erstes eine Art moralphilosophisches Exerzitium konstruiert: Hall nämlich beauftragt Dragomiloff, sich selbst zu töten, und der nimmt an. Also muss die ethische Frage geklärt werden:
    Es war der Kampf zweier pragmatischer Gelehrter. Zur Debatte stand einzig die Frage, ob die Attentatsagentur eine rechtmäßige Einrichtung war. Ja, sie dachten beide so pragmatisch, dass sie die gesellschaftliche Zweckdienlichkeit als entscheidendes Kriterium akzeptierten und darin übereinstimmten, dass diese in höchstem Maße ethisch war. Und anhand dieses Kriteriums trug am Ende Winter Hall den Sieg davon. "Ich erkenne jetzt", sagte Dragomiloff, "dass ich nicht genügend Betonung auf die gesellschaftlichen Faktoren gelegt habe. Die Attentate sind weniger für sich genommen als vielmehr gesellschaftlich falsch. Von Individuum zu Individuum betrachtet waren sie keineswegs falsch. Aber Individuen sind Teile einer Gesamtheit von Individuen. Ich war nicht im Recht."
    Roman, der als Krimi funktioniert
    Und weil ein Auftrag nicht widerrufen werden kann, hetzt Dragomiloff seine Attentäter auf sich und muss sie alle umbringen, um selbst zu überleben.
    Hier irgendwo, nach 20.000 Wörtern, ging Jack London die Lust aus – oder das literarische Handwerkszeug, um aus der Konstruktion wieder rauszukommen. Erst Anfang der 1960er Jahre schreibt Robert L. Fish, ein echter Krimiautor, den Stoff zu Ende. Er macht aus einem Traktat mit klassenkämpferischen und sozialsatirischen Anmutungen einen Roman, der als Krimi funktioniert. Denn Fish glättet auch die stilistischen Unebenheiten zwischen Londons oft pädagogisch-bräsiger Prosa und der ergänzten actionreichen Verfolgungsjagd durch die halbe Welt. Eike Schönfelds Übersetzungskunst macht das endlich auch auf Deutsch lesbar, seine klugen Anmerkungen und Freddy Langers Nachwort ergeben ein rundes Buch, das man auch heute noch lesen kann – aus philosophischer oder literaturwissenschaftlicher Neugier oder Spaß am Gedankenspiel. Man sollte nur die alte Weisheit befolgen: Never judge a book by its cover!
    Jack London: "Mord auf Bestellung"
    Manesse Verlag, München 2016. 272 Seiten, 24,95 Euro