Sonntag, 19. Mai 2024

Gewalt gegen Politiker
Die Folgen radikaler Feindbilder

Politiker sind vielen Formen von Gewalt ausgesetzt. Im Mai 2024 wurde der Dresdner SPD-Politiker Ecke zusammengeschlagen. Auch Berlins Wirtschaftssenatorin Giffey (SPD) wurde attackiert. Statistiken zeigen: Politisch motivierte Kriminalität nimmt zu.

10.05.2024
    Silhouette des SPD-Politikers Matthias Ecke beim Verlassen einer Bühne
    Angegriffen: Matthias Ecke (SPD) wurde von mutmaßlich vier Tätern in Dresden zusammengeschlagen, als er Wahlplakate für die Europawahl aufhängen wollte. (imago / dts Nachrichtenagentur )
    Der Angriff auf den Dresdner SPD-Politiker Matthias Ecke beim Aufhängen von Wahlplakaten hat bundesweit für Entsetzen gesorgt. Es war ein besonders brutaler Überfall, aber nicht der einzige. Wenige Tage später wurde Berlins Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (ebenfalls SPD) leicht verletzt: Ein Mann attackierte sie in einer Bibliothek. Weitere Attacken gab es auf eine Grünen-Politikerin in Dresden und zwei AfD-Landtagsabgeordnete in Stuttgart.
    Vor allem Kommunalpolitiker sind seit Jahren Anfeindungen ausgesetzt. Experten wie die Soziologen Wilhelm Heitmeyer und Harald Welzer finden den Fall Ecke deshalb wenig überraschend. Ein aufgeheizter, nach rechts verschobener Diskurs sei eine Ursache für zunehmende Gewalt gegen Politiker. Allerdings würden starke Feindbilder auch von links gepflegt. Gegen die Verrohung der Gesellschaft und Demokratiegefährdung hätten politische Akteure längst einiges tun können, sagt Bildungsforscherin Nina Kolleck.

    Übersicht

    Welche Angriffe gegen Politiker und Wahlhelfer gab es in jüngster Zeit?

    Am 3. Mai 2024 wurde der Dresdner SPD-Europapolitiker Matthias Ecke beim Plakate-Aufhängen so brutal zusammengeschlagen, dass er Brüche am Jochbein und einer Augenhöhle davontrug und operiert werden musste. Vier Männer im Alter von 17 und 18 Jahren gelten als tatverdächtig, zumindest einer wird dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet. Kurz zuvor war ebenfalls in Dresden ein Mann angegriffen und verletzt worden, der für die Grünen Wahlplakate anbrachte.
    In ähnlicher Situation wurden in Chemnitz und Zwickau Grünen-Mitglieder angegangen. In Freiberg und Penig traf es Grünen-Wahlhelfer. Nach einer Parteiveranstaltung in Essen wurden der Kommunalpolitiker Rolf Fliß und der Bundestagsabgeordnete Kai Gehring (beide Grüne) nach einer Parteiveranstaltung angegriffen. Im niedersächsischen Nordhorn wurde der AfD-Landtagsabgeordnete Holger Kühnlenz an einem Infostand attackiert.
    Bundestags-Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) konnte eine Parteiveranstaltung in Brandenburg 45 Minuten lang nicht verlassen, weil Demonstranten in „aggressiver Stimmung“ ihre Abreise blockiert hatten. Ähnliche Erfahrungen machte der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck Anfang Januar 2024 in Nordfriesland beim Versuch, eine Fähre zu verlassen. Wegen massiver Proteste sagten die Grünen im baden-württembergischen Biberach im Februar den politischen Aschermittwoch ab.

    Wie neu sind die Anfeindungen gegen Politiker?

    Politikerinnen und Politiker erfahren seit Jahren Hass, Anfeindungen und Gewalt – bis hin zum Mord: Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke wurde 2019 von einem Rechtsextremisten auf der Terrasse seines Hauses erschossen. Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker wurde 2015 ebenfalls von einem rechtsextremen Täter mit einem Messer lebensgefährlich verletzt.
    Der Bürgermeister der sächsischen Gemeinde Tröglitz, Markus Nierth, trat 2015 zurück, nachdem er und seine Familie massiv bedroht worden waren. 2017 wurde Altenas Bürgermeister Andreas Hollstein mit einem Messer attackiert. Eine Gemeinsamkeit unter den Opfern: eine liberale Haltung in der Flüchtlingspolitik.
    Die Bürgerinitiative „Pulse of Europe“ beobachtet schon seit geraumer Zeit Angriffe auf die Demokratie und deren Vertreter. Der Vorsitzende Daniel Röder verweist auf den AfD-Politiker Alexander Gauland, der 2017 zur Jagd auf die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel aufgerufen habe. Nun seien den Worten Taten gefolgt. Mitglieder von „Pulse of Europe“ seien als „europäische Idioten“ beschimpft worden, die man an Laternenpfählen aufhängen solle, so Röder.

    Wie hat politisch motivierte Kriminalität zugenommen?

    Mehr als 10.500 Straftaten gegen Parteienvertreter wurden zwischen 2019 und 2023 verzeichnet, mit steigender Tendenz. Das geht aus Zahlen des Bundeskriminalamts hervor. Die Bundesregierung veröffentlichte die Statistiken auf eine Kleine Anfrage der AfD hin. Die Übergriffe betreffen alle Parteien, zuletzt allerdings besonders häufig die Grünen. Dabei geht es um Straftaten insgesamt, also auch Sachbeschädigungen und Beleidigungen.

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    So wurden laut vorläufigen BKA-Zahlen im Jahr 2023 insgesamt 2.790 Angriffe auf Politiker der im Bundestag vertretenen Parteien registriert. Das sind fast doppelt so viele wie 2019 (1.420 Fälle).

    AfD am zweithäufigsten nach Grünen von Straftaten betroffen

    Gegen Repräsentanten der Grünen gab es 1.219 politisch motivierte Angriffe im Jahr 2023 – mehr als eine Verdoppelung gegenüber 2022: Da waren es 575. Die AfD war am zweithäufigsten betroffen - mit großem Abstand: 478 Delikte gegen deren Vertreter zählt die vorläufige Statistik für 2023. An dritter Stelle folgte die SPD mit 420 Delikten. Opfer von körperlichen Gewalttaten wurden 2023 jedoch am häufigsten AfD-Politiker (86), gefolgt von Vertretern der Grünen (62) und der SPD (35).
    Über die Bedrohungslage in den Kommunen führte die Heinrich-Böll-Stiftung 2022 eine Großstadtbefragung durch. Demnach erlebten rund 60 Prozent der befragten Bürgermeister, Ratsmitglieder und politischen Wahlbeamten Anfeindungen und Aggressionen. Das Fazit der Studie: „Es handelt sich also bei diesen Erfahrungen um keine Einzelfälle, sondern um ein breites Phänomen.“

    Wie werden die Gewaltvorfälle eingeordnet?

    Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer sieht eine „Durchrohung der Gesellschaft“ als Hauptgrund für die Entwicklung. Vor allem mit dem Aufschwung der AfD gebe es eine neue Situation. Heitmeyer spricht von einem „autoritären Nationalradikalismus“ der AfD, wodurch der Diskurs öffentlich nach rechts verschoben und aufgeheizt worden sei. „Das hat natürlich Folgen“, so der Soziologe.
    Allerdings werde inzwischen „an allen Orten“ mit „radikalen Feindbildern“ gearbeitet: Mit der Untergangsrhetorik der AfD legitimierten gewaltbereite Rechtsextremisten ein „Notwehrrecht“. Linksextremisten trügen wiederum, angetrieben von einer „eigenen Überlegenheitsattitüde“, zu einem „Klima der Angst“ bei.

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    Darüber hinaus hat sich nach Überzeugung Heitmeyers die „Eskalationslogik von Konflikten in dieser Gesellschaft“ verschoben: Statt einer verständigungsorientierten Politik gebe es nunmehr eine „Entweder-oder-Logik“. Diese sei gewaltanfällig.
    Die Erosion von Normen lässt sich laut Heitmeyer nicht durch Polizeischutz für wenige prominente Politiker wiederherstellen. Er sieht eine besonders gefährliche Situation darin, dass sich bedrohte Kommunalpolitiker, für die es wenig Schutz gibt, aus den demokratischen Ämtern zurückziehen. Laut einer Studie der Körber-Stiftung erwägt das mehr als jeder vierte Bürgermeister, der schon einmal bedroht wurde.

    Harald Welzer: Bei der NSDAP war es nicht anders

    Nach dem Angriff auf Matthias Ecke werden Begriffe wie „Erschrecken, Entsetzen, Fassungslosigkeit“ nach Meinung des Soziologen Harald Welzer „inflationär“ verwendet. „Vielleicht täte man besser daran zu verstehen, dass Nazis und Faschisten und Rechtsextreme Gewalt als Mittel der Politik betrachten und immer betrachtet haben.“
    Rufe nach mehr Polizei gehen nach Auffassung Welzers an der Sache vorbei – „und zwar deswegen, weil man über viele, viele Jahre die Eskalation der Existenz eines manifesten Rechtsextremismus“ ignoriert, verharmlost und nicht ernst genommen habe.
    Bei der AfD erkennt Welzer eine typische Arbeitsteilung mit langer Tradition: Es gebe jene, die bei „Caren Miosga“ säßen, außerdem jene, die im Hintergrund für Theorie sorgten und wiederum andere, die für Bündnisse zuständig seien, „auch mit finanzkräftigen Leuten“.
    „Und wir haben die Schläger“, betont Welzer. „Das ist aber bei der NSDAP auch nicht anders gewesen.“

    Welche Defizite gibt es bei der Demokratiebildung?

    Dass die mutmaßlichen Täter im Fall des SPD-Politikers Ecke so jung waren, will die Bildungsforscherin Nina Kolleck nicht pauschal einer allgemeinen Verrohung der Gesellschaft zuschreiben. Sie weist darauf hin, dass gerade unter jungen Menschen die Gewaltbereitschaft „drastisch“ gestiegen sei, vor allem an den sogenannten extremistischen Rändern. Allerdings sei der Extremismus vielfach bereits in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
    Der Politik wirft Kolleck vor, gerade bei der Bekämpfung von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und von Jugendgewalt, bei Erziehungs- und Bildungsarbeit zu sparen. Wenn Demokratiebildung „so herunter gekürzt“ werde, gleichzeitig aber in den sozialen Medien rassistische, fremdenfeindliche und Gewalt verherrlichende Videos dominierten, „dann haben wir hier ein Problem“, so Kolleck.
    Derzeit liegt zum Beispiel das geplante Demokratiefördergesetz der Ampelregierung auf Eis. Kritik an Details kommt vor allem von der FDP. Ziel des Gesetzes ist, Vereine und Organisationen langfristig finanziell auszustatten, die sich für die Stärkung der Demokratie, gesellschaftliche Vielfalt und die Prävention von Extremismus einsetzen. Bisher müssen sie pro Projekt immer wieder neue Förderanträge stellen.
    bth

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