Heinlein: Und auf der zweiten Leitung begrüße ich Hubertus Heil, SPD-Abgeordneter aus Niedersachsen. Guten Morgen.
Heil: Guten Morgen.
Heinlein: Herr Röttgen, gestern das Eingeständnis von Roland Koch, er habe nicht immer die Wahrheit gesagt bei der Aufklärung des CDU-Finanzskandals – ist damit die Glaubwürdigkeit Ihrer Partei weiter gesunken?
Röttgen: Ja, das ist zu bejahen, denn wir dürfen als CDU nicht ignorieren. Roland Koch hat gestern eingeräumt, dass er die Unwahrheit gesagt hat. Und das ist der Kern dessen, was die Glaubwürdigkeitskrise von uns als CDU ausmacht. Dass andere – die SPD – auch ihre Krisen haben, leitet nur zu der Frage über: Was muss sich im politischen System insgesamt ändern? Aber gestern hat es eine neue Enttäuschung gegeben, die erneut zu Überlegungen Anlass gibt: Was ist überhaupt die Perspektive und die Chancen, die wir aus dieser großen Krise ziehen?
Heinlein: Herr Heil, welche Schlussfolgerungen ziehen Sie?
Heil: Also, ganz am Anfang ist es mir wichtig, festzustellen, dass man genau anschauen muss – auch die Qualität, was da abläuft. Es wird gesagt, eine 'Dummheit' sei gestern geschehen, oder man habe die Unwahrheit gesagt. Man könnte auch sagen: Es ist gelogen worden. Ich finde, eine der ersten Konsequenzen wäre für Herrn Koch, tatsächlich zurückzutreten – nach dem, was geschehen ist und nach den Maßstäben, die er selbst angelegt hat. Am 10. Januar noch zu lügen, das wäre ein Grund für einen Rücktritt. Das wäre ein erster wichtiger Schritt, um uns als Demokratie insgesamt einen Gefallen zu tun.
Röttgen: Ich glaube, dass die hessische CDU erst einmal darüber reden wird und dass auch die Frage der Verantwortung eine Rolle spielen muss. Aber die Frage ist ja eigentlich, was für Schlüsse ziehen wir für unser politisches System und für unser politisches Handeln daraus. Ich glaube, das ist doch die interessante Frage. Dass wir hier immer nur bei der Krise bleiben und schauen, was neu entdeckt wird, ob es nun Glogowski oder die hessische Affäre gestern ist – das ist eine Sache . . .
Heil: . . . doch da muss man deutlich sagen: Glogowski ist zurückgetreten, Schleußer ist zurückgetreten. Auch die Qualität der Verfehlungen unterscheidet sich, ob es individuelle Verfehlungen sind oder Fehler am System. Aber ich bin gern bereit, durchaus über strukturelle Veränderungen zu sprechen . . .
Röttgen: . . . das ist der Punkt. Ich will das ja auch gar nicht wegwischen, das Thema der persönlichen Verantwortung. Aber was ist Konsequenz? Ich glaube ja auch, dass es etwas aussagt über unser politisches System. Auch nach 50 Jahren Bundesrepublik – glaube ich – müssen wir feststellen, haben wir nicht mehr die richtige Gewichtung zwischen Parteiinteresse, Staatsinteresse, Parteitaktik und Allgemeinwohl-Verpflichtung der Politik und Sachlichkeitsverpflichtung der Politik. Und das sehen wir auch nach 98. Da kann auch ein Regierungswechsel eintreten. Ich glaube, dass der Stil dieser Politik - die zwar die Probleme kennt, aber sie nicht wirklich entscheidend löst - sich überhaupt nicht entscheidend verändert hat. Das ist die Fortsetzung von Helmut Kohl in vieler Hinsicht . . .
Heil: . . . da bin ich durchaus anderer Meinung. Ich denke schon, dass viel in Bewegung geraten ist, auch nach der Wahl, dass wir tatsächlich Reformen jetzt entschlossen anpacken. Ich glaube auch . . .
Röttgen: . . . das müssen wir mal überdenken, ob die uns weiterhelfen . . .
Heil: . . . ja, darüber können wir mal diskutieren. Wir wollen aber über strukturelle Probleme reden, die offensichtlich aufgetreten sind. Ich bin tatsächlich der Meinung, dass wir Bilanz ziehen müssen nach 50 Jahren und auf den Prüfstand stellen müssen, was im System einfach an Fehlern entstehen konnte, dass ein System unter Kohl entstehen konnte, wo sich offensichtlich seit Jahren niemand mehr getraut hat, in Vorständen zu widersprechen und so ein Machtgeflecht von Abhängigkeiten geschaffen wurde. Wir müssen darüber diskutieren, was wir tun können, dass so etwas nicht mehr passiert. Beispielsweise müssen wir darüber nachdenken, ob man tatsächlich Amtszeitbegrenzungen einführt für Regierungschefs von 10 bis 12 Jahren. Darüber müssen wir diskutieren, und wir müssen in jedem Fall als erste Konsequenz aus der Affäre dafür sorgen, dass es auch eine individuelle Haftung bei Verstößen gegen das Parteienrecht gibt, und nicht nur eine Haftung der Partei . . .
Heinlein: . . . darf ich mich einen Moment einschalten, meine Herren. Herr Röttgen, an Sie die Frage: Wie groß ist denn die Betroffenheit in Ihrer Partei - speziell in Ihrer Generation der Mitte 30jährigen - über den Spendenskandal Ihrer Partei und das Agieren von Kohl, Kanter und Koch? Sind Politiker dieser Couleur für Sie noch politisch tragbar, sind das noch Vorbilder für Sie?
Röttgen: Nein, das ist – glaube ich – ein wichtiger Punkt, aber das gilt Generationen übergreifend, dass das Repräsentanten waren, auch für viele – nicht für alle, aber für viele – Vorbilder waren, für die man sich eingesetzt hat, manche würden auch formulieren "an die ich geglaubt habe'. Und die haben nun in der Breite die Menschen und die Mitglieder enttäuscht durch vorsätzliches systematisches Fehlverhalten über einen langen Zeitraum, durch Gesetzesverstöße und die fehlende Bereitschaft, dann auch im Nachhinein wirklich dazu zu stehen. Das ist eine wirklich große Enttäuschung, ein großes Fehlverhalten, das auch an die Wurzel geht, weil eben persönliche Glaubwürdigkeit und Gesetzestreue verletzt und mit den Füßen getreten sind.
Heinlein: Herr Heil, sind denn Politiker wie Heinz Schleußer oder Gerhard Glogowski für Sie als junger SPD-Abgeordneter politische Vorbilder?
Heil: Mit Sicherheit nicht. Das war auch enttäuschend, was da passiert ist. Sie waren auch vorher keine Vorbilder für uns. Es ist aber tatsächlich so, dass natürlich auch solches Verhalten dem Ansehen von Politik geschadet hat, das ist gar keine Frage. Die Frage der Konsequenzen gilt es für uns zu diskutieren. Ich merke es natürlich, wenn man mit Menschen redet - in meinem Wahlkreis beispielsweise – dass das Misstrauen insgesamt in Politik gewachsen ist, weil natürlich auch alles in einen Topf gerührt wird. Da gibt es natürlich ein Interesse daran, dass nach dem Motto 'Wir haben ein Problem – Ihr habt da auch ein Problem –, und da wird dann nicht mehr auf Unterschiede in der Qualität der Probleme geachtet. Aber das beiseite gelassen, ist mein Appell ganz einfach, jetzt deutlich zu sagen – auch jüngeren Menschen, wenn ich in Schulen auftrete beispielsweise – zu sagen: 'Es ist gerade ein Grund, sich einzumischen' - so paradox das klingt. Demokratie braucht mehr kritische jüngere Leute, damit solche Entwicklungen aufgehalten werden.
Röttgen: Ich will darauf jetzt nicht viel sagen, also, Sie sagten eben: 'Wie ist das bei der CDU, wie ist das entwickelt'. Wenn man nach gut einem Jahr die SPD als Partei und auch als Fraktion im Grunde 'enthauptet' worden ist und auch einen Prozess der inneren Bedeutungslosigkeit und der inneren Verkümmerung mit macht – der auch bei der CDU eingetreten ist in der Regierungszeit, nur im Zeitraffer nach meiner Beobachtung – wirft die Frage auf: Müssen wir nicht einen grundlegenden Stilwandel der Politik herbeiführen . . .
Heinlein: Das ist die Frage an Sie, Herr Heil. Wie stark haben denn die laufenden Affären Ihr persönliches Verhältnis zur Politik und zu Ihrer Partei verändert?
Heil: Ja, zu meiner Partei hat sich das Verhältnis nicht verändert. Ich bin aber durchaus der Meinung, aus allen Affären zu lernen. Ich meine, man bleibt aufgerufen - wenn man im Vorstand beispielsweise sitzt -, kritischer nachzufragen. Man muss für sich persönlich auch einen Kodex entwerfen als Verhaltensmaßregeln, um eben den Gefahren, die in diesem Job auch lauern, nicht zu erliegen. Es ist wichtig, dass man in einer Partei kritisch und wachsam bleibt und eben nicht zu faul – ich sage es mal deutlich – oder zu feige ist, um nachzufragen, wenn in einem System Entwicklungen auftreten, die nach Verschleiß und Filz riechen. Ich kann das nicht teilen, was Sie gesagt haben, Herr Kollege Röttgen. Worüber wir uns als Jüngere gemeinsam unterhalten . . .
Röttgen: . . . Ihren guten Willen, und man muss wachsam sein, das sagen ja alle, dass . . .
Heil: Ja, Sie sagen irgendwas . . .
Heinlein: . . . jetzt geht es ein bisschen durcheinander, Herr Röttgen hat das Wort . .
Röttgen: Ich glaube nicht, dass das ausreicht, dass man sagt: 'Aha, jetzt muss man sich besonders engagieren und man muss auch wachsam sein'. Das sind sozusagen Willensbekundungen des guten Willens, die ich nicht für ausreichend halte. Wir müssen uns wirklich fragen: Wie wollen wir einen Neuanfang wirklich konzipieren? Welche Elemente braucht er? Er braucht das Element der Belebung innerparteilicher Diskussion in den Parteien. Da muss wieder gerungen werden und die Diskussion als ein geistiges Wettbewerbsinstrument erkannt werden. Das halte ich übrigens auch für eine Strategie, Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, indem offen diskutiert wird über das, was die Leute beschäftigt.
Heinlein: Abschließend die Frage an Sie beiden, Herr Röttgen, Herr Heil: Wie groß ist denn Ihre Hoffnung, dass es einen parteiübergreifendes Konsens geben wird, was die Lehren aus den Affären anbelangt? Vielleicht zuerst Herr Röttgen.
Röttgen: Ich sehe das noch nicht, ich sage das ganz offen. In beiden Parteien sind diejenigen, die sagen 'nun lasst uns mal die gemeinsamen Krisensymptome der Parteiendemokratie überhaupt offen benennen und dann angehen' in der Minderheit. Aber ich hoffe, dass beide Minderheiten aktiv sind, denn es ist nach meiner Einschätzung eine dringende Erwartung des großen Teils der Bevölkerung, dass die Parteiendemokratie auf den Prüfstand kommt und das System permanent erneuert und verbessert wird.
Heinlein: Ihre Prognose, Herr Heil?
Heil: Ich denke schon, dass die Möglichkeit besteht. Ich biete den Kolleginnen und Kollegen von der CDU – den jüngeren – das durchaus auch an, dass wir gemeinsam darüber sprechen, wenn alles auf dem Tisch liegt. Ich setze im übrigen auch auf die jüngere Generation in dieser Partei, denn nur sie kann den entscheidenden Beitrag leisten in der CDU, weil alle anderen, die dazwischen sind, Teil eines Systems waren. Das muss man auch deutlich sagen. Und wir sind durchaus dazu bereit. Es geht aber darum, dann eben mehr zu beschwören, als einfach nur Stilfragen, sondern konkrete Vorschläge zu machen, wie man das beleben kann . . .
Röttgen: . . . es geht um konkrete Antworten, das ist klar . . .
Heinlein: Ein Streitgespräch heute Morgen im Deutschlandfunk, die Bundestagsabgeordneten Norbert Röttgen von der CDU und Hubertus Heil von der SPD. Meine Herren, ich danke Ihnen für das Gespräch und auf Wiederhören.
Link: DeutschlandRadio Magazin