Dienstag, 14. Mai 2024

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Kritik an Einigung bei EU-Gipfel
Keller (Grüne): "Es geht nur noch um Abschottung"

Die Grünen-Politikerin Ska Keller hat die Einrichtung von Transitzentren für Flüchtlinge, die auf dem EU-Gipfel beschlossen wurde, scharf kritisiert. Diese Lager wären keine Tür nach Europa, sondern eine Endstation, sagte sie im Dlf. Denn es werde sich kein Land finden, das diese Menschen aufnehme.

Ska Keller im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 29.06.2018
    Die Grünen-Politikerin Ska Keller im Europäischen Parlament.
    Die Grünen-Politikerin Ska Keller kritisierte die Einigung auf dem EU-Gipfel zur Migrationspolitik (AFP / Frederick Florin)
    Tobias Armbrüster: Am Telefon ist nun die grüne Europapolitikerin Ska Keller. Sie ist Vorsitzende ihrer Fraktion im Europäischen Parlament und migrationspolitische Sprecherin. Schönen guten Morgen!
    Ska Keller: Guten Morgen!
    Armbrüster: Frau Keller, wir haben es gehört: Sammelstellen, Transitzentren für Flüchtlinge in Europa und auch in Nordafrika. Werden die Grünen das unterstützen?
    Keller: Auf gar keinen Fall. Denn was wir mit den Schlussfolgerungen sehen, ist eine massive Verschärfung des Asylrechts, so verschärft, bis da letztendlich kaum noch was übrig ist. Denn wenn diese Lager in Drittstaaten, also irgendwo sonst in der Welt kommen, wo dann alle Menschen hingeschickt werden, die irgendwie im Mittelmeer aufgegriffen oder gerettet werden, dann ist das wirklich das Ende des Rechts auf Asyl hier in der Europäischen Union, und das wäre sehr schade.
    Das wäre eine echte Katastrophe. Wir sollten nicht vergessen, dass das Recht, Asyl zu beantragen, eine europäische Erfindung ist, denn die Genfer Flüchtlingskonvention wurde in Europa 1951 beschlossen, auf Grundlage dessen, dass es nie wieder dazu kommen sollte, dass so viele Menschen wie im Zweiten Weltkrieg ohne Schutz vor Verfolgung waren.
    "Was Sinn machen würde, sind legale und sichere Fluchtwege"
    Armbrüster: Ja, Frau Keller. Aber wenn wir uns die Praxis ansehen, dann haben wir in den vergangenen Jahren gesehen, dass tatsächlich Tausende von Menschen jedes Jahr im Mittelmeer umkommen auf diesem sehr gefährlichen Weg nach Europa. Macht es da nicht Sinn, denen zu sagen, ihr müsst diesen Weg gar nicht antreten, wir überprüfen euren Asylantrag schon im Norden Afrikas?
    Keller: Was Sinn machen würde sind legale und sichere Fluchtwege, zum Beispiel über das Resettlement mit den Vereinten Nationen. Da werden Flüchtlinge direkt ausgeflogen, zum Beispiel aus dem Libanon oder Jordanien in die Europäische Union, und auch humanitäre Visa können eine Möglichkeit sein. Aber was diese Lager in Drittstaaten machen sollen, ist ja genau nicht eine Tür sein nach Europa, sondern eine Endstation, damit niemand mehr ankommt. Selbst wenn – und das ist völlig unpraktikabel und völlig unrealistisch, dass das passieren sollte -, selbst wenn man dann dort Asyl beantragen könnte und das dann auch bekommt, denn es gibt ja sehr viele Fluchtgründe, selbst dann würde sich ja kein Mitgliedsstaat finden, der diese Menschen aufnimmt. Denn was die Schlussfolgerungen auch sagen, ist ganz klar: Alles was Aufnahme angeht, das ist völlig freiwillig. Deswegen sehe ich das nicht als praktikablen Weg, diese Lager.
    "Erst mal gilt, aus den Augen, aus dem Sinn"
    Armbrüster: Na ja. Aber es gab ja heute in Brüssel durchaus schon einige Zugeständnisse von Staaten, die gesagt haben, wir könnten dabei sein bei der Verteilung von Flüchtlingen. Könnte nicht zumindest dieser Teil dieses Kompromisses Ihre Zuversicht wecken?
    Keller: Es gibt zwei verschiedene Sorten von Verteilung. Das eine ist die Verteilung innerhalb der Europäischen Union. Da haben ein paar Staaten schon länger gesagt, dass sie da offen sind für eine solidarische und natürlich eine fairere Lösung. Da steht ja auch das Europäische Parlament dahinter. Wir haben es ja geschafft, eine breite Mehrheit für eine solidarische Verteilung zu organisieren. Aber auch das ist komplett auf freiwilliger Basis. Das ist wunderbar, wenn da einige Staaten vorangehen, aber es ist komplett freiwillig. Darauf kann man sich nicht verlassen, dass es nicht langfristig ist.
    Bei der Frage der Aufnahme aus Drittstaaten, da habe ich noch keine festen Zusagen gehört. Denn erst mal gilt, aus den Augen, aus dem Sinn, und wenn die Menschen irgendwo anders abgeschottet, eingesperrt werden, dann wird es keinen Mitgliedsstaat geben, ist meine Prophezeiung, der dann irgendwie bereit wäre, die aufzunehmen.
    Armbrüster: Aber mit solchen Sammellagern in beispielsweise Griechenland und Italien – das sind die Standorte, die immer wieder genannt werden -, in solchen Sammellagern könnte man Flüchtlinge unterbringen und so auch sicherstellen, dass sie auch nicht diesen langen Weg durch die Europäische Union antreten und von Staat zu Staat weiterreisen und auch dadurch für Chaos und Unordnung sorgen.
    Keller: Aber das gibt es ja bereits. Es gibt viele Flüchtlingslager in Griechenland zum Beispiel. Es gibt viele Flüchtlingslager in Italien. Und obwohl es das schon lange gibt, gibt es da keine Bereitschaft der anderen Mitgliedsstaaten, da substanzielle Zahlen aufzunehmen. Was jetzt neu dazukommen soll ist, dass es neue Zentren geben soll. Die sollen auch geschlossen sein, also echt wie Gefängnisse. Und auch die sollen natürlich auf freiwilliger Basis errichtet werden. Wie gesagt, das gibt es schon und da gibt es keine Aufnahmebereitschaft der anderen Staaten. Ich wüsste nicht, warum sich das jetzt ändern sollte. – Leider!
    "Es geht nur noch um Abschottung"
    Armbrüster: Ich höre aus Ihren Worten deutliche Ablehnung. Bekommen Sie das nicht mit, dass diese Asylpolitik, dass diese Entwicklung der vergangenen Jahre extrem umstritten ist in der Bevölkerung in Europa?
    Keller: Wir haben eine ganz, ganz große Herausforderung mit Menschen, die zu uns kommen und Schutz suchen. Und es ist keine einfache Aufgabe, die zum Beispiel unterzubringen, und Integration ist eine krasse Herausforderung, eine echte Kraftanstrengung. Auf jeden Fall ist das nicht einfach. Wir haben aber jetzt gerade auch so gut wie keine Ankünfte mehr in der Europäischen Union, dieses Jahr bis jetzt vielleicht ungefähr 50.000, und zuletzt 2015, als es eine Million, anderthalb Millionen waren. Wenn diese Menschen in die Europäische Union kommen – wir sind mit der reichste Kontinent. Wir haben 500 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Jetzt sagen aber unsere Staats- und Regierungschefs: Sorry, wir können leider nichts tun.
    Stattdessen muss der Libanon unsere Probleme lösen, muss Libyen unsere Probleme lösen, müssen alle anderen Staaten der Welt sich kümmern, nur wir können es leider nicht. Mir fehlt die ganze Dimension der Solidarität, der Schutzverantwortung auch für Menschen, die fliehen müssen, zum Teil ja auch, weil unsere Mitgliedsstaaten Waffen in die Welt liefern, weil wir Handelsabkommen machen, die zu Armut führen anderswo in der Welt, weil wir Fischereiabkommen abschließen, die anderswo die Menschen arm machen. Da ist überhaupt nichts davon übrig. Es geht nur noch um Abschottung. Das ist es, was ich beklage.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.