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Kritik an Medikament in der Geburtshilfe
Cytotec ist "wirksam im Sinn der intendierten Reaktion"

Durch den umstrittenen Einsatz des Medikamentes Cytotec bei Geburten käme es zu einer Verringerung der Geburtsdauer und auch zu einer Verringerung der Kaiserschnittsrate, sagte der Mediziner Jörg Meerpohl im Dlf. Schwere Nebenwirkungen seien, "wenn überhaupt, nur zu einem sehr geringen Anteil beobachtet" worden.

Jörg Meerpohl im Gespräch mit Christiane Knoll |
Die Hand einer schwangeren Frau auf ihrem nacktem Bauch.
Cytotec kann Wehen fördern und wird daher in der Geburtshilfe genutzt - obwohl es in Deutschland nur als Magenmedikament zugelassen ist (imago / Frédéric Cirou)
Christiane Knoll: Wenn bei einer Geburt die Wehen nicht von alleine einsetzen, dann wird in jeder zweiten deutschen Klinik auch Cytotec eingesetzt. Obwohl es nur als Magenpräparat zugelassen sei und nicht als Wehenmittel, obwohl schwerste Nebenwirkungen für Mutter und Kind bekannt seien. Mit dieser Recherche gingen am Mittwoch der Bayerische Rundfunk und die "Süddeutsche Zeitung" an die Öffentlichkeit. Doch die Fachverbände wollen die Vorwürfe so nicht stehen lassen. Die Evidenz sei unstrittig und Studien gebe es auch, schreiben sie heute in einer gemeinsamen Stellungnahme. Zu Wort gemeldet hat sich auch Cochrane Deutschland. Dessen Direktor, Jörg Meerpohl, habe ich heute bei einer Tagung in Basel erreicht.
Jörg Meerpohl: Es geht mir gar nicht so sehr um die Recherche, sondern mehr um die Darstellung. Ich denke, da werden verschiedene Themen angesprochen, manche zu Recht, manche vielleicht nicht ganz zu Recht, und in der Summe herrscht auch eine Überzeichnung. Zum einen, ja, es werden Medikamente in der Behandlung eingesetzt, die nicht zugelassen sind. Das ist an sich aber nichts Ungewöhnliches. Im Bereich der Pädiatrie sind das, meiner Einschätzung nach, bis zu 80 Prozent, und ein Zulassungsprozess bedeutet ja nicht gleich, dass ein Nutzen nachgewiesen ist oder andersrum, dass etwas, was nicht zugelassen ist, nicht nützlich sein kann.
Der zweite Punkt, der angesprochen wird, ist, dass eine Aufklärung entscheidend wichtig ist. Hier mag es in Einzelfällen vorgelegen haben, dass nicht ausreichend informiert wurde und Aufklärung durchgeführt wurde. Das ist sicherlich verbesserungswürdig. Was unserer Einschätzung nach nicht richtig ist, ist, dass es zu diesem Medikament keinerlei oder sehr wenig Studieninformationen und Daten gibt. Hier gibt es durchaus einige randomisierte kontrollierte Studien, den Goldstandard der klinischen Forschung, und darauf haben wir auch in unserer Pressemitteilung hingewiesen.
Für ein Foto liegen viele Babys zusammen auf der Neugeborenenstation im Krankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara in Halle in ihren Bettchen, aufgenommen am 05.01.2011.
Geburtsmedizin braucht neue Antworten - Der verkehrte Weg ins Leben
Wehentropf, Rückenmarksnarkose, Kaiserschnitt – fast keine Geburt läuft heute mehr ohne Eingriffe ab. Diese Interventionskaskaden führen aber nicht zu gesünderen Kindern oder Müttern. Im Gegenteil.
Knoll: Wie viele Studien sind das?
Meerpohl: Der Stand der Recherche in dem Cochrane Review, auf das ich mich jetzt unmittelbar beziehen kann, war schon 2014, und zu diesem Zeitpunkt wurden 75 Studien, die die Wirkungen von Misoprostol untersucht haben, identifiziert und in einem Cochrane Review zusammengefasst. Das heißt, es kommt tatsächlich zu einer Verringerung der Geburtsdauer und auch zu einer Verringerung der Kaiserschnittsrate, und das sind ja die Gründe, warum dieses Medikament eingesetzt wird. Letztendlich geht es vor allem, meiner Einschätzung nach, darum, eine Abwägung zu treffen, der Vor- und Nachteile. Es geht nicht darum, dass wir hier nachweisen konnten, dass keinerlei Nebenwirkungen auftreten und das mit hoher Sicherheit bestätigt werden kann, sondern es ist eine Handlungssituation gegeben, in der Risiken abzuwägen sind, und die Abschätzung der Community ist offensichtlich – und auch das ist der Schluss in dem Cochrane Review, dass hier eine Wirksamkeit im Sinne der intendierten Reaktion zu erreichen ist.
Nebenwirkungen "nur zu einem sehr geringen Anteil"
Knoll: In den Medienberichten ist die Rede von schweren Nebenwirkungen, Gebärmutterrisse, Hirnschädigungen bei den Babys. Das sind ja doch gravierende Vorwürfe. Was sagen die Studien dazu?
Meerpohl: Das ist in Studien nicht immer so ganz trivial zu entdecken oder aufzuspüren bei insbesondere seltenen Nebenwirkungen. Soweit ich das im Moment überblicke, wurden diese Effekte, wenn überhaupt, nur zu einem sehr geringen Anteil beobachtet.
Knoll: Würden Sie sagen, dass die Studienlage ausreichend ist, um das Medikament weiter zu verabreichen, oder sehen Sie da doch auch das Ganze kritisch? Würden Sie sagen, da ist durchaus Handlungsbedarf, das Ganze auf solidere Füße zu stellen?
Über Einsatz des Präparates "nachdenken"
Meerpohl: Gut, das ist für mich jetzt sehr schwer einzuschätzen und möchte mich da auch, glaube ich, nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Ich denke, ja, natürlich muss man darüber nachdenken, wenn eine medizinische Intervention – in diesem Fall dieses Präparat – gewisse Risiken mit sich bringt – und davon ist ja auszugehen –, wo ist die Schwelle bei welchen schwangeren Frauen, das zum Einsatz kommt. Das heißt, das ist die Frage der Indikationsstellung, und dann müssen Leute mit mehr Sach- und Fachverstand entscheiden, wann sozusagen das Risiko-Nutzen-Verhältnis weiter überwiegend auf Seiten des Nutzens ist und deswegen eine Intervention gerechtfertigt ist oder, ob es Situationen gibt, in denen man eher zuwarten würde. Das ist aber eine fachliche Frage, die ich, glaube ich, in dieser Form nicht kompetent beantworten kann.
Knoll: Sagt Jörg Meerpohl, Direktor des Instituts für Evidenz in der Medizin der Universität Freiburg und Direktor von Cochrane Deutschland. Die Stiftung hat die vorhandenen Studien zur wehenfödernden Wirkung von Misoprostol im Medikament Cytotec in einer umfassenden Analyse bewertet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Über Cytotec

In Deutschland nutzen Geburtsmediziner zur Einleitung der Wehen das Medikament Cytotec, das in der Geburtshilfe nicht zugelassen ist. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) bestätigte, dass Risiken bekannt seien, wenn das Medikament Cytotec außerhalb des durch die Arzneimittelbehörden zugelassenen Gebrauchs verordnet werde. Die Anwendung werde aber unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) weiter empfohlen.
Cytotec ist in Deutschland als Magenmedikament zugelassen. Im Rahmen ihrer Therapiefreiheit können Ärzte die Pille aber auch als Wehenauslöser einsetzen, wenn ihnen dies angemessen erscheint und eine Schwangere vorher zugestimmt hat. Medienberichten zufolge verwendet laut einer bisher unveröffentlichten Umfrage der Universität Lübeck rund die Hälfte der deutschen Kliniken Cytotec.
Neu sind die Zweifel an Cytotec nicht: Während eines Bewertungsverfahrens wurde mehrfach über einen Gebärmutterriss berichtet, der in allen Fällen bei Anwendungen außerhalb der Zulassung auftrat.

(Quelle: dpa)