Donnerstag, 28. März 2024

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Kritik an Schulschließungen wegen Corona
"Das Virus wird immer wieder nach Deutschland reinkommen"

Die Virologin Melanie Brinkmann warnt vor Aktionismus bei der Eindämmung des Coronavirus. Maßnahmen wie Schulschließungen sollten je nach Ausbreitung regional gezielt geschehen und nicht flächendeckend, sagte sie im Dlf. Deutschland könne sich auch nicht auf Dauer nach außen abschotten.

Melanie Brinkmann im Gespräch mit Jasper Barenberg | 13.03.2020
Auf einer Tafel steht geschrieben: Schule entfällt wegen Corona-Virus, Covid-19, SARS-CoV-2
"Wir können ja nicht jetzt auf ewig unsere Grenzen schließen, das ist unmöglich", sagte die Virologin Melanie Brinkmann im Dlf (picture alliance / Eibner-Pressefoto)
Jasper Barenberg: Um mal mit dem wohl heute wichtigsten Punkt anzufangen: Schulen und Kitas werden für einige Wochen geschlossen, in einigen Bundesländern ist das jetzt der logische und auch der notwendige nächste Schritt, um diese rasche Ausbreitung von Corona zumindest ein Stück zu verzögern.
Melanie Brinkmann: Es ist bestimmt sinnvoll, an Schulschließungen zu denken. Aber ich glaube, dass das jetzt wirklich gezielt gemacht werden muss und auch regional geschehen muss – und nicht flächendeckend. Da muss man einfach auch jetzt auf die Zahlen schauen, welche Bundesländer haben jetzt schon hohe Fallzahlen. Denn wenn man jetzt zu früh handelt, hat man auch nicht groß gewonnen. Ich empfinde das gerade so wie so mit einem Vorschlaghammer, diese Entscheidung, und sehe mich da selber auch vor einer schwierigen Situation rein persönlich. Ich hätte mir gewünscht, dass diese Maßnahmen wirklich etwas feinjustierter passieren, wirklich mit der Abwägung: Wo brauchen wir das jetzt gerade?
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"Einer fängt an und alle ziehen nach"
Barenberg: Und das sehen Sie nicht, sondern Sie sehen nur Bundesländer, die jetzt flächendeckend sagen, das war es, bis nach Ostern gibt es keinen Schulunterricht mehr. Wo genau sehen Sie da die Risiken bei dieser Vorgehensweise? Wir können ja damit rechnen, dass weitere Bundesländer jetzt auch folgen werden.
Brinkmann: Ja, ich glaube, das ist jetzt so ein Dominospiel, einer fängt an und die anderen ziehen alle nach. Ich hoffe, dass das wirklich mit Sinn und Verstand jetzt auch passieren wird und nicht durch diesen Aktionismus, wir müssen jetzt etwas tun und der Welt zeigen, wir handeln jetzt. Sondern dass man da wirklich besonnen gerade herangeht, das wäre mir ganz wichtig. Denn was wird jetzt passieren? Ich kann ja mal was aus meiner Perspektive erzählen. Ich lebe in Niedersachsen. In Niedersachsen sollen die Schulen jetzt ab Montag geschlossen werden. Nun arbeite ich an einem Forschungsinstitut, bin keine Ärztin und bin auch nicht in der Pflege tätig, aber ich bin in einem Forschungsinstitut. Und wir haben einen Auftrag. Wir müssen weitermachen, wir können nicht einfach aufhören. Viele Mitarbeiter, die hier wirklich gebraucht werden, haben kleine Kinder. Da frage ich mich, wie da wirklich gut differenziert werden kann. Natürlich brauchen Ärzte und Pflegepersonal ganz besonders Unterstützung, aber es gibt ja noch ganz andere Bevölkerungsgruppen, neben den Forschern noch ganz viele andere, die wir ja brauchen, um das System aufrechtzuerhalten.
Die Virologin Melanie Brinkmann
Die Virologin Melanie Brinkmann (picture alliance/ Fotostand/ Meyer )
"Das Virus ist ja nicht weg"
Barenberg: Nun scheint ja der Hintergrund zu sein, dass die Bundesregierung auf dem Standpunkt steht: Die nächsten vier bis fünf Wochen entscheiden darüber, wie heftig die Epidemie voranschreiten wird in Deutschland. Und diese vier bis fünf Wochen geben uns die Möglichkeit, die exponentielle Ausbreitung, die explosionsartige Ausbreitung zu unterbrechen. Warum kann aus Ihrer Sicht dieser Plan nicht aufgehen, sondern man muss regional, Schritt für Schritt und von Fall zu Fall vorgehen?
Brinkmann: Weil wir ja nicht auf einer Insel leben in Deutschland. Wir können uns hier nicht abschotten. Sprich, was passieren wird, ist theoretisch das, was in China jetzt passiert ist. Die haben alles dicht gemacht, das Leben sozusagen eingestellt, wirklich drastische Maßnahmen getroffen – und das hat ja auch tatsächlich Erfolg gezeigt. Das ist ja schon mal eine gute Nachricht. Aber wenn man jetzt die Maßnahmen dort wieder lockert, dann wird man beobachten, das würde ich jetzt mal spekulieren, dass auch da die Fallzahlen wieder hochgehen, denn das Virus ist ja nicht weg, das ist immer noch da. In Deutschland wird es immer wieder von draußen dann, selbst wenn wir es hier drinnen komplett unterbrechen können, es wird immer wieder reinkommen. Wir können ja nicht jetzt auf ewig unsere Grenzen schließen, das ist unmöglich.
Grafik zeigt: Bei unkontrollierter Ausbreitung des Coronavirus droht eine Überbelastung des Gesundheitssystems. Durch eindämmende Maßnahmen kann die Ausbreitung verzögert werden. 
Bei unkontrollierter Ausbreitung des Coronavirus droht eine Überbelastung des Gesundheitssystems. (Deutschlandradio )
Wir sprechen immer von dieser Kurve, die wir abflachen müssen, da bin ich auch ganz bei, aber man darf sie jetzt auch nicht ganz in den Keller bekommen, denn dann schießt sie später vielleicht umso höher. Das meine ich mit dieser Feinjustierung, dass es im Moment nichts bringt, das ganze Leben einzustellen, dass gewisse Maßnahmen jetzt natürlich wichtig sind wie Veranstaltungen absagen, die eine gewisse Größe haben. Wirklich das, was ja auch von Anfang an kommuniziert war, wir stellen ein, was uns Spaß macht und Vergnügen macht und auf was wir verzichten können. Aber jetzt wollen wir flächendeckend etwas einstellen, was ganz andere Probleme dann mit sich bringen wird, verheerende Probleme, denke ich.
"Wir müssen die Risikogruppen schützen"
Barenberg: Mit anderen Worten: Sie plädieren eher für einen individuellen Ansatz, dass jeder und jede für sich überlegt, welche sozialen Kontakte muss und will ich noch aufrechterhalten und auf welche kann und sollte ich verzichten. Viele machen sich ja auch im Moment Gedanken darüber, was ist mit Treffen mit den Großeltern, mit älteren Menschen. Wir haben gehört aus Bayern, dass da jetzt die Besuche stark eingeschränkt werden. Es bleibt ein Besucher am Tag, das reicht ja für eine Infektion auch aus.
Brinkmann: Das reicht auch aus. Das ist wirklich alles ein ganz großes Dilemma, und ich stecke selber mit drin mit meinen älteren Eltern, die auch wirklich zur Risikogruppe gehören. Da muss ich jetzt auch schwere Entscheidungen treffen. Das wird mir jetzt noch mehr erschwert dadurch, dass die Schulen geschlossen werden, denn wer betreut meine Kinder? Naheliegend wäre natürlich meine Eltern, zumindest ein paar Stunden am Tag. Das kann ich gerade eigentlich mit meinem Gewissen nicht verantworten, das geht nicht.
Barenberg: Auf Besuche würden Sie verzichten und Sie würden es auch jedem anderen raten?
Brinkmann: Das muss jeder für sich entscheiden. Aber ich glaube, dieser nächste Schritt, man spricht ja immer von diesen verschiedenen Strategien, einmal die Ausbreitung verlangsamen, das tun wir jetzt. Dann haben wir aber den nächsten Schritt, wo wir die Risikogruppen wirklich schützen müssen – und das gilt jetzt schon. Und ich würde auch jetzt der Kindergartengruppe, die manchmal im Seniorenheim zu Besuch ist, das darf jetzt nicht mehr stattfinden. Aber auch wirklich im Bereich der Familie müssen wir jetzt Maßnahmen ergreifen und das Risiko, dass die Älteren sich anstecken, minimieren.
"Geschäftszeiten breiter streuen"
Barenberg: Da muss jeder für sich möglicherweise auch schwierige Entscheidungen treffen. Sprechen wir noch kurz über den öffentlichen Nahverkehr, über die Bahn. Wie sollen wir uns da verhalten? Sollen wir weitermachen wie bisher? Ich habe gestern aus Hongkong gehört, dass da 80 bis 90 Prozent der Menschen mit Atemschutzmasken inzwischen in der Öffentlichkeit nur noch unterwegs sind. Was empfehlen Sie da?
Brinkmann: Das ist ein gutes Thema. Das kann man vielleicht versuchen zu lösen. Dann muss man sich auch fragen, ist das möglich, dass man die Zeiten etwas breiter streut, das Geschäft muss ja nicht um 8 Uhr aufmachen und die Hauptstoßzeit ist dann von 7:30 Uhr bis 8 Uhr, sondern dass man da Flexibilität ermöglicht. Dass es also eine Gleitzeitoption auch für Gewerbe gibt, für das das sonst nicht so üblich ist, um wirklich die Anzahl der Menschen, die sich zur gleichen Zeit in einem Bus oder einer Bahn befindet, zu reduzieren. Ich glaube, das wäre eine sinnvolle Maßnahme. Und natürlich: Jeder, der kann, sollte vielleicht aufs Rad umsteigen. Ich weiß, das kann nicht jeder, vor allem in Großstädten nicht, aber da ist jetzt die Atemmaske auch nicht wirklich eine Option.
Barenberg: Warum nicht?
Brinkmann: Da haben wir im Moment einen kleinen Lieferengpass, wie wir ja schon festgestellt haben. Also erstens habe ich die Option Maske erst mal gar nicht, außerdem wird sie mich nicht davor schützen, dass ich mich anstecke. Da gibt es einfach keine Hinweise für. Sie dienen dem Fremdschutz, dass wenn ich selber infiziert bin, niemanden anstecke. Aber wenn ich huste und krank bin, dann sollte ich nicht Bahn fahren. Das ist auch etwas, wo man jetzt an die Menschen appellieren kann, wenn sie krank sind, dass sie wirklich zu Hause bleiben und sich nicht unter Leute begeben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.