Freitag, 19. April 2024

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Kritikergespräch
Zwei Arten Wahnsinn

Die Steigerung von Normalität lautet: Die Welt, wie Leif Randt sie sieht, zum Beispiel in „Allegro Pastell“. Die Steigerung des Wahnsinns ist der Wille zum Totsein im Roman von Michael Kumpfmüller. Beide Extreme loten zwei neue Romane aus.

Katharina Teutsch und Tobias Lehmkuhl im Gespräch mit Hubert Winkels | 01.05.2020
Buchover links: Michael Kumpfmüller: „Ach Virginia“, Buchcover rechts: Leif Randt: „Allegro Pastell“
Zwei neue Romane: ganz im Jetzt - und ganz im Gestern (Buchcover: Verlag Kiepenheuer und Witsch, Hintergrund: imago stock&peopleJason WellsLOOP IMAGE)
Tanja und Jerome sind beide das, was man landläufig hip nennt, also modisch gekleidet, sportlich, aufgeklärt, sie gehen in Clubs, nehmen hin und wieder Drogen, führen eine Fernbeziehung. Am allerwichtigsten aber ist ihnen, dass sie den "Zustand dauerhaft-stabil lebensbejahender Euphorie" (Tanja) erreichen und halten. Leif Randts Roman gelingt es, vollständig in den engen Grenzen dieses weichgespülten glücklichen Alltags zu verharren. Er teilt das pastellene Wellnessgefühl seines Personals und kann damit faszinieren - alle Diskutierenden in diesem Fall.
Leif Randt: "Allegro Pastell"
Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln. 288 Seiten, 22 Euro.
Michael Kumpfmüllers neuer Roman "Ach, Virginia" erzählt die letzten Tage vor dem Selbstmord der legendären englischen Schriftstellerin Virginia Woolf. März 1941. Während die Deutschen Bomben über London abwerfen, wähnt sich Virginia Woolf am Ende eines ganz anderen Krieges. Sein Name lautet Erschöpfung, Depression, Wahnsinn. Kumpfmüller betreibt reinste Prominentenappropriation, so verinnerlicht, dass es nicht die Intimität veräusserlicht, aber eben deshalb auch keinen klärenden Abstand zum rätselhaften Geschehen gewinnt. Das fordert den Diskutierenden Respekt ab.
Michael Kumpfmüller: "Ach Virginia"
Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln. 240 Seiten, 22 Euro.