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Künstlerdorf in der texanischen Wüste
"Es wäre alles kleiner, hätte es nicht Donald Judd gegeben“

Worpswede, Ahrenshoop, Cadaqués - Künstlerdörfer sind Touristenmagnete, je nachdem, wie malerisch gelegen sie sind oder wer dort lebt und arbeitet. Der New Yorker Minimalist Donald Judd hatte einst einen Wüstenort in Texas als Rückzugsgebiet ausgesucht - das hat Marfa bis heute geprägt.

Von Michael Meyer |
    Das Wüsten-Dorf Marfa. Hier stehen Dutzende Baracken auf anderthalb Quadratkilometern Halbwüste.
    Der Minimalist Donald Judd aus New York machte das Wüsten-Dorf Marfa zu seinem Rückzugsort - in der Ödnis stehen Dutzende Baracken auf anderthalb Quadratkilometern Halbwüste. (deutschlandradio / Michael Meyer)
    Jede Stunde einmal durchfährt ein Güterzug den kleinen Ort Marfa, der nur knapp 100 Kilometer nördlich der mexikanischen Grenze liegt. Wie im Klischee rollen die endlos langen Züge durch Marfa, das früher von der Welt vergessen war, doch heute ein Sehnsuchtsort vieler Kunstinteressierter ist. Das 2.000-Seelen Städtchen kommt fast ganz in weiß daher: Es gibt nur wenige doppelstöckige Häuser, alles wirkt sauber, einfach, übersichtlich. Eine einzige Ampel hat Marfa: Hier kreuzen sich die Bundesstraßen 67 und 90.
    Eine einzige Ampel hat Marfa: Hier kreuzen sich die Bundesstraßen 67 und 90.
    Eine einzige Ampel hat Marfa: Hier kreuzen sich die Bundesstraßen 67 und 90. (deutschlandradio / Michael Meyer)
    Weiter draußen, rund 14 km vom Zentrum entfernt, treffen sich allabendlich Schaulustige, die die berühmten "Marfa-Lichter" sehen wollen: Ein grün-schimmerndes Naturschauspiel, dessen Geheimnis nicht gänzlich gelüftet ist. Eine Lichtbrechung mag es sein, die aber durchaus nicht jede Nacht auftritt, was so manchen Touristen enttäuscht. Einmal abgebogen in die Bundesstraße 67 liegt gleich an der Ecke in einer ehemaligen Tankstelle sogar eine Radiostation: "Marfa Public Radio" hat hier seine Redaktion.
    Revitalisierung in der Ödnis
    Die Landschaft rund um Marfa muss man sich vorstellen wie in einem Western: Wohin man schaut plattes Land, der Boden gelb-braun, nur wenig wächst in dem unwirtlichen Gelände, die Sommer sind heiß bis 35 Grad, und in den Winternächten herrscht hier sogar Frost. Und immer weht ein Wind, der vertrocknete Pflanzen, den sogenannten "Tumbleweed" über die Straßen bläst. Hier wurden Filme gedreht wie "No Country For Old Man" von den Coen-Brüdern, oder, viel früher in den Fünfzigerjahren, "Giganten" mit James Dean und Elizabeth Taylor: Das "Hotel Paisano", eines von dreien im Ort, ist drinnen zugepflastert mit schwarz-weiß Fotos der Dreharbeiten.
    Dass hier nicht alles so ist wie in einem x-beliebigen Wüstendorf, bemerkt man, wenn man einen Spaziergang über die kleine Hauptstraße des Ortes macht: Mode und Designläden, Schmuck- und Kunstgalerien liegen hier wie an einer Perlenkette aneinander. Alles weiß, hell, schick und teuer: Läden, die man eher in großen Städten vermuten würde, und in denen ein Tassen-Untersetzer schon mal 30 Dollar kostet. Viele Touristen sind derzeit nicht im Ort. Auf der Hauptstraße schlendern ein paar Frauen entlang, die überwiegend schwarz gekleidet und ganz offensichtlich Touristinnen sind. Sie sind aus Los Angeles. Was bringt sie her, in das weit entlegene Marfa?
    "Es ist sehr viel ruhiger, als wir es uns vorgestellt haben, es ist sehr schwer auszumachen, was hier im Ort Kunst ist, und was nicht, was für die Öffentlichkeit zugänglich ist, und was nicht, es ist sehr mysteriös hier. Ich denke, wenn man so lange hier rausfährt, sieht man ja auch viele desolate Städtchen, hier in West-Texas, aber hier ist das anders, man kann sehen, wie sie durch die Kunst eine Revitalisierung hinbekommen haben, in einer sehr speziellen Art und Weise, das ist schon cool. Ich denke, es ist auch eine Aussage, wie schwer es ist, für Künstler in Städten wie New York oder Los Angeles oder San Francisco zu leben. Als Künstler verdient man ja nicht viel Geld. Es ist sehr schwer, dort zu überleben, das war es vielleicht auch, was Donald Judd hierher getrieben hat. All diese Leute zu sehen, wie sie hierherkommen und ja auch Geld hier lassen, das ist irgendwie ironisch, nicht wahr?"
    Ein passendes Dorf für die Kunst
    Der Mann, dem Marfa den Kunst-Boom zu verdanken hat, heißt Donald Judd. Judd war Bildhauer, Maler, Architekt und starb 1994 unerwartet mit nur 65 Jahren. Er galt als einer der führenden Vertreter des "Minimalismus", eine Bezeichnung, die er selbst abgrundtief hasste. Judd war bereits in den Siebzigerjahren auf der Suche nach einem Ort für seine Kunst. Er stammte aus einer kleinen Stadt in Missouri, und entdeckte, als er einmal durch West-Texas fuhr, die karge Landschaft für sich. Was er suchte, war eine Art Symbiose zwischen dem Erschaffen von Kunst, einem Arbeits- und Lebensort als auch Ausstellungsräume, die dauerhaft seine Werke beherbergen sollten, erzählt die Tochter von Donald Judd, Rainer:
    "Er wollte immer in der Landschaft sein, er hat ja lange Jahre in New York verbracht als Künstler und Kritiker, das waren brotlose Jahre, er brauchte lange um herauszufinden, was für eine Art Kunst er machen wollte. Als er erste Erfolge hatte, in den sechziger Jahren, nahm seine Ruhelosigkeit zu und er wollte raus aus der Stadt. Er war nicht nur frustriert vom arroganten Kunstbetrieb, sondern auch von der New Yorker Stadtregierung, die historische Stadtviertel einfach abreißen ließ. Und so entstand sein Interesse für Landschaft. New York war damals ein Ort radikaler Ideen und Kunst, und er ließ seine radikalen Ideen nicht einfach zurück, sondern nahm sie mit hierher nach West-Texas."
    Donald Judd kam, sah und kaufte
    Anfang der Siebzigerjahre kaufte Judd ein altes Militärgelände vor den Toren Marfas, dort ist heute die "Chinati Foundation" untergebracht. Im Zweiten Weltkrieg waren hier zeitweise deutsche Kriegsgefangene interniert. Die Stiftung zeigt nicht nur Werke von Donald Judd, sondern vor allem Arbeiten anderer Künstler. Eine Reihe von Lichtinstallationen von Dan Flavin etwa, oder aber zwei überdimensionale Kupferzirkel der Künstlerin Roni Horn. Eines der beeindruckendsten Werke von Donald Judd ist ein Ensemble von fünfzehn überdimensionalen, rechteckigen Beton-Kuben, die in der Landschaft stehen. Die Besucher können sie anfassen, hineinlaufen, fotografieren. Das ist eine faszinierende Erfahrung - man ertappt sich dabei, wie man jede Kleinigkeit als Kunst interpretiert. Ist dieser Gullydeckel da am Weg schon Kunst oder doch nur ein Gully? Judd war fasziniert von rechteckigen Figuren, klaren Linien, Licht und Schatten, die seine Objekte im Sonnenlicht warfen.
    Judd investierte auch in neue Atelierräume mit einem großen Innenhof mitten in Marfa, genannt "The Block", wo er unter anderem eine umfangreiche Bibliothek aufbaute. Auch wenn Judd fasziniert war von der Landschaft, gibt es nicht es nicht allzu viele Objekte, die für draußen gedacht waren, erzählt die Tochter Rainer Judd:
    "Donald Judd hat so viele Arbeiten erschaffen, es ging ihm nicht nur um das Verhältnis von Kunst und Landschaft, ich würde sagen, er wurde inspiriert durch die Natur und hat sich auch sehr für die Erhaltung der Landschaft eingesetzt. Er hat ja auch viel Land gekauft, er liebte Vögel und hat auch Geologie studiert, das hat ihn geerdet, und das schlug sich dann in seiner Kunst nieder, wie er Licht, Farbe und Proportionen einsetzte. Aber all die Werke, die er schuf, muss man nicht unbedingt im Verhältnis zur Landschaft sehen, um sie würdigen zu können."
    Ein Tag Zeit und ein Auto
    Nix zu kaufen: Der Prada-Store in der Wüste gilt gleichsam als konsumkritisches Objekt, der die Absurdität der überspitzten Marken-Kultur aufgreift.
    Nix zu kaufen: Der Prada-Store in der Wüste gilt gleichsam als konsumkritisches Objekt, der die Absurdität der überspitzten Marken-Kultur aufgreift. (deutschlandradio / Michael Meyer)
    Um alle Kunstwerke in Marfa zu besichtigen brauchen Besucher mindestens einen Tag, besser zwei. Und sie brauchen ein Auto. Etwa, um das wohl meistfotografierte Objekt Marfas zu besuchen: Den Prada-Store, ein rechteckiger Kubus, der einen fiktiven Prada-Laden beherbergt, und der 50 Kilometer westlich von Marfa steht. Die Scheiben sind mittlerweile recht schmutzig vom Staub der Straße - und doch: Der Begeisterung der Besucher tut das keinen Abbruch:
    "Ich bin ziemlich fasziniert, wir stehen hier mitten im Nichts, und da liegen auf einmal 1.000 Dollar Schuhe und Handtaschen vor mir, ich bin etwas perplex ... Ich hatte keine Ahnung, mein Freund hat mich hierher gefahren, und plötzlich steht hier dieser Prada-Laden. Aber man kann ja nichts einkaufen."
    Der Prada-Store in der Wüste gilt gleichsam als konsumkritisches Objekt, der die Absurdität der überspitzten Marken-Kultur aufgreift. Ob und was der Betrachter daraus macht, bleibt jedem und jeder selbst überlassen.
    Einsichten unter Einheimischen
    In der zweistündigen Mittagspause zwischen den Touren treffen sich Kunstbegeisterte meist in einem der Restaurants der Innenstadt. Doch interessanter ist es, sich unter Einheimische zu mischen. Im "Mando’s", einem mexikanischen Restaurant zwei Kilometer außerhalb des Zentrums, geht es bodenständig zu.
    Hier ist die mondäne Kunstwelt meilenweit entfernt. Man hört viel Spanisch und die Kellnerinnen begrüßen die Gäste mit "Sweetie" oder "Sweetheart". Ein komplettes Mittagessen ist für unter zehn Dollar zu haben. Tina und Andrea sitzen an einem der Tische. Sie sind in Marfa geboren, Andrea lebt mittlerweile ein paar Ortschaften weiter. Was denken sie über den Boom an Touristen und Kunstinteressierten?
    "Meistens ist es ganz ok. Es bringt Leute hierher und wir sind sogar in den überregionalen Nachrichten. Ich habe kein Problem damit. Allerdings sind hier die Preise gestiegen, vor allem für Grundstücke. Als ich hier aufwuchs, in den siebziger und Achtzigerjahren gab es hier nichts zu tun und die jungen Leute sind hier weggezogen, sobald sie ihren Schulabschluss hatten. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass Leute hierherziehen oder sich ihr Sommerhaus kaufen. Es macht mich nostalgisch, ich denke an meine Kindheit und wenn man die Touristen hier sieht, die Fotos machen von alten Ziegelsteinhäusern, dann ist das schon merkwürdig."
    Für und Wider des Touristenbooms
    Der Touristenboom ist jedoch ein zweischneidiges Schwert, meint der junge Künstler Cody Barber, der wegen negativer Erfahrungen mit der Presse lieber nichts ins Mikrofon sagen will. Er müsse nun über 500 Dollar mehr Miete für sein Atelier zahlen, weil die Stadtverwaltung die Grundstückssteuern erhöht hat. Aber ansonsten profitiere er natürlich von den vielen Kunstinteressierten, erzählt Barber.
    Zwei Straßen weiter wohnt in einem winzigen Haus Kathleen Shafer, die 2017 ein Buch über Marfa geschrieben hat. Es heißt: "Marfa - The Transformation of a West-Texas Town". Shafer stammt ursprünglich aus Virginia und ist vor ein paar Jahren hierhergezogen. Früher habe es hier nur Rinderzucht gegeben, sagt sie. Diese Monokultur habe die Landschaft gestresst und eine Dürre in den Fünfzigerjahren habe ihr den Rest gegeben. Als eine Militärbasis vor den Toren der Stadt schloss, war das ein weiterer Schlag für die örtliche Wirtschaft.
    Bahngleis durch Marfa.
    Donald Judd war bereits in den Siebzigerjahren auf der Suche nach einem Ort für seine Kunst - und wurde in Marfa fündig. (deutschlandradio / Michael Meyer)
    Als Donald Judd sich dann entschloss, in den Siebzigerjahren hierher zu ziehen, kam die Kunstszene nicht wie eine Lawine über die Stadt, sondern sie entwickelte sich langsam, erzählt Kathleen Shafer:
    "Die Menschen in West-Texas leben sehr zurückgezogen. Jeder macht sein Ding hier, von daher war Judd weder willkommen, noch lehnten die Menschen ihn ab, es war eher so: Ok, dieser Typ macht schräge Sachen, verstehe ich zwar nicht, aber es stört mich auch nicht. Judd hat ja auch viele Leute beschäftigt und war dadurch Arbeitgeber. Er sagte sich: New York ist so weit weg, hier kann ich mein eigenes Ding machen."
    "Realität des Kleinstadtlebens"
    Shafer betont, dass die Häuser in Marfa früher überhaupt keine Zäune hatten, alles war frei zugänglich. Doch heute ziehen immer mehr Menschen hierher, die ihre Privatsphäre schützen möchten. Das hatte Donald Judd ebenso gehalten: Der Gebäudekomplex "The Block" beispielsweise, wo Donald Judd sein Atelier hatte, ist umgeben von einer hohen Ziegelsteinmauer.
    Shafer sieht aber durchaus die positiven Seiten des Touristenbooms. Da Marfa so weit entfernt ist von der nächsten Großstadt, werde der Ort aber wahrscheinlich nie signifikant wachsen, meint Kathleen Shafer:
    "Die Leute kommen hierher und sagen: Hey, das ist toll, ich will hier leben. Aber schnell setzt die Realität des Kleinstadtlebens ein, und dafür ist nicht jeder geeignet. Leute kommen, aber sie gehen auch wieder. Vor allem wenn Leute Kinder bekommen, dann wollen sie oft nicht ihre Kinder hier an eine der Schulen schicken, in dieser Gegend leben bis zu 70 Prozent Latinos. Also ich denke, hier herrscht ein Kommen und Gehen."
    Hype im Kunst-Ort
    Rückblickend, nach Jahrzehnten Marfa als Kunst-Ort, stellt sich die Frage, wie positiv die Veränderungen für die kleine Wüstenstadt waren. Ist der Hype vergleichbar mit der Gentrifizierung in großen Städten? Mit all seinen Begleiterscheinungen? Hat sich Pionier Donald Judd also um Marfa verdient gemacht? Kathleen Shafer überlegt lange und sagt dann:
    "Ich denke, unter dem Strich schon. Ich denke, viele Leute hätten hier gar nicht all die Möglichkeiten, gäbe es den Tourismus nicht. Ohne die Touristen wäre das hier ein Ort, in dem nur die Grenzpolizei herumfahren würde. Häuser und Grundstücke wären zwar sicher erschwinglicher, aber es gäbe nicht all die Geschäfte und Restaurants, es wäre mehr ein ruhiger, vergessener Wüstenort, … es wäre alles kleiner, hätte es nicht Donald Judd gegeben."