Kuhn: Also, ich will gleich mal vorneweg sagen: Die Einschätzung, dass die Grünen jetzt in schwerem Gewässer wären wegen Castor oder Irakdiskussion, die teile ich überhaupt nicht als Parteivorsitzender. Wir haben Diskussionen gehabt, das ist in einer demokratischen Partei üblich; wir sind nicht eine Einheitspartei, die immer eine Meinung hat - also, das wäre noch schöner. Aber wenn Sie sich mal an früher erinnern: Das kann man nicht vergleichen. Die Grünen haben einen viel stärkeren Willen, gemeinsam zu handeln, gemeinsam was durchzusetzen. Sie agieren nicht mehr so in Strömungen, wie das in der Vergangenheit der Fall war. Und wir haben mit zwei Themen, nämlich '68 Joschka Fischer' - das ist für uns sogar ein positives Angriffsthema geworden - und ‚BSE, die Entwicklung einer neuen Landwirtschaft'; das ist ein richtiges Thema, wo die Bevölkerung - wie ich glaube - zu recht sagt: ‚Mensch, das können nur die Grünen, weil die immer schon in die Richtung geredet haben und in die Richtung ziehen wollten'. Also, was die neue Doppelspitze angeht: Wir werden, glaube ich, eine gute Doppelspitze sein. Wir haben sehr viel geredet über die Arbeitsweise und über die Notwendigkeiten. Kernpunkt, sowohl von der Claudia Roth als auch von mir, ist, dass sich bei so einer Partei wie die Grünen die Vorsitzenden nicht als Strömungslieferanten verstehen dürfen. Die müssen das Zentrum der Partei bilden. Wir werden nicht ein Konkurrenzverhältnis haben. Und das, was Merz und Merkel an trauriger Doppelspitze aufführen, wird es bei uns nicht geben.
Thiel: Also, Claudia Roth nicht zuständig für das linksliberale Profil und Sie für die Realpolitik?
Kuhn: Nein, wir werden - beide Vorsitzende, die Claudia Roth wie ich - für die ganze Partei zu sprechen haben. Es gibt nicht diese Aufteilung - der eine für den Flügel und der andere für jenen Flügel, und am Schluss weiß man nicht, wofür beide und die ganze Partei stehen. Das will ich gerade damit zum Ausdruck bringen: Wir beide werden für die ganzen Grünen sprechen, das ist unsere Aufgabe. Und nur so kriegt eine Partei Handlungsfähigkeit und eine klare Kommunikation, die ja in der Demokratie sehr wichtig ist.
Thiel: Bündnis 90/Die Grünen nach über 21 Jahren auf dem Weg zu einem neuen Grundsatzprogramm. Ein Jahr wurde schon darüber gearbeitet und beraten. Auf der Bundesdeligiertenkonferenz wollen Sie fünf Thesen vorlegen vom Bundesvorstand. In rot-grüner Regierungsverantwortung sind schon einige Positionen von 1980 über Bord geworfen worden. Wie definieren Sie jetzt das neue grüne Selbstverständnis?
Kuhn: Wir werden auf der Bundesversammlung eine Diskussion haben über die grünen Grundwerte, über das, was die Grünen im Kern ausmacht. Das ist nach 20 Jahren notwendig, dass man die Positionen neu definiert, dass man den Kurs neu bestimmt. Aber es geht nicht nach der Logik des Überbordwerfens, sondern eher nach der Logik des Transformierens, des Bewahrens und Erneuerns gleichzeitig. Und so haben wir uns die Wertediskussion angeguckt. Wir werden stärker als im alten Grundsatzprogramm - also im alten Programm - die Frage stellen: Wieviel Freiheit braucht die grüne Partei als Grundwert, und in welchem Spannungsverhältnis steht es zur Verantwortung, etwa ökologischer Verantwortung oder Verantwortung im Sinn von Generationengerechtigkeit? Also, wir wollen ein bisschen rauskommen aus der Vorstellung: Grün heißt immer, alles ist verboten, alles ist eingeschränkt . . .
Thiel: . . . das Image ‚Antifreiheitspartei' wirkt schwer . . .
Kuhn: . . . das ist ein Punkt, wo wir uns auseinandersetzen, weil das wichtig ist. Die Grünen wären - nach meiner Auffassung - völlig falsch verstanden, wenn man sie so versteht, als ‚einschränkende Partei'. Wir wollen ja auch zeigen, dass man mit dem, wo wir Verantwortung einfordern - wir brauchen Verantwortung aller Menschen für den Klimaschutz etwa - dass dies aber neue Lebensqualität auch bringt, wenn wir die ökologischen Verhältnisse verbessern oder wenn wir mehr Gerechtigkeit in der Bundesrepublik haben oder ein besseres Bildungssystem: Also, überall wollen wir auch den Lebensqualitätszugewinn thematisieren - übrigens auch bei der ökologischen Landwirtschaft. Es ist ja so, dass es auch viel bringt für die Qualität unseres Lebens. Und dieses Spannungsverhältnis von Freiheit auf der einen Seite und Verantwortlichkeiten und Sinn für Gerechtigkeit auf der anderen Seite - das muss im Grundsatzprogramm neu bestimmt werden; was ist eigentlich der Kernbestand von Werten, also bei uns Freiheit, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Ökologie, soziales Grundverständnis - in welchem Spannungsverhältnis stehen die?
Thiel: Die Debatte um die Vergangenheit von zwei grünen Bundesministern hat Ihre Partei in die Schlagzeilen gebracht. War der Umgang damit immer richtig, oder hat sich hier nicht mal wieder doch auch ein Mangel im Krisenmanagement der Bündnisgrünen gezeigt?
Kuhn: Also, ich will noch einmal deutlich sagen: Wer da Fehler gemacht hat, ist in erster Linie die CDU und die FDP. Es ist nämlich deutlich geworden, dass die da Personen und eine ganze politische Generation angreifen, weil sie eigentlich inhaltlich keine Alternativen zu bieten haben, nicht in der Innenpolitik, und außenpolitisch und europapolitisch schon gar nicht. Es stinkt denen ja, dass der Joschka Fischer so eine gute Außenpolitik macht. Wenn Sie im Ausland sind und mal fragen würden, wer denn der Vorgänger von Joschka Fischer ist, dann sagen die Leute: ‚Das ist doch der Herr Genscher', weil sie sich an Herrn Kinkel gar nicht mehr erinnern können. Also ich glaube, dass da auch der Neid über diese erfolgreiche Politik mit dahintersteht. Und vor allem die Tatsache, dass die CDU so überzogen hat und ganz 68 sozusagen final nochmal in den Regen stellen will, hat uns eher genützt. Es kommen wahnsinnig viele Leute auf uns zu und sagen: ‚Mensch, lasst Euch da nicht unterkriegen. Es war nicht alles falsch, was in der Zeit gemacht wurde und gedacht wurde'. Und deswegen hat eine differenziertere Position von uns, nämlich der Punkt Gewaltbereitschaft war falsch - das haben wir auch korrigiert mit der Gründung der grünen Partei -, aber vieles an dem Muff der 50-er Jahre und 60-er Jahre ist doch durch 68 verändert worden. Es ist mehr Demokratie in Deutschland gekommen, es ist ein kultureller Aufbruch gewesen. Das sehen die Leute ein. Verstehen Sie: Deswegen hat uns die Diskussion wirklich nicht geschadet. Natürlich können Sie immer, wenn Sie eine aufgeregte Diskussion haben, das eine oder andere strategisch besser machen, das will ich nicht in Abrede stellen. Aber im Kern hatten wir die Diskussion nicht mit einem schlechten Gewissen zu führen, auch nicht mit fünf Rechtsanwälten bei jedem Statement unserer Spitzenpolitiker. Und ich glaube, dass wir durch die Geschichte ganz gut gekommen sind.
Thiel: Aber ist nicht der Eindruck doch richtig, dass der Rechtfertigungsdruck immer noch da ist, auch immer noch größer wird? Plötzlich liest man sogar von angeblichen Raubzügen durch süddeutsche Buchläden. Egal, wie absurd die Argumente auch sind: Es kommen immer wieder neue Vorwürfe. Muss nicht gerade Ihre Partei diese Vergangenheitsdebatte sehr viel offensiver noch führen? Die Stimmung kann ja auch mal umkippen.
Kuhn: Ich finde, dass wir sie sehr offensiv führen, ehrlich gesagt, und man muss auch nicht auf jede Denunziation eingehen. Der fortgesetzte Eifer der CDU erklärt sich nur aus deren Konzeptlosigkeit in politischen Fragen auf der einen Seite, weil viele noch immer ihre Probleme mit 68 haben. Das ist ja fast so eine Art Kulturkampf geworden. Aber nochmal: Die meisten Leute verstehen doch, dass sich ohne 68 manches gar nicht verändert hätte, zum Beispiel das Verhältnis von Frauen und Männern, die Frage, dass auch Männer für Kindererziehung mit zuständig sind, die Frage von Demokratie in Betrieb, Schule, Hochschule, die Frage, wie man mit Sexualität umgehen kann, ob es gleichgeschlechtliche Beziehungen geben darf. Wenn man sich an diesen ganzen Mief der 50-er Jahre erinnert, dann kann man doch nicht hergehen und sagen, wie die Frau Merkel: ‚Deutschland war seit 45 gleichermaßen immer gleich liberal'. Also, das drückt eine geschichtliche Unkenntnis aus, die ich eigentlich sehr, sehr seltsam finde. Und die meisten Leute - auch Konservative, also auch CDU-Wähler - profitieren ja auch von der Zeit. Damit will ich nicht sagen, dass alles toll war in der Zeit. Also es gibt auch Punkte, wie bei jeder geschichtlichen Betrachtung, wo Sie hergehen müssen und aus heutiger Sicht sich auch Fragen stellen, zum Beispiel: Ich finde immer, wie schnell man bereit war, aus einer moralischen Diskussion den eigenen Anspruch und die eigene Position zu überhöhen, das befremdet mich persönlich, wenn ich zurückschaue. Aber vieles von 68 war positiv, und die Bevölkerung erwartet eigentlich ein differenziertes Bild und nicht nur so eine pauschale Ablehnung, wie sie von der CDU kommt.
Thiel: In Washington sprach der Bundesaußenminister von Verständnis für die Bombenangriffe der USA auf den Irak. Verwunderung bis Befremden verspürte Umweltminister Jürgen Trittin in Berlin. Auch die Fraktion meldete erheblichen Gesprächsbedarf an. Am Dienstag muss der Bundesaußenminister in die Fraktion. Fritz Kuhn, steht die Partei vor einer neuerlichen Zerreißprobe?
Kuhn: Also, der Joschka Fischer ist immer, wenn er in Berlin ist, in der Fraktion. Er muss nicht in die Fraktion, sondern er geht da gerne hin, weil es ihm da gefällt. Das ist bei ehemaligen Fraktionsvorsitzenden so, dass sie Fraktionen schätzen und lieben. Aber jetzt ganz ernst - in der Sache: Selbstverständlich gibt's bei den Grünen eine Diskussion - eine kritische und skeptische Diskussion -, ob man mit Bombenangriffen, wie die Amerikaner und die Briten sie durchgeführt haben, die Ziele, nämlich die Aufgaben der UN einzuhalten und dafür zu sorgen, dass Saddam Hussein keine Mittelstreckenwaffen aufbauen kann usw., ob man die erreichen kann, oder ob es ihn sogar eher stärkt, wenn solche Angriffe stattfinden. Ich halte die Diskussion für legitim und notwendig. Die gibt's übrigens auch in der SPD, wenn ich an den Bundespräsidenten denke, der sich ja auch sehr kritisch darüber geäußert hat. Das ist das eine. Zum andern hält es die Partei aber für einen Erfolg und für gut, dass Joschka Fischer in den Gesprächen mit den Amerikanern, die ja unsere wichtigsten Bündnispartner sind, am Ende der Gespräche zusammen mit dem US-Außenminister doch zu dem Ergebnis kommt: Eine politische Lösung ist eigentlich notwendig und richtig. Also, da setzt sich kein Falkenkurs durch, sondern man will eine politische Lösung für die Region entwickeln, die dafür sorgt, dass Saddam Hussein seine Aufrüstungspläne nicht durchsetzen kann und an die Auflagen der UN sich halten muss. Das heißt, die Partei kann umgehen inzwischen - und das ist auch neu in der Entwicklung der letzten Monate - damit, dass ein deutscher Außenminister anders agieren muss in seiner Rolle auch als oberster Diplomat der Republik, als es ein Parteisprecher oder ein Abgeordneter der Außenpolitik eben tun kann. Das müssen wir akzeptieren und das akzeptieren wir auch, weil wir wissen, dass dabei auch was rauskommt. Es ist ja schon wichtig, dass hier die Gesprächsfähigkeit und die Handlungsfähigkeit und die Mitentscheidungsfähigkeit mit den Amerikanern bewahrt bleibt. Und wenn ich mir anschaue, welche Erfolge Joschka Fischer da in der internationalen Diplomatie hat, dann glaube ich schon, dass die Partei mit dem ganz gut leben kann und ganz zufrieden ist damit.
Thiel: Die anstehenden Castortransporte haben die Stimmung bei Ihnen in der Partei ordentlich verhagelt. Der zuständige Minister Trittin fand kräftige Worte, einzelne Kreisverbände fühlten sich nur noch beschimpft. Auch der Parteirat zog schon enge Grenzen für den Protest. Ist dies jetzt der Ausdruck des neuen Umgangs innerhalb der Partei?
Kuhn: Nein. Ich glaube, dass das auch ein bisschen hochgespielt wird. Wir werden am Parteitag eine ganz gute Lösung - glaube ich - finden. Die Diskussion hat wechselseitiges Verständnis für die unterschiedlichen Positionen gebracht. Das war auch mein Anliegen, dass man erst mal intern in Gesprächen miteinander spricht und nicht über die Medien alles austrägt. Es geht doch um eine ganz einfache Frage, und die heißt: Wenn wir für den Atomkonsens sind, also für einen gesetzlich festzulegenden Weg, wie man Atomkraft in Deutschland beendet - das ist ja international sehr beachtet worden, dass wir dies tun -, dann kann man natürlich schwer die im Konsens festgelegten Transporte, die ja noch notwendig sind, zum Beispiel den deutschen Müll aus La Hague wieder zurückzunehmen, dann kann man nicht einfach gleichzeitig sagen ‚und das blockieren wir' - wo wir es andererseits gesetzlich verantworten. Das ist die eine Seite. Die andere Seite sind die Probleme des Landesverbandes Niedersachsen der Grünen und der Leute in Gorleben, die nicht so recht sicher sind, ob Gorleben wirklich nur ein Zwischenlager sein soll oder ob es nicht doch eines Tages ein Endlager wird. Und da sage ich als grüner Vorsitzender klar: Ich glaube, dass der Salzstock in Gorleben nicht geeignet ist - nach dem Kenntnisstand, den ich habe. Man wird dies überprüfen, man wird insgesamt nach neuen Standortkriterien suchen. Aber die Sorge der niedersächsischen Grünen vor diesen Transporten kommt aus dieser Quelle. Wenn ich beides zusammen nehme, kann ich mir schon vorstellen, dass man da zu Kompromissen kommt - oder jedenfalls zu Positionen, mit denen die Bundespartei und auch der Landesverband in Niedersachsen leben können. Und da sind wir gerade dabei, dies gut zu entwickeln.
Thiel: Aber bisher sind Sie ja gerade in Niedersachsen damit gescheitert. Es scheint fast so eine Woche vor dem Parteitag, dass es eben keine Kompromisse gibt, dass es eben keine klare Aussage geben wird über den Verzicht von Blockaden. Morgen muss der Bundesvorstand Farbe bekennen und eine Vorlage für den Parteirat beschließen. Fahren Sie jetzt eine weichere Linie?
Kuhn: Also wir werden morgen eine Resolution dem Parteirat vorlegen und beschließen. Natürlich werden wir auf die Diskussion der letzten Wochen in der Partei Rücksicht nehmen und die mit eingehen lassen. Es ist der Eindruck entstanden - und der war wirklich falsch, der war auch nicht intendiert -, dass wir generell Demonstrationsverbote verhängen wollten. Und da kann ich nur sagen: Wo sind wir denn eigentlich? In Deutschland und bei den Grünen gibt es Demonstrationsfreiheit, und es ist auch bei uns keine Diskussion, dass gewaltfreie Blockaden möglich sind - eben wenn sie gewaltfrei sind; andere werden von den Grünen sowieso nicht gemacht. Nein, es geht um das politische Problem, ob eine Partei, die gerade das Gesetzeswerk für den Ausstieg durchsetzen will, ob die sozusagen noch dagegen blockieren. Kann also der Übergang von der Oppositionspartei, die noch eine Verstopfungsstrategie macht, zu einer Gestaltungspartei, die den Ausstieg organisiert, gelingen? Ich glaube doch, dass wir das hinkriegen werden. Wir haben viel gesprochen und diskutiert, und die Gespräche sind nicht gescheitert. Die Partei weiß auch, dass sie am Schluss zu einer Geschlossenheit finden muss. Und deswegen bin ich da nicht skeptisch. Die Lösungen, die wir finden, werden nicht auf dem Markt ausgeschrieen und ich verkünde die auch nicht vorher im Radio oder in den Zeitungen, weil man da auch die Ruhe braucht, die aus den Gesprächen folgt. Aber so skeptisch bin ich nicht.
Thiel: Also, das Drittel von Münster, was gegen den Atomkompromiss gestimmt hat, haben Sie nicht in der Zwischenzeit vergessen?
Kuhn: Die Grünen haben mit zwei Drittel entschieden, dass ihr Weg aus der Atomkraft dieser Atomkonsens ist, weil es ein gangbarer Weg ist, einer, der einen guten Kompromiss darstellt und der richtig die Atomkraft besiegelt im Sinn von "da wird Schluss gemacht". Natürlich wollen manche Grüne - ich selber auch - das schneller haben, das ist klar. Aber die Politik geht um den feinen Unterschied zwischen ‚Recht haben' und ‚Recht bekommen', und das Drittel, das in Münster dagegen gestimmt hat, akzeptiert es auch. Niemand sagt, man soll den Atomkonsens jetzt neu verhandeln oder soll es nochmal aufmachen oder er gelte gar nicht. Wichtig ist, dass dieses Drittel natürlich drücken wird, dass auch alles so gemacht wird, wie es im Konsens steht. Viele wollen erreichen, dass es vielleicht noch schneller geht. Also, die Grünen sind eine atomkritische, eine Anti-Atompartei geblieben. Das einzige, was sich geändert hat, dass sie einen Weg in der Regierung gefunden haben, das auch abzuwickeln. Und das finde ich eigentlich positiv. Also, ich glaube, dass wir da keinen Grund zur Trauer oder zum Zwist haben.
Thiel: Ein nicht erledigtes ökologisches Kernthema fiel Ihnen quasi über Nacht in den Schoß. Renate Künast ist durchgestartet zum neuen Star als grüne Spitzenpolitikerin avanciert. Die Erwartungen sind immens hoch, doch das erste Stoppzeichen kam schon aus Brüssel. Die Agrarwende, der Umbau der Landwirtschaft ist in Europa schwer durchsetzbar. Neues Glatteis für die grüne Partei?
Kuhn: Zunächst mal bin ich sehr froh, dass wir dieses neue Ministerium, die neue Aufgabe und mit der Renate Künast auch eine hervorragend besetzte Ministerin dazu haben. Das gibt den Grünen einen richtigen Schub nach vorn, das ist nämlich ein urgrünes Ministerium. Seit 20 Jahren kämpfen wir Grüne hier in Baden-Württemberg für den Bio-Landbau, und ich kann einfach nur sagen: In der politischen Landschaft verstehen wir am meisten von dem Thema. Dass das keine Geschichte wird, die ein gemütlicher Spaziergang ist, ist klar; da stecken viele Interessen des alten Agrarsystems dahinter. Der Streit in Brüssel ist notwendig. Er ist einfach notwendig, weil wir ja nicht einfach jetzt nur Krisenmanagement im Sinne der Abwicklung der BSE-Krise machen wollen, sondern wir wollen ja die Konsequenzen ziehen, die aus dieser hochindustrialisierten Landwirtschaft jetzt gezogen werden müssen, nämlich eine naturverträglichere und artgerechtere Tierhaltung auf allen Flächen durchzusetzen. Und der Kampf geht darum, die Fördersysteme jetzt so zu verändern, dass dies stärker möglich wird. Aber wir können vieles auch schon national tun. Auch die Agenda 2000 hat Möglichkeiten der Sozial- und der Umweltbindung; da gibt es keinen Streit dazu. Aber es geht um die Frage: Kann es noch weitergehen? Und da werden jetzt die Eckpfosten in der EU-Diskussion eingerammt. Ich finde, es ist keine Gefahr für die Grünen, weil man überall in der Bevölkerung versteht, dass es ein schwieriger Kampf ist. Aber wir werden Stück für Stück mit der Zähigkeit, die man auf dem Politikfeld braucht, kämpfen dafür, dass ökologische Landwirtschaft und artgerechte Tierhaltung in Deutschland wirklich wächst. Es ist übrigens für die Bauern die einzige Perspektive. Nur wenn das Vertrauen zu den Kunden wieder aufgebaut werden kann, können die Bauern die Produkte absetzen.
Thiel: Bei den Bauern ist Renate Künast sehr gut angekommen mit ihrem forschen Auftritt, in Brüssel vielleicht nicht so. Die Diplomaten raufen sich schon die Haare. Ist das der richtige Weg, jetzt ganz forsch vorzugehen?
Kuhn: Naja, also ein bisschen frischer Wind - mit Verlaub - muss auch in durchlauchten Kreise auf der EU-Ebene wirklich kommen. Also, da hat sich jetzt was verändert. Es hat sich auch inhaltlich was verändert: Jetzt wird auch Landwirtschaftspolitik auch aus der Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher gemacht, die Sicherheit wollen, die Qualität wollen, die Transparenz wollen, die Beachtung der Ökologie wollen. Und das bringt natürlich Veränderungen mit sich. Aber ich weiß und bin mir sicher, dass die Renate Künast auch die Kraft hat, nach dem Streit zu Kompromissen - etwa mit Fischler, dem Agrarkommissar - zu kommen. Es geht ja nur gemeinsam. Und das ist in der Bundesregierung natürlich klar, dass wir auch gemeinsame Wege finden.
Thiel: Die ökologische Steuerreform soll nach 2003 weitergehen, aber sozial verträglich - so Ihre Forderung, Herr Kuhn. Endlich soll das eingenommene Geld für Umweltprojekte eingesetzt werden. Welche konkreten Vorstellungen haben Sie?
Kuhn: Also, ich glaube, dass die Ökosteuer, so wie sie jetzt ist, viel besser ist als manche denken. Wir haben in ein Steuersystem, das bislang ökologisch blind war, eine ökologische Komponente einbezogen und die Mittel verwendet zur Senkung der Lohnnebenkosten, was die CDU ja nie geschafft hat. Das brauchen wir, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Ich stelle übrigens auch fest, dass man schon Lenkungseffekte der Ökosteuer spüren kann. Die Leute fragen mehr nach, was für ein Auto sie kaufen. Sie überlegen sich mehr, wie sie die Häuser sanieren, was sie für Heizungsanlagen einbauen, ob sie Warmwasser vielleicht mit Sonnenkollektoren machen können und vieles andere mehr. Und deswegen werden wir bis 2003 die Ökosteuer so fortsetzen. Ich glaube, dass sie dann weitergehen sollte, weil die Lenkungssignale, die von ihr ausgehen, sich fortentwickeln müssen. Sonst investieren Firmen nicht, sonst investieren Privatleute nicht. Wie es dann genau weitergeht, werden wir mit dem Koalitionspartner zu besprechen haben. Da gehört übrigens auch die Frage dazu, wie die Wahlen ausgehen. Also eine Stärkung der Grünen führt natürlich zu einer Stärkung der Bedeutung der ökologischen Politik in Deutschland. Wir sind ja die treibende Kraft als ökologische Modernisierer in dieser Koalition. Und ich bin ganz offen für die Diskussion, ob man die Mittel weiterhin zur Senkung der Lohnnebenkosten verwenden soll oder ob man sie verwenden soll direkt für ökologische Investitionen. Für beides spricht was - unter unterschiedlichen Gesichtspunkten. Und ich denke, dass wir dann die Ökosteuer also noch einmal verbessern, auch manche Ausnahmen rausnehmen, die sie heute aus Rücksichtnahme zum Beispiel auf die Wirtschaft noch hat. Aber die Zukunft in allen Industriestaaten gehört eine ökologische Steuerkomponente, weil es das marktwirtschaftlichste Instrument ist, Ökologie durchzusetzen.
Thiel: Aber Bundeskanzler Gerhard Schröder hat schon klargestellt: Das Ende der Fahnenstange ist erreicht.
Kuhn: Die SPD will diese Erhöhungen, wie sie jetzt beim Benzin sind, nicht so fortsetzen. Aber es gibt viele Stimmen in der SPD, die auch sagen: ‚Die ökologische Steuerreform soll natürlich weitergehen.' Wie gesagt: Wir werden dieses dann genau diskutieren, wie es geschieht und was geschieht. Und es wird natürlich auch eine Auseinandersetzung im nächsten Bundestagswahlkampf sein. Es führt jetzt nicht zum Streit zwischen der Koalition, das ist mir wichtig, das zu betonen, weil man das ganz vernünftig zwischen den Koalitionspartnern festlegen kann, ausverhandeln kann, was der beste Weg ist. Da soll das beste Argument zählen - für die ökonomische Seite, für die ökologische Seite. Und dann werden wir schon zusammenkommen.
Thiel: Fritz Kuhn, zum Schluss müssen wir aber doch noch auf die Landtagswahlen kommen. Die heiße Phase des Wahlkampfes hat begonnen. Zum politischen Aschermittwoch wurde Optimismus in Ihrer Partei verbreitet, und Sie haben Wechselstimmung im Ländle ausgemacht. Die Hürde in Baden-Württemberg liegt ja nun relativ hoch - bei über 12 Prozent von 1996. Die letzten Umfragewerte sagen Ihnen 8 Prozent voraus. Die SPD liegt bei 35 Prozent. Gilt der Aufwärtstrend nicht für rot-grün, sondern nur für die Sozialdemokraten? Können Sie nicht profitieren davon?
Kuhn: Also, wir haben Umfragewerte heute von 8 Prozent, eine andere Umfrage von 10 Prozent. Wenn ich als erfahrener baden-württembergischer Wahlkämpfer die Stimmung vor Ort anschaue, dann kann ich feststellen, dass viel mehr Leute kommen - mit ganz großem Interesse an der grünen Partei. Doppelt so viele Leute kommen in die Versammlungen, als das bei der letzten Landtagswahl der Fall war. Also ich bin optimistisch und fühle mich eigentlich sehr sicher, dass wir zweistellig werden können. Und das wäre ein großer Erfolg, weil in den vielen letzten Landtagswahlen die Grünen ja verloren haben und wir dann eine Trendwende geschafft hätten. Ich glaube, dass beide - SPD und Grüne - von dem Niedergang der CDU profitieren können. Wir müssen klarmachen, dass, wer die Grünen wählt, auch eine neue Landwirtschaftspolitik unterstützt; es gibt ja auch solche Auswirkungen auf die Bundespolitik. Und ich glaube, dass uns das in den drei Wochen Wahlkampf, die vor uns liegen, gut gelingen kann und dass wir das schaffen werden. Die Grünen in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz sind in einer guten Verfassung. Sie haben Lust an dem Wahlkampf, und ich kann nochmal für Baden-Württemberg sagen: Die CDU selber steht nicht mehr hinter Erwin Teufel. Und das ist das Schlimmste, was einem Spitzenkandidaten in der Wahlauseinandersetzung passieren kann, dass die eigenen Leute eigentlich sorgenzerfurcht rumlaufen. Und deswegen glaube ich, dass die CDU Woche für Woche noch Einbußen haben wird.
Thiel: Beim Kampf um Platz drei in der politischen Landschaft Deutschlands steht Ihnen eine Partei gegenüber, die in der letzten Zeit sehr erstarkt ist. Die FDP will jetzt Senioren ansprechen, drängt in die politische Mitte. Der designierte Vorsitzende Westerwelle übertrifft sogar Herrn Möllemann mit seinen 18-Prozent-Vorgaben. Wie reagieren Sie auf diese Strategie der FDP?
Kuhn: Also, erstmal reagieren wir mit einer großen Gelassenheit. Wir stellen fest, dass die FDP extrem inhaltsarm geworden ist. Sie können gar nicht so richtig sagen, für was die eigentlich stehen. Auf Dreikönig ging es nur um diesen ganzen Firlefanz Mölli oder Westerwelle oder Gerhardt usw., aber keine inhaltlichen Fragen treiben diese Partei um. Und ich glaube, dass man das spüren kann. Westerwelle ist sozusagen ein Containerpolitiker geworden, der mehr auf die Showelemente der Politik achtet, aber inhaltlich wenig zu bieten hat. Die FDP ist auch keine klassisch liberale Partei mehr im Sinne von einer Partei, die den Bürger vor zuviel Staatseinfluss schützt. Sie hat große Probleme beim Thema ‚soziale Gerechtigkeit', sie ist ökologisch vollständig blind. Sie hat auch eine überalterte Wählerschaft, ganz anders als sie gerne mit dem Westerwelle-Kult glauben machen will. Sie wird von jungen Leuten viel weniger gewählt werden als die Grünen. Und wenn ich dies alles zusammennehme, habe ich eigentlich doch eine Gelassenheit, dass wir diese Konkurrenz bestehen werden, vor allem, weil sich bei den Grünen jetzt auch was geändert hat im letzten halben Jahr: Wir sind ja handlungsfähiger und strategiefähiger geworden; das sollten wir noch ausbauen. Und dann werden wir mit einer guten Bilanz in den Bundestagswahlkampf gehen. Es ist - glaube ich - deutlicher geworden, dass eine grüne Partei in Deutschland notwendig ist, dass sie in der Regierung sein muss, weil die ganzen grünen Fragen, die ganzen Fragen von Ökologie und Nachhaltigkeit niemand in Deutschland sonst verfolgt, wenn wir nicht in der Regierung sind. Und mit der Fragestellung werden wir in den Wahlkampf ziehen.
Thiel: Also, Claudia Roth nicht zuständig für das linksliberale Profil und Sie für die Realpolitik?
Kuhn: Nein, wir werden - beide Vorsitzende, die Claudia Roth wie ich - für die ganze Partei zu sprechen haben. Es gibt nicht diese Aufteilung - der eine für den Flügel und der andere für jenen Flügel, und am Schluss weiß man nicht, wofür beide und die ganze Partei stehen. Das will ich gerade damit zum Ausdruck bringen: Wir beide werden für die ganzen Grünen sprechen, das ist unsere Aufgabe. Und nur so kriegt eine Partei Handlungsfähigkeit und eine klare Kommunikation, die ja in der Demokratie sehr wichtig ist.
Thiel: Bündnis 90/Die Grünen nach über 21 Jahren auf dem Weg zu einem neuen Grundsatzprogramm. Ein Jahr wurde schon darüber gearbeitet und beraten. Auf der Bundesdeligiertenkonferenz wollen Sie fünf Thesen vorlegen vom Bundesvorstand. In rot-grüner Regierungsverantwortung sind schon einige Positionen von 1980 über Bord geworfen worden. Wie definieren Sie jetzt das neue grüne Selbstverständnis?
Kuhn: Wir werden auf der Bundesversammlung eine Diskussion haben über die grünen Grundwerte, über das, was die Grünen im Kern ausmacht. Das ist nach 20 Jahren notwendig, dass man die Positionen neu definiert, dass man den Kurs neu bestimmt. Aber es geht nicht nach der Logik des Überbordwerfens, sondern eher nach der Logik des Transformierens, des Bewahrens und Erneuerns gleichzeitig. Und so haben wir uns die Wertediskussion angeguckt. Wir werden stärker als im alten Grundsatzprogramm - also im alten Programm - die Frage stellen: Wieviel Freiheit braucht die grüne Partei als Grundwert, und in welchem Spannungsverhältnis steht es zur Verantwortung, etwa ökologischer Verantwortung oder Verantwortung im Sinn von Generationengerechtigkeit? Also, wir wollen ein bisschen rauskommen aus der Vorstellung: Grün heißt immer, alles ist verboten, alles ist eingeschränkt . . .
Thiel: . . . das Image ‚Antifreiheitspartei' wirkt schwer . . .
Kuhn: . . . das ist ein Punkt, wo wir uns auseinandersetzen, weil das wichtig ist. Die Grünen wären - nach meiner Auffassung - völlig falsch verstanden, wenn man sie so versteht, als ‚einschränkende Partei'. Wir wollen ja auch zeigen, dass man mit dem, wo wir Verantwortung einfordern - wir brauchen Verantwortung aller Menschen für den Klimaschutz etwa - dass dies aber neue Lebensqualität auch bringt, wenn wir die ökologischen Verhältnisse verbessern oder wenn wir mehr Gerechtigkeit in der Bundesrepublik haben oder ein besseres Bildungssystem: Also, überall wollen wir auch den Lebensqualitätszugewinn thematisieren - übrigens auch bei der ökologischen Landwirtschaft. Es ist ja so, dass es auch viel bringt für die Qualität unseres Lebens. Und dieses Spannungsverhältnis von Freiheit auf der einen Seite und Verantwortlichkeiten und Sinn für Gerechtigkeit auf der anderen Seite - das muss im Grundsatzprogramm neu bestimmt werden; was ist eigentlich der Kernbestand von Werten, also bei uns Freiheit, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Ökologie, soziales Grundverständnis - in welchem Spannungsverhältnis stehen die?
Thiel: Die Debatte um die Vergangenheit von zwei grünen Bundesministern hat Ihre Partei in die Schlagzeilen gebracht. War der Umgang damit immer richtig, oder hat sich hier nicht mal wieder doch auch ein Mangel im Krisenmanagement der Bündnisgrünen gezeigt?
Kuhn: Also, ich will noch einmal deutlich sagen: Wer da Fehler gemacht hat, ist in erster Linie die CDU und die FDP. Es ist nämlich deutlich geworden, dass die da Personen und eine ganze politische Generation angreifen, weil sie eigentlich inhaltlich keine Alternativen zu bieten haben, nicht in der Innenpolitik, und außenpolitisch und europapolitisch schon gar nicht. Es stinkt denen ja, dass der Joschka Fischer so eine gute Außenpolitik macht. Wenn Sie im Ausland sind und mal fragen würden, wer denn der Vorgänger von Joschka Fischer ist, dann sagen die Leute: ‚Das ist doch der Herr Genscher', weil sie sich an Herrn Kinkel gar nicht mehr erinnern können. Also ich glaube, dass da auch der Neid über diese erfolgreiche Politik mit dahintersteht. Und vor allem die Tatsache, dass die CDU so überzogen hat und ganz 68 sozusagen final nochmal in den Regen stellen will, hat uns eher genützt. Es kommen wahnsinnig viele Leute auf uns zu und sagen: ‚Mensch, lasst Euch da nicht unterkriegen. Es war nicht alles falsch, was in der Zeit gemacht wurde und gedacht wurde'. Und deswegen hat eine differenziertere Position von uns, nämlich der Punkt Gewaltbereitschaft war falsch - das haben wir auch korrigiert mit der Gründung der grünen Partei -, aber vieles an dem Muff der 50-er Jahre und 60-er Jahre ist doch durch 68 verändert worden. Es ist mehr Demokratie in Deutschland gekommen, es ist ein kultureller Aufbruch gewesen. Das sehen die Leute ein. Verstehen Sie: Deswegen hat uns die Diskussion wirklich nicht geschadet. Natürlich können Sie immer, wenn Sie eine aufgeregte Diskussion haben, das eine oder andere strategisch besser machen, das will ich nicht in Abrede stellen. Aber im Kern hatten wir die Diskussion nicht mit einem schlechten Gewissen zu führen, auch nicht mit fünf Rechtsanwälten bei jedem Statement unserer Spitzenpolitiker. Und ich glaube, dass wir durch die Geschichte ganz gut gekommen sind.
Thiel: Aber ist nicht der Eindruck doch richtig, dass der Rechtfertigungsdruck immer noch da ist, auch immer noch größer wird? Plötzlich liest man sogar von angeblichen Raubzügen durch süddeutsche Buchläden. Egal, wie absurd die Argumente auch sind: Es kommen immer wieder neue Vorwürfe. Muss nicht gerade Ihre Partei diese Vergangenheitsdebatte sehr viel offensiver noch führen? Die Stimmung kann ja auch mal umkippen.
Kuhn: Ich finde, dass wir sie sehr offensiv führen, ehrlich gesagt, und man muss auch nicht auf jede Denunziation eingehen. Der fortgesetzte Eifer der CDU erklärt sich nur aus deren Konzeptlosigkeit in politischen Fragen auf der einen Seite, weil viele noch immer ihre Probleme mit 68 haben. Das ist ja fast so eine Art Kulturkampf geworden. Aber nochmal: Die meisten Leute verstehen doch, dass sich ohne 68 manches gar nicht verändert hätte, zum Beispiel das Verhältnis von Frauen und Männern, die Frage, dass auch Männer für Kindererziehung mit zuständig sind, die Frage von Demokratie in Betrieb, Schule, Hochschule, die Frage, wie man mit Sexualität umgehen kann, ob es gleichgeschlechtliche Beziehungen geben darf. Wenn man sich an diesen ganzen Mief der 50-er Jahre erinnert, dann kann man doch nicht hergehen und sagen, wie die Frau Merkel: ‚Deutschland war seit 45 gleichermaßen immer gleich liberal'. Also, das drückt eine geschichtliche Unkenntnis aus, die ich eigentlich sehr, sehr seltsam finde. Und die meisten Leute - auch Konservative, also auch CDU-Wähler - profitieren ja auch von der Zeit. Damit will ich nicht sagen, dass alles toll war in der Zeit. Also es gibt auch Punkte, wie bei jeder geschichtlichen Betrachtung, wo Sie hergehen müssen und aus heutiger Sicht sich auch Fragen stellen, zum Beispiel: Ich finde immer, wie schnell man bereit war, aus einer moralischen Diskussion den eigenen Anspruch und die eigene Position zu überhöhen, das befremdet mich persönlich, wenn ich zurückschaue. Aber vieles von 68 war positiv, und die Bevölkerung erwartet eigentlich ein differenziertes Bild und nicht nur so eine pauschale Ablehnung, wie sie von der CDU kommt.
Thiel: In Washington sprach der Bundesaußenminister von Verständnis für die Bombenangriffe der USA auf den Irak. Verwunderung bis Befremden verspürte Umweltminister Jürgen Trittin in Berlin. Auch die Fraktion meldete erheblichen Gesprächsbedarf an. Am Dienstag muss der Bundesaußenminister in die Fraktion. Fritz Kuhn, steht die Partei vor einer neuerlichen Zerreißprobe?
Kuhn: Also, der Joschka Fischer ist immer, wenn er in Berlin ist, in der Fraktion. Er muss nicht in die Fraktion, sondern er geht da gerne hin, weil es ihm da gefällt. Das ist bei ehemaligen Fraktionsvorsitzenden so, dass sie Fraktionen schätzen und lieben. Aber jetzt ganz ernst - in der Sache: Selbstverständlich gibt's bei den Grünen eine Diskussion - eine kritische und skeptische Diskussion -, ob man mit Bombenangriffen, wie die Amerikaner und die Briten sie durchgeführt haben, die Ziele, nämlich die Aufgaben der UN einzuhalten und dafür zu sorgen, dass Saddam Hussein keine Mittelstreckenwaffen aufbauen kann usw., ob man die erreichen kann, oder ob es ihn sogar eher stärkt, wenn solche Angriffe stattfinden. Ich halte die Diskussion für legitim und notwendig. Die gibt's übrigens auch in der SPD, wenn ich an den Bundespräsidenten denke, der sich ja auch sehr kritisch darüber geäußert hat. Das ist das eine. Zum andern hält es die Partei aber für einen Erfolg und für gut, dass Joschka Fischer in den Gesprächen mit den Amerikanern, die ja unsere wichtigsten Bündnispartner sind, am Ende der Gespräche zusammen mit dem US-Außenminister doch zu dem Ergebnis kommt: Eine politische Lösung ist eigentlich notwendig und richtig. Also, da setzt sich kein Falkenkurs durch, sondern man will eine politische Lösung für die Region entwickeln, die dafür sorgt, dass Saddam Hussein seine Aufrüstungspläne nicht durchsetzen kann und an die Auflagen der UN sich halten muss. Das heißt, die Partei kann umgehen inzwischen - und das ist auch neu in der Entwicklung der letzten Monate - damit, dass ein deutscher Außenminister anders agieren muss in seiner Rolle auch als oberster Diplomat der Republik, als es ein Parteisprecher oder ein Abgeordneter der Außenpolitik eben tun kann. Das müssen wir akzeptieren und das akzeptieren wir auch, weil wir wissen, dass dabei auch was rauskommt. Es ist ja schon wichtig, dass hier die Gesprächsfähigkeit und die Handlungsfähigkeit und die Mitentscheidungsfähigkeit mit den Amerikanern bewahrt bleibt. Und wenn ich mir anschaue, welche Erfolge Joschka Fischer da in der internationalen Diplomatie hat, dann glaube ich schon, dass die Partei mit dem ganz gut leben kann und ganz zufrieden ist damit.
Thiel: Die anstehenden Castortransporte haben die Stimmung bei Ihnen in der Partei ordentlich verhagelt. Der zuständige Minister Trittin fand kräftige Worte, einzelne Kreisverbände fühlten sich nur noch beschimpft. Auch der Parteirat zog schon enge Grenzen für den Protest. Ist dies jetzt der Ausdruck des neuen Umgangs innerhalb der Partei?
Kuhn: Nein. Ich glaube, dass das auch ein bisschen hochgespielt wird. Wir werden am Parteitag eine ganz gute Lösung - glaube ich - finden. Die Diskussion hat wechselseitiges Verständnis für die unterschiedlichen Positionen gebracht. Das war auch mein Anliegen, dass man erst mal intern in Gesprächen miteinander spricht und nicht über die Medien alles austrägt. Es geht doch um eine ganz einfache Frage, und die heißt: Wenn wir für den Atomkonsens sind, also für einen gesetzlich festzulegenden Weg, wie man Atomkraft in Deutschland beendet - das ist ja international sehr beachtet worden, dass wir dies tun -, dann kann man natürlich schwer die im Konsens festgelegten Transporte, die ja noch notwendig sind, zum Beispiel den deutschen Müll aus La Hague wieder zurückzunehmen, dann kann man nicht einfach gleichzeitig sagen ‚und das blockieren wir' - wo wir es andererseits gesetzlich verantworten. Das ist die eine Seite. Die andere Seite sind die Probleme des Landesverbandes Niedersachsen der Grünen und der Leute in Gorleben, die nicht so recht sicher sind, ob Gorleben wirklich nur ein Zwischenlager sein soll oder ob es nicht doch eines Tages ein Endlager wird. Und da sage ich als grüner Vorsitzender klar: Ich glaube, dass der Salzstock in Gorleben nicht geeignet ist - nach dem Kenntnisstand, den ich habe. Man wird dies überprüfen, man wird insgesamt nach neuen Standortkriterien suchen. Aber die Sorge der niedersächsischen Grünen vor diesen Transporten kommt aus dieser Quelle. Wenn ich beides zusammen nehme, kann ich mir schon vorstellen, dass man da zu Kompromissen kommt - oder jedenfalls zu Positionen, mit denen die Bundespartei und auch der Landesverband in Niedersachsen leben können. Und da sind wir gerade dabei, dies gut zu entwickeln.
Thiel: Aber bisher sind Sie ja gerade in Niedersachsen damit gescheitert. Es scheint fast so eine Woche vor dem Parteitag, dass es eben keine Kompromisse gibt, dass es eben keine klare Aussage geben wird über den Verzicht von Blockaden. Morgen muss der Bundesvorstand Farbe bekennen und eine Vorlage für den Parteirat beschließen. Fahren Sie jetzt eine weichere Linie?
Kuhn: Also wir werden morgen eine Resolution dem Parteirat vorlegen und beschließen. Natürlich werden wir auf die Diskussion der letzten Wochen in der Partei Rücksicht nehmen und die mit eingehen lassen. Es ist der Eindruck entstanden - und der war wirklich falsch, der war auch nicht intendiert -, dass wir generell Demonstrationsverbote verhängen wollten. Und da kann ich nur sagen: Wo sind wir denn eigentlich? In Deutschland und bei den Grünen gibt es Demonstrationsfreiheit, und es ist auch bei uns keine Diskussion, dass gewaltfreie Blockaden möglich sind - eben wenn sie gewaltfrei sind; andere werden von den Grünen sowieso nicht gemacht. Nein, es geht um das politische Problem, ob eine Partei, die gerade das Gesetzeswerk für den Ausstieg durchsetzen will, ob die sozusagen noch dagegen blockieren. Kann also der Übergang von der Oppositionspartei, die noch eine Verstopfungsstrategie macht, zu einer Gestaltungspartei, die den Ausstieg organisiert, gelingen? Ich glaube doch, dass wir das hinkriegen werden. Wir haben viel gesprochen und diskutiert, und die Gespräche sind nicht gescheitert. Die Partei weiß auch, dass sie am Schluss zu einer Geschlossenheit finden muss. Und deswegen bin ich da nicht skeptisch. Die Lösungen, die wir finden, werden nicht auf dem Markt ausgeschrieen und ich verkünde die auch nicht vorher im Radio oder in den Zeitungen, weil man da auch die Ruhe braucht, die aus den Gesprächen folgt. Aber so skeptisch bin ich nicht.
Thiel: Also, das Drittel von Münster, was gegen den Atomkompromiss gestimmt hat, haben Sie nicht in der Zwischenzeit vergessen?
Kuhn: Die Grünen haben mit zwei Drittel entschieden, dass ihr Weg aus der Atomkraft dieser Atomkonsens ist, weil es ein gangbarer Weg ist, einer, der einen guten Kompromiss darstellt und der richtig die Atomkraft besiegelt im Sinn von "da wird Schluss gemacht". Natürlich wollen manche Grüne - ich selber auch - das schneller haben, das ist klar. Aber die Politik geht um den feinen Unterschied zwischen ‚Recht haben' und ‚Recht bekommen', und das Drittel, das in Münster dagegen gestimmt hat, akzeptiert es auch. Niemand sagt, man soll den Atomkonsens jetzt neu verhandeln oder soll es nochmal aufmachen oder er gelte gar nicht. Wichtig ist, dass dieses Drittel natürlich drücken wird, dass auch alles so gemacht wird, wie es im Konsens steht. Viele wollen erreichen, dass es vielleicht noch schneller geht. Also, die Grünen sind eine atomkritische, eine Anti-Atompartei geblieben. Das einzige, was sich geändert hat, dass sie einen Weg in der Regierung gefunden haben, das auch abzuwickeln. Und das finde ich eigentlich positiv. Also, ich glaube, dass wir da keinen Grund zur Trauer oder zum Zwist haben.
Thiel: Ein nicht erledigtes ökologisches Kernthema fiel Ihnen quasi über Nacht in den Schoß. Renate Künast ist durchgestartet zum neuen Star als grüne Spitzenpolitikerin avanciert. Die Erwartungen sind immens hoch, doch das erste Stoppzeichen kam schon aus Brüssel. Die Agrarwende, der Umbau der Landwirtschaft ist in Europa schwer durchsetzbar. Neues Glatteis für die grüne Partei?
Kuhn: Zunächst mal bin ich sehr froh, dass wir dieses neue Ministerium, die neue Aufgabe und mit der Renate Künast auch eine hervorragend besetzte Ministerin dazu haben. Das gibt den Grünen einen richtigen Schub nach vorn, das ist nämlich ein urgrünes Ministerium. Seit 20 Jahren kämpfen wir Grüne hier in Baden-Württemberg für den Bio-Landbau, und ich kann einfach nur sagen: In der politischen Landschaft verstehen wir am meisten von dem Thema. Dass das keine Geschichte wird, die ein gemütlicher Spaziergang ist, ist klar; da stecken viele Interessen des alten Agrarsystems dahinter. Der Streit in Brüssel ist notwendig. Er ist einfach notwendig, weil wir ja nicht einfach jetzt nur Krisenmanagement im Sinne der Abwicklung der BSE-Krise machen wollen, sondern wir wollen ja die Konsequenzen ziehen, die aus dieser hochindustrialisierten Landwirtschaft jetzt gezogen werden müssen, nämlich eine naturverträglichere und artgerechtere Tierhaltung auf allen Flächen durchzusetzen. Und der Kampf geht darum, die Fördersysteme jetzt so zu verändern, dass dies stärker möglich wird. Aber wir können vieles auch schon national tun. Auch die Agenda 2000 hat Möglichkeiten der Sozial- und der Umweltbindung; da gibt es keinen Streit dazu. Aber es geht um die Frage: Kann es noch weitergehen? Und da werden jetzt die Eckpfosten in der EU-Diskussion eingerammt. Ich finde, es ist keine Gefahr für die Grünen, weil man überall in der Bevölkerung versteht, dass es ein schwieriger Kampf ist. Aber wir werden Stück für Stück mit der Zähigkeit, die man auf dem Politikfeld braucht, kämpfen dafür, dass ökologische Landwirtschaft und artgerechte Tierhaltung in Deutschland wirklich wächst. Es ist übrigens für die Bauern die einzige Perspektive. Nur wenn das Vertrauen zu den Kunden wieder aufgebaut werden kann, können die Bauern die Produkte absetzen.
Thiel: Bei den Bauern ist Renate Künast sehr gut angekommen mit ihrem forschen Auftritt, in Brüssel vielleicht nicht so. Die Diplomaten raufen sich schon die Haare. Ist das der richtige Weg, jetzt ganz forsch vorzugehen?
Kuhn: Naja, also ein bisschen frischer Wind - mit Verlaub - muss auch in durchlauchten Kreise auf der EU-Ebene wirklich kommen. Also, da hat sich jetzt was verändert. Es hat sich auch inhaltlich was verändert: Jetzt wird auch Landwirtschaftspolitik auch aus der Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher gemacht, die Sicherheit wollen, die Qualität wollen, die Transparenz wollen, die Beachtung der Ökologie wollen. Und das bringt natürlich Veränderungen mit sich. Aber ich weiß und bin mir sicher, dass die Renate Künast auch die Kraft hat, nach dem Streit zu Kompromissen - etwa mit Fischler, dem Agrarkommissar - zu kommen. Es geht ja nur gemeinsam. Und das ist in der Bundesregierung natürlich klar, dass wir auch gemeinsame Wege finden.
Thiel: Die ökologische Steuerreform soll nach 2003 weitergehen, aber sozial verträglich - so Ihre Forderung, Herr Kuhn. Endlich soll das eingenommene Geld für Umweltprojekte eingesetzt werden. Welche konkreten Vorstellungen haben Sie?
Kuhn: Also, ich glaube, dass die Ökosteuer, so wie sie jetzt ist, viel besser ist als manche denken. Wir haben in ein Steuersystem, das bislang ökologisch blind war, eine ökologische Komponente einbezogen und die Mittel verwendet zur Senkung der Lohnnebenkosten, was die CDU ja nie geschafft hat. Das brauchen wir, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Ich stelle übrigens auch fest, dass man schon Lenkungseffekte der Ökosteuer spüren kann. Die Leute fragen mehr nach, was für ein Auto sie kaufen. Sie überlegen sich mehr, wie sie die Häuser sanieren, was sie für Heizungsanlagen einbauen, ob sie Warmwasser vielleicht mit Sonnenkollektoren machen können und vieles andere mehr. Und deswegen werden wir bis 2003 die Ökosteuer so fortsetzen. Ich glaube, dass sie dann weitergehen sollte, weil die Lenkungssignale, die von ihr ausgehen, sich fortentwickeln müssen. Sonst investieren Firmen nicht, sonst investieren Privatleute nicht. Wie es dann genau weitergeht, werden wir mit dem Koalitionspartner zu besprechen haben. Da gehört übrigens auch die Frage dazu, wie die Wahlen ausgehen. Also eine Stärkung der Grünen führt natürlich zu einer Stärkung der Bedeutung der ökologischen Politik in Deutschland. Wir sind ja die treibende Kraft als ökologische Modernisierer in dieser Koalition. Und ich bin ganz offen für die Diskussion, ob man die Mittel weiterhin zur Senkung der Lohnnebenkosten verwenden soll oder ob man sie verwenden soll direkt für ökologische Investitionen. Für beides spricht was - unter unterschiedlichen Gesichtspunkten. Und ich denke, dass wir dann die Ökosteuer also noch einmal verbessern, auch manche Ausnahmen rausnehmen, die sie heute aus Rücksichtnahme zum Beispiel auf die Wirtschaft noch hat. Aber die Zukunft in allen Industriestaaten gehört eine ökologische Steuerkomponente, weil es das marktwirtschaftlichste Instrument ist, Ökologie durchzusetzen.
Thiel: Aber Bundeskanzler Gerhard Schröder hat schon klargestellt: Das Ende der Fahnenstange ist erreicht.
Kuhn: Die SPD will diese Erhöhungen, wie sie jetzt beim Benzin sind, nicht so fortsetzen. Aber es gibt viele Stimmen in der SPD, die auch sagen: ‚Die ökologische Steuerreform soll natürlich weitergehen.' Wie gesagt: Wir werden dieses dann genau diskutieren, wie es geschieht und was geschieht. Und es wird natürlich auch eine Auseinandersetzung im nächsten Bundestagswahlkampf sein. Es führt jetzt nicht zum Streit zwischen der Koalition, das ist mir wichtig, das zu betonen, weil man das ganz vernünftig zwischen den Koalitionspartnern festlegen kann, ausverhandeln kann, was der beste Weg ist. Da soll das beste Argument zählen - für die ökonomische Seite, für die ökologische Seite. Und dann werden wir schon zusammenkommen.
Thiel: Fritz Kuhn, zum Schluss müssen wir aber doch noch auf die Landtagswahlen kommen. Die heiße Phase des Wahlkampfes hat begonnen. Zum politischen Aschermittwoch wurde Optimismus in Ihrer Partei verbreitet, und Sie haben Wechselstimmung im Ländle ausgemacht. Die Hürde in Baden-Württemberg liegt ja nun relativ hoch - bei über 12 Prozent von 1996. Die letzten Umfragewerte sagen Ihnen 8 Prozent voraus. Die SPD liegt bei 35 Prozent. Gilt der Aufwärtstrend nicht für rot-grün, sondern nur für die Sozialdemokraten? Können Sie nicht profitieren davon?
Kuhn: Also, wir haben Umfragewerte heute von 8 Prozent, eine andere Umfrage von 10 Prozent. Wenn ich als erfahrener baden-württembergischer Wahlkämpfer die Stimmung vor Ort anschaue, dann kann ich feststellen, dass viel mehr Leute kommen - mit ganz großem Interesse an der grünen Partei. Doppelt so viele Leute kommen in die Versammlungen, als das bei der letzten Landtagswahl der Fall war. Also ich bin optimistisch und fühle mich eigentlich sehr sicher, dass wir zweistellig werden können. Und das wäre ein großer Erfolg, weil in den vielen letzten Landtagswahlen die Grünen ja verloren haben und wir dann eine Trendwende geschafft hätten. Ich glaube, dass beide - SPD und Grüne - von dem Niedergang der CDU profitieren können. Wir müssen klarmachen, dass, wer die Grünen wählt, auch eine neue Landwirtschaftspolitik unterstützt; es gibt ja auch solche Auswirkungen auf die Bundespolitik. Und ich glaube, dass uns das in den drei Wochen Wahlkampf, die vor uns liegen, gut gelingen kann und dass wir das schaffen werden. Die Grünen in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz sind in einer guten Verfassung. Sie haben Lust an dem Wahlkampf, und ich kann nochmal für Baden-Württemberg sagen: Die CDU selber steht nicht mehr hinter Erwin Teufel. Und das ist das Schlimmste, was einem Spitzenkandidaten in der Wahlauseinandersetzung passieren kann, dass die eigenen Leute eigentlich sorgenzerfurcht rumlaufen. Und deswegen glaube ich, dass die CDU Woche für Woche noch Einbußen haben wird.
Thiel: Beim Kampf um Platz drei in der politischen Landschaft Deutschlands steht Ihnen eine Partei gegenüber, die in der letzten Zeit sehr erstarkt ist. Die FDP will jetzt Senioren ansprechen, drängt in die politische Mitte. Der designierte Vorsitzende Westerwelle übertrifft sogar Herrn Möllemann mit seinen 18-Prozent-Vorgaben. Wie reagieren Sie auf diese Strategie der FDP?
Kuhn: Also, erstmal reagieren wir mit einer großen Gelassenheit. Wir stellen fest, dass die FDP extrem inhaltsarm geworden ist. Sie können gar nicht so richtig sagen, für was die eigentlich stehen. Auf Dreikönig ging es nur um diesen ganzen Firlefanz Mölli oder Westerwelle oder Gerhardt usw., aber keine inhaltlichen Fragen treiben diese Partei um. Und ich glaube, dass man das spüren kann. Westerwelle ist sozusagen ein Containerpolitiker geworden, der mehr auf die Showelemente der Politik achtet, aber inhaltlich wenig zu bieten hat. Die FDP ist auch keine klassisch liberale Partei mehr im Sinne von einer Partei, die den Bürger vor zuviel Staatseinfluss schützt. Sie hat große Probleme beim Thema ‚soziale Gerechtigkeit', sie ist ökologisch vollständig blind. Sie hat auch eine überalterte Wählerschaft, ganz anders als sie gerne mit dem Westerwelle-Kult glauben machen will. Sie wird von jungen Leuten viel weniger gewählt werden als die Grünen. Und wenn ich dies alles zusammennehme, habe ich eigentlich doch eine Gelassenheit, dass wir diese Konkurrenz bestehen werden, vor allem, weil sich bei den Grünen jetzt auch was geändert hat im letzten halben Jahr: Wir sind ja handlungsfähiger und strategiefähiger geworden; das sollten wir noch ausbauen. Und dann werden wir mit einer guten Bilanz in den Bundestagswahlkampf gehen. Es ist - glaube ich - deutlicher geworden, dass eine grüne Partei in Deutschland notwendig ist, dass sie in der Regierung sein muss, weil die ganzen grünen Fragen, die ganzen Fragen von Ökologie und Nachhaltigkeit niemand in Deutschland sonst verfolgt, wenn wir nicht in der Regierung sind. Und mit der Fragestellung werden wir in den Wahlkampf ziehen.