Kuhn: Pazifistisch, feministisch, ökologisch, sozial - was ist von diesen grünen - urgrünen - Grundwerten geblieben?
Kuhn: Also, wir haben ganz bewusst in dem Programm, das am nächsten Wochenende verabschiedet wird, den Versuch gemacht, die alten Werte wieder aufleben zu lassen - aber sie zu übersetzten in die heutige Zeit und in die Herausforderung, die in den nächsten 20 Jahren vor uns liegen. Wir haben uns konzentriert natürlich auf die Ökologie, auf die Selbstbestimmung - grüne Politik hat sehr viel mit Emanzipation und Selbstbestimmung zu tun. Wir haben einen Gerechtigkeitsbegriff ausgebreitet im Programm, der sehr vielschichtig ist und Generationengerechtigkeit, Zugangsgerechtigkeit und soziale Verteilungsgerechtigkeit zusammen meint. Und wir haben die Demokratie und die Demokratisierung als weiteren Grundwert - aus dem werden alle anderen Punkte wie zum Beispiel Gewaltfreiheit, Menschenrechtsorientierung abgeleitet, und ich glaube, dass der Versuch aus dem, was vor 20 Jahren gegründet war, heute eine noch modernere Partei zu machen, wirklich gelungen ist. Und die Anträge, die es jetzt gibt, bestätigen: Es gibt eine ganz rege Mitarbeit und Zuarbeit zu dem Programm.
Thiel: Kritiker werfen Ihnen aber vor, dass Sie sich von Ihren urgrünen Wurzeln verabschieden. Was ist geblieben von der linken Tradition zum Beispiel?
Kuhn: Also, es ist völlig falsch. Wenn wir das Gleiche wieder geschrieben hätten wie vor 20 Jahren, würden alle sagen - alle -: 'Diese Partei hat den Sprung in die Zukunft verpasst'. Und wer das alte Programm liest, weiß auch, dass wir in den 20 Jahren viel dazugelernt haben und differenzieren mussten. Aber wir sind natürlich eine Partei der Gerechtigkeit, wir sind eine Partei, die Ökologie in Nachhaltigkeit verwandelt hat, also eine politische Konzeption von Ökologie. Wir haben im Programm sehr viel über Globalisierung geschrieben, weil wir einfach eine Internationalisierung der Wirtschaft nicht akzeptieren, wenn sie nicht sozial gerecht und ökologisch auch gerecht ist. Wir sind eine Partei, die im Bereich der Innenpolitik die Frauenpolitik und die Kinderpolitik sehr nach vorn tut. Wir sind eine Partei, die den Bürger auch vor zu viel Staat schützen will, und deswegen wurde der Begriff der Selbstbestimmung eine Konzeption für einen guten anderen Sozialstaat auch aufgebaut hat Das ist also ein Konzept, wo sehr, sehr vieles bewahrt worden ist. Und meine alte 'Kann'-Überlegung ist ja: Man muss vieles bewahren - aber nur, indem man auch radikal auch bei sich selber Veränderungen herbeiführt. Und das ist der Geist oder der Kann-Gedanke, den das Programm beinhaltet. Ich glaube, dass wir Grüne auf der Basis dieses Programms wieder wachsen können, weil das sehr Moderne Fassungen auch alter Werte sind.
Thiel: Die Frauen haben jetzt ein eigenes Kapitel im neuen Grundsatzprogramm, Ergebnisse Ihrer extra eingerichteten Kinderkommission liegen aber noch nicht vor. Trotzdem: Die Familienpolitik soll einen großen Bestand haben. Welchen Stellenwert wird sie in Zukunft in grüner Politik haben?
Kuhn: Politik für Kinder und für das Leben mit Kindern ist zentral für die grüne Partei. Da geht's nicht drum um die Frage, ob es eigene Kapitel gibt oder nicht. Wir haben quer durch das Programm immer wieder das Thema 'Kinder' aufgegriffen. Der Begriff der Generationengerechtigkeit zeichnet ja die Grünen gegenüber allen anderen Parteien aus; wir wollen diese Gegenwartsbesessenheit und Zukunftsvergessenheit der heutigen Politik überwinden und müssen in allen Politikbereichen fragen: Wie wirkt sich das eigentlich für künftige Generationen - Kinder, Enkelkinder - aus und soll Politik wirklich nachhaltig machen. Im Wahlprogramm werden wir das für die nächsten vier Jahre ganz konkret schreiben, und ich glaube, dass die Grünen schon die Partei sind, die die größte Kompetenz in dieser Frage hat. Vor 20 Jahren haben wir ein Plakat gedruckt - ich komme noch mal zu den alten Werten zurück - in Baden-Württemberg, da stand drauf: 'Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt'. Das war damals ganz aufs Ökologische gemeint, ein hervorragenden Plakat, weil man besser den Kerngedanken der Ökologie nicht formulieren kann. Und in den 20 Jahren haben wir Grüne versucht, diesen Gedanken auch bei der Sozialpolitik - siehe Rentenreform -, auch bei der Haushaltspolitik - siehe Haushaltskonsolidierung -, durchzubuchstabieren. Und wir wollen die Politik heute so verstehen, dass die Perspektiven, der Blickwinkel, das Lebensgefühl, die Erwartungen von Kindern in der Politik mit gedacht sind. Und deswegen glaube ich, dass wir mit dem Thema als Grüne sehr, sehr richtig liegen.
Thiel: Machen wir's mal konkret. Aus der Fraktion kommt der Vorschlag, eine Kinderkasse einzurichten. Können Sie sich damit anfreunden?
Kuhn: Also ich finde es richtig, die verschiedenen Transferleistungen, die wir heute für Kinder haben - das sind ja eine ganze Vielzahl - zusammenzubündeln in eine Kinderkasse. Ein Vorschlag, der auch gemacht worden ist zu der Kinderversicherung - aus der Arbeitslosenversicherung, halte ich für falsch. Ich glaube, dass wir eines machen müssen: Wir müssen die Infrastruktur für Kinder - wie ist die Kinderbetreuung, ist Familie und Beruf wirklich vereinbar? -, die müssen wir verbessern. Und das ist ein ganz zentraler Punkt. Wenn ich das mit Frankreich oder Skandinavien vergleiche, ist Deutschland ein Entwicklungsland - vor allem bei der Betreuung der unter Dreijährigen, auch bei der Betreuung an den Schulen dann. Das wollen wir verändern. Es muss eine Partei geben, und das sind wir Grüne, die auch eine Lobby für die Kinder im Alltag liefert. Ich will das mal an einem praktischen Beispiel sagen: Ich will eigentlich, dass sich niemand mehr vor Gericht ernsthaft beschweren kann über Kinderlärm, ohne dass er ausgelacht wird. Also, diese kleinen Fragen im Alltag, dass die Leute klagen, wenn irgendwo ein Spielplatz eingerichtet werden soll, die muss durch starke Lobbyarbeit verhindert werden. Damit will ich sagen: Es ist nicht immer nur eine Frage von Geld, sondern es ist auch manchmal einfach eine Frage der tatsächlichen inhaltlichen Einstellungen. Und wenn man Kinder hat - ich habe selber zwei kleine Buben - und das so beobachtet, wie die Wertschätzung insgesamt für Kinder ist, würde ich sagen, da kann Deutschland noch ein richtiges Stück zulegen. Und das sollten wir auch tun.
Thiel: Militärische Mittel als Ultimaratio werden jetzt nicht mehr ausgeschlossen in Ihrem neuen Grundsatzprogramm; regierungstaugliche Außenpolitik eigentlich ja kein Streitpunkt mehr nach dem Rostocker Parteitag im Herbst, auf dem der Bundeswehreinsatz im internationalen Anti-Terrorkampf abgesegnet wurde. Könnten die jüngsten Ereignisse und Entwicklungen die Stimmung in Ihrer Partei vielleicht jetzt doch wieder zum Kippen bringen?
Kuhn: Wir haben in Rostock im November eine Grundsatzentscheidung getroffen, die grüne Außenpolitik sehr genau definiert hat. Und die sagt: Unter extremsten Bedingungen - als Ultimaratio sozusagen - können wir uns so was vorstellen, Militäreinsätze. Und wir haben ja auch Beispiele, wo das viel gebracht hat, zum Beispiel in Mazedonien ist ein Bürgerkrieg verhindert worden. Aber wir haben das alles unter Voraussetzungen gestellt - ein klares UN-Mandat, eine politische Konzeption, die so was begleiten muss, auch das Ausschöpfen aller politischen Lösungen, die dem vorausgehen müssen. Und ich glaube, dass wir mit dieser Konzeption wirklich eine positive Weiterentwicklung unserer gewaltfreien Grundsätze erreichen, weil - man muss heute eines sehen: Wenn Sie dazu beitragen können irgendwo, dass ein Bürgerkrieg verhindert wird oder ein Krieg verhindert wird, dann müssen Sie das auch tun. Übrigens: Überall auf der Welt wird die deutsche Kompetenz des Friedensbauens, des politischen Herangehens an Konflikte inzwischen sehr geschätzt. Und das hat auch mit Joschka Fischer zu tun, dem grünen und deutschen Außenminister.
Thiel: Katastrophenschutzübungen in Kuwait, die KSK im geheimen Kampfeinsatz, Planungen in den USA für mögliche Angriffe auf den Irak - Fritz Kuhn, wie weit gehen die Bündnisgrünen noch mit?
Kuhn: Das ist keine Frage, wie weit gehen wir 'noch' mit, sondern wir haben einen Beschluss im Bundestag unterstützt, der eine Unterstützung in der Antiterrorkoalition bedeutet. Wir achten sehr genau drauf, dass dieser Beschluss eingehalten wird. Da sind ja solche Sachen wie Militäreinsätze im Irak nicht vorgesehen. Das haben wir extra damals auch ausgeschlossen. Ich kann nur sagen: Einen Angriff der Vereinigten Staaten auf den Irak würde ich für Abenteuertum halten. Deswegen ist es auch wichtig, dass wir den Begriff der 'uneingeschränkten Solidarität' für uns ersetzt haben durch den der 'kritischen Solidarität', weil man auch unter Freunden - und die Amerikaner sind politische Freunde der Bundesrepublik - auch mal sagen muss, wenn man was für falsch hält und auch energisch sagen muss, wenn man was für falsch hält. Also, unsere Konzeption ist die: Wer den Terrorismus bekämpfen will, der muss präventiv vorgehen, der muss auch repressiv vorgehen, aber er muss eine politische Koalition im Kampf gegen Terrorismus stets im Auge haben. Und ich sehe die gefährdet bei einem Angriff auf den Irak.
Thiel: Streit gab es um die Informationspolitik. Fühlen Sie sich ausreichend unterrichtet über das, was eben zum Beispiel in Afghanistan derzeit abläuft?
Kuhn: Ich bin schon ausreichend informiert und unterrichtet. Ich würde das Argument, dass man über den Einsatz von KSK-Leuten im direkten Kampf gegen die Terroristen bin Ladens nicht breit informiert, würde ich auch ernst nehmen, weil - man muss sich natürlich die Frage stellen, ob man Gefährdungen für die Familie und für die Angehörigen praktisch aktuell machen würde, wenn man da anders informiert. Es war sicher nicht gut, dass aus den USA diese Information kam, aber - wie gesagt: Wir achten sehr darauf, dass die Bundestagsbeschlüsse ganz streng eingehalten werden, und ich glaube, dass die Bundesregierung dies bisher auch auf Punkt und Komma gemacht hat.
Thiel: Zum Ende dieser Legislaturperiode gerät Rot-Grün wieder erheblich unter Druck; Reformprojekte stehen vor dem Aus oder sind schon gescheitert, die Stimmung in der Koalition hat sich deutlich verschlechtert. Hinzu kommt die Kölner Parteispendenaffäre, die Ihren Koalitionspartner erheblich in Bedrängnis gebracht hat. Rot-Grün - noch ein Zukunftsprojekt?
Kuhn: Also, ich glaube schon, dass im Herbst bei den Bundestagswahlen die Alternative sein wird, die Regierung Schröder/Fischer - oder die rot-grüne Politik - fortzusetzen oder mit Stoiber und vielleicht Westerwelle zurückzugehen in die Politik der Vergangenheit. Und ich will zunächst bei allen Turbulenzen, die es auch mal in der Regierung gegeben hat, doch eines sagen: Bisher hat Stoiber und hat Westerwelle keine politische Alternative benannt. Alles, wo sie in den letzten drei Jahren aufgetreten sind - Steuerreform vorziehen, Ökosteuer abschaffen, und, und, und -, haben sie jetzt kleinlaut, also wirklich 'mit eingezogenem Schwanz' würde man vielleicht etwas übertrieben formulieren, wieder zurückgenommen. Und das zeigt: Es ist keine Alternative da. Von daher wird man, glaube ich, die Fortsetzung dieser Reformregierung im September wählen - in der Breite. Natürlich ist eines klar: Rot-Grün muss sich auch als Reformregierung verstehen. Ich sage ja oft: Wir Grünen sind der Reformmotor in der Regierung. Ich bin mit dem, was bei der Arbeitsmarktpolitik bislang geschehen ist, noch nicht zufrieden. Wir haben vieles auf Wiedervorlage, zum Beispiel die Überwindung der Teilzeitmauer, weil wir bei den Teilzeitarbeitsplätzen ab 630 Mark einfach ein Loch haben und auch ein falsches Sozialabgabensystem. Das haben wir auf Wiedervorlage, und da drängen wir und drücken wir - genau so wie in der Gesundheitsreform und in anderen Bereichen. Die Regierung Schröder/Fischer - nach 16 Jahren Kohl und FDP - hat eine Legitimation, und die heißt, Deutschland wirklich zu modernisieren. Und das haben wir in vielem geschafft - in der Ökologie, bei der Rentenreform, bei der Steuerreform und bei der Haushaltskonsolidierung. Aber das muss weitergehen, und dieser Geist der Reform darf nicht verloren gehen. Ich sehe übrigens die Aufgabe der Grünen - auch wenn wir nicht alles durchsetzen können, aber von der Rolle her - darin, diesen Modernisierungsdruck in der Koalition aufrecht zu erhalten. In der SPD gibt es natürlich auch große Widersprüche. Es gibt einen sehr strukturkonservativen Gewerkschaftsflügel, der am liebsten alles lassen will wie es ist. Aber ich glaube, das geht nicht, weil - es gibt einen Kernsatz: Wenn man Gerechtigkeit bewahren will, dann muss man sehr viel verändern, denn sonst verliert man sie.
Thiel: Stichwort 'Arbeitsmarktpolitik': War die Politik der 'ruhigen Hand' zu wenig?
Kuhn: Also, eine Politik der 'ruhigen Hand' war und ist sinnvoll, wenn es um Strohfeuer der Konjunkturpolitik ging. Also, eine Hektik jetzt, in der Konjunkturkrise schnelle Konjunkturprogramme - das wäre wirklich falsch gewesen. Solche Programme sind wie Schnapstrinken in der Winternacht, das macht ein bisschen warm, kurzfristig habe ich das Gefühl. Aber danach ist um so größere Kälte. Was Strukturreformen angeht, braucht man auch eine ruhige Hand. Die muss aber zupacken. Deswegen - jetzt in der Arbeitsmarktpolitik weiter zupacken. Ich finde das ja gut in der Summe, dass man bei der Bundesanstalt für Arbeit jetzt Reformen macht, auch mit einem neuen reformfähigen Chef wie den Herrn Gerster, von dem ich mir sehr viel erhoffe, weil der praktisch immer innovativ in der Sozialpolitik war. Und deswegen werden wir in dem Feld weitere Reformen machen; ich erwähne noch einmal die Teilzeitmauer; viele andere Fragen - Zusammenlegen Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe - das steht alles auf der Tagesordnung. Und meine Überzeugung ist, dass die rot-grüne Regierung das gut machen wird.
Thiel: Die Rolle von Florian Gerster bewerten Sie also positiv, auch wenn er vorschlägt, Arbeitslosengeld auf ein Jahr zu beschränken, ABM abzuschaffen, Arbeitslosengeld zu staffeln?
Kuhn: Also, ich will mal so sagen: Wenn einer neu kommt und er will nichts anders machen, dann ist er schon der falsche Mann. Und deswegen finde ich das gut, dass da Reformansätze da sind. Vieles haben wir immer gefordert; zum Beispiel ist es wirklich falsch, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe als zwei verschiedene parallele Transfersysteme zu haben. Das geht immer zu Lasten der Leute aus und führt zu einem Verschiebebahnhof zwischen Gemeinden und anderen Kostenträgern . . .
Thiel: . . . und die Bezugsdauer für Ältere zu kürzen oder Arbeitslosengeld zu staffeln? . . .
Kuhn: . . . das kann man nur in einem Gesamtkonzept überhaupt diskutieren. Wir haben sicher heute das Problem, dass wir Menschen die letzten 36 Monate, wenn sie arbeitslos sind, zu lange in der Arbeitslosenversicherung haben. Ich glaube, dass wir aber einen anderen Weg gehen müssen. Wir müssen uns fragen: Gibt es neue Jobs durch Qualifizierung, die diese Leute machen können? Was ist mit dem Modell der Teilzeitrente? Also, man muss da wirkliche Alternativen schaffen. Durch die Frage, dass ich da Geld kürze, entstehen ja keine neuen Arbeitsplätze. Und das will ich vielleicht an der Stelle einmal ganz deutlich sagen: Die ganze Frage kann nicht nur um die Frage gehen, wie können wir intelligenter vermitteln in zu wenig Arbeitsplätze, sondern die Frage muss gehen zur künftigen Arbeitsmarktpolitik: Wie können wir auch intelligente neue Jobs schaffen - auch mit Hilfe der Bundesanstalt, die es bisher noch nicht gibt, aber für die ein Bedürfnis in der Gesellschaft da wäre.
Thiel: Das Karlsruher Urteil zu Rentenbesteuerung bescherte nun Nachbesserungsbedarf. Das kam nicht so ganz überraschend. Welche Konsequenzen wollen die Bündnisgrünen ziehen? Die Forderung liegt schon auf dem Tisch, eine zweite Rentenreform zu machen?
Kuhn: Also, das Gericht hat ja bis 2005 - übrigens zu recht, und das halte ich für ein sehr kluges Urteil - auch Zeit gelassen, das richtig zu machen. Selbstverständlich ist das Urteil aus meiner Sicht zu begrüßen, weil es eine Ungerechtigkeit beseitigt. Ich denke, dass wir in einer Art und Weise eine nachgelagerte Besteuerung umsetzen werden, die die Rentner in der Breite überhaupt nicht trifft. Da ist ja eine Angst geschürt worden, die völlig falsch ist. Was heißt das netto? Das bedeutet, dass wir natürlich eine Rentenreform haben werden in der nächsten Legislaturperiode. Ich rate da auch zu einer sorgfältigen Arbeit, nicht zu einer Hektik. Und man kann das - glaube ich - in einer Art und Weise machen, die auch den Bundeshaushalt nicht so sehr belastet, dass man da jetzt in Panik ausbrechen müsste.
Thiel: Stichwort 'Haushalt', das zentrale Problem. Ein Vorschlag aus Ihren Reihen lautet: 'Verkaufen wir doch einfach den Goldschatz', ein anderer sagt: 'Abbau der Subventionen' - fragt sich nur, welche. Herr Kuhn, was muss tatsächlich geschehen? Welche Einschnitte sind Ihrer Meinung nach notwendig und zumutbar?
Kuhn: Ich will zunächst mal sagen: Die Politik der Haushaltskonsolidierung dieser Regierung - des Finanzministers, aber auch der grünen Finanzpolitiker - ist ein ganz großes Erfolgsprojekt. Wenn wir nach dem alten Kurs der Union vorgegangen wären, hätten wir viel, viel mehr Neuverschuldung - fast das Doppelte, als es heute der Fall ist. Und deswegen werden wir weiter konsolidieren. Es gibt überall Einsparmöglichkeiten. Sie liegen übrigens nicht so sehr im Wegstreichen von Ausgaben, sondern sie liegen in Strukturreformen. Ich glaube, dass man das bei der Bundeswehrreform zum Beispiel sehen kann - dass man eine qualitativ bessere Bundeswehr erreichen kann mit weniger Mitteln, wenn man die Strukturreform macht. Da wird das Thema 'Abschaffung der Wehrpflicht' sicher auf die Tagesordnung der nächsten Koalitionsverhandlungen kommen - ich finde, das ist ein zentrales Thema. Wir werden in anderen Bereichen Reformprojekte haben. Ich glaube übrigens auch, dass die Arbeitsmarktpolitik so ein Bereich ist, wo man mit intelligenteren, schlankeren Möglichkeiten mehr erreichen kann, als das heute der Fall ist.
Thiel: Thema 'Zuwanderung'. Bleibt das unumstößlich dabei, dass es kein Vermittlungsverfahren geben soll?
Kuhn: Also, ich bin nicht für ein Vermittlungsverfahren, weil - ein Vermittlungsverfahren macht man dann, wenn man sieht, es gibt noch Spielraum für Kompromissverhandlungen. Aber das ist doch alles öffentlich diskutiert worden, wir diskutieren seit einem Jahr über Kompromisse, nachdem die Süssmuthkommission geliefert hat. Wir hatten die Vorschläge von Herrn Müller von der Union. Der müsste jetzt zustimmen, wenn er seine eigenen Vorschläge von vor einem Jahr noch mal lesen würde. Dann hat Stolpe, der Ministerpräsident von Brandenburg, noch mal Punkte aufgestellt; wir sind dem sehr weit entgegengekommen. Und jetzt kann man einschlagen, und man muss auch einschlagen. Und solche Verhandlungen im Vermittlungsausschuss macht man nur, wenn man sozusagen noch ein breites Feld von Kompromissen sieht. Das sehe ich aber nicht.
Thiel: Aber die FDP will in den Vermittlungsausschuss, die Union bleibt hart; ohne Verhandlungen wird sie ablehnen. Und die PDS hat auch noch Forderungen. Ist also das Projekt 'Zuwanderung' gescheitert nach heutigem Stand?
Kuhn: Nein, das sehe ich nicht so. Ich glaube, dass die rot-grüne Bundesregierung etwas sehr, sehr Gutes gemacht hat. Sie hat klargemacht, sie will ein Einwanderungsgesetz. Das ist eine Frage der gesellschaftlichen Modernisierung. Es ist ein wichtiges Gesetz, weil man da 10 Jahre, 15 Jahre nichts zustande gebracht hat. Und übrigens: Alle haben gesagt, sie wollen es, auch die FDP. Was die jetzt machen - mit dem Vermittlungsausschuss -, das ist nur Schau, um sich im Wahlkampf ein bisschen wichtig zu machen. Aber alle können jetzt einschlagen. Wir sind ihnen weit entgegengekommen - in vielen Fragen. Und der materielle Streitwert ist eigentlich, wenn man ganz genau hinschaut, nicht mehr so groß. Nur, was wir nicht machen werden - das muss allen klar sein: Wir werden kein Zuwanderungsgesetz machen, das nach Stoibers Vorstellungen die Zuwanderung verbietet. Das ist ja ein Stück aus dem Tollhaus, was der Herr Stoiber da seiner Union vorschlägt. Und ich frage auch nach all denen, die unter christlichen Gesichtspunkten in der CDU sind, was die alles mit sich machen lassen, nur um den Preis dieser Polarisierung, die Stoiber offensichtlich vorhat. Deswegen geht mein Appell ans Saarland, mein Appell geht natürlich nach Brandenburg, geht auch nach Rheinland-Pfalz. Wer jetzt aus der Sache entscheidet, der kann wirklich 'ja' sagen und diese Modernisierung in Deutschland möglich machen.
Thiel: Die Kölner Parteispendenaffäre hat Ihren Koalitionspartner schwer durchgerüttelt - ein Skandal mit noch unbekanntem Ausmaß. Belastet das den Umgang mit der SPD?
Kuhn: Also, es belastet ihn hier in Berlin nicht. Ich kann der SPD in aller Vorsicht nur raten, so offen und so radikal wie möglich dieses aufzuklären. Es kann nichts geben, was man da vertuschen darf. Ich glaube auch, dass da so drangegangen wird. Ich kann ja den Kopf nur schütteln. Wissen Sie, wir haben - weil Sie vorhin von den Grünen so vor 20 Jahren geredet haben - wir haben den Kampf gegen diese Müllverbrennungsanlagen immer geführt. Wir haben Deutschland vor vielleicht vor 40, 50 Anlagen bewahrt. Wir würden heute auf Überkapazitäten sitzen und aus ganz Europa den Müll einfahren, wie hier auch geschehen - aus Neapel wird hier Müll verbrannt. Also, wenn man mal über Verdienste der Grünen redet: Wir haben die Republik vor richtigen Fehlinvestitionen bewahrt bei dem Thema Müllverbrennung. Dass damals für die Befürworter Geld geflossen ist, kommt jetzt raus. Und das zeigt schon, dass es Bereiche gibt, die nicht besonders sauber begangen sind.
Thiel: Inzwischen werden ja schon Ehrenerklärungen von den Mandatsträgern verlangt. Die Bündnisgrünen sitzen da nicht mit im Boot?
Kuhn: Also, wenn ich das richtig sehe, haben wir da kein Problem an der Geschichte. Wir haben immer gegen diese Anlagen gekämpft, vehement. Ich selber bin jemand, der sehr viel gegen Müllverbrennungs- und Sondermüllverbrennungsanlagen unternommen hat. Ich habe meinem Bundesland einige Millionen - Hunderte Millionen - eingespart in Fehlinvestitionen. Und dass wir darüber keine Spenden bekommen haben von der betreffenden Industrie, darauf können Sie sich verlassen.
Thiel: Aber trotzdem noch mal die Nachfrage - Stichwort 'Vertrauensverlust'. Welcher politische Schaden ist jetzt entstanden?
Kuhn: Ich glaube, dass ein Schaden nur entsteht, wenn da jetzt versucht wird, was zu vertuschen. Und so, wie ich den Herrn Müntefering jetzt gesehen habe, auch den Vorsitzenden der nordrhein-westfälischen SPD, werden die nichts vertuschen. Und mein Punkt ist noch mal: Da muss man radikal aufklären, das werden in Nordrhein-Westfalen unsere Grünen auch mit betreiben. In einer Demokratie kann es immer mal einen Skandal geben. Die Qualität der Demokratie bemisst sich daran, ob von denen, die damit befasst sind - und auch von den anderen - radikal aufgeklärt wird. Also, die Selbstreinigung ist die Qualität, und ich hoffe, dass dies in dem Fall so gemacht wird.
Thiel: 'Der Kanzlerkandidat der Union wird uns Auftrieb geben, stärker profilieren, besser mobilisieren' - so hieß es nach der Kandidatenkür von Edmund Stoiber. Bei den bayerischen Kommunalwahlen war da nicht mehr sehr viel zu spüren, ganz im Gegenteil. Haben Sie sich verkalkuliert?
Kuhn: Nein, das sehe ich nicht so. Wir haben im Landesdurchschnitt ein gutes Prozent verloren, in vielen einzelnen Gegenden aber auch gewonnen bei einigen Landrats- und Kommunalwahlen. 1996 hatten wir eine bayerische Kommunalwahl, da waren die Grünen gerade richtig am Höhepunkt, da hatten wir bundesweit 12 Prozent. Deswegen bin ich mit dem Ergebnis dort sehr, sehr zufrieden. Und ich kann nur sagen - es gibt ja Beispiele wie in München, da hat Stoiber die Klappe richtig aufgerissen, was den Gemeinderat angeht, und er hat eins auf die Mütze bekommen. München ist deswegen so wichtig, weil man sehen kann: Wenn Stoiber rot-grün angreift, kann rot-grün, wenn man es gut macht, vom Wähler bestätigt werden. Und das habe ich vor, im September in Berlin zu wiederholen.
Thiel: Für die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt gibt es aber keine optimistischen Prognosen, Stammwähler sind offensichtlich hier auch von der Fahne gegangen. Fritz Kuhn, mit welcher Strategie wollen Sie die neuen Wählerschichten erschließen?
Kuhn: Also, die Wahl in Sachsen-Anhalt ist natürlich eine schwierige Wahl, weil wir im Osten noch schwach sind. Allerdings spüre ich, dass da ein Aufschwung entsteht. Die Grünen sind wieder viel mobiler und mobilisierter, als sie es vor einem Jahr oder vor zwei Jahren noch waren. Wir kämpfen da um jede Stimme in Sachsen-Anhalt, und wir wollen mittelfristig im Osten wieder über die fünf Prozent kommen. Da haben wir eine konzentrierte Strategie. Auch die Stabilisierung an den Hochschulstandorten haben wir ja vor einiger Zeit öffentlich vorgestellt und diskutiert. Wir haben eine ganz klare Botschaft für die Wahl: Wer ökologische und soziale Politik fortsetzen will, der muss die Grünen wählen. Wir werden natürlich auch Zweitstimmen zusätzlich bekommen, wir sind ja zum ersten Mal aus der Bundesregierung in der Position dieses Wahlkampfes, und wir werden natürlich nach allen Seiten - nach PDS-Seite, nach FDP-Seite und Unions-Seite - richtig auskeilen. Also ich spüre, dass durch meine Partei ein Ruck geht, vor allem auch, weil wir viel geschlossener sind als früher.
Thiel: In Berlin ist eine rot-rot-grüne Koalition nicht zustande gekommen. Für den Bund könnte das nach dem 22. September eine Option sein. Ist eine Koalition mit der PDS für Sie völlig ausgeschlossen?
Kuhn: Also, für mich ist das ausgeschlossen. Ich halte davon überhaupt nichts. Die PDS würde keine Reformkoalition bedeuten. Ich sehe die PDS als ganz strukturkonservative Partei. Wenn die SPD 'X' fordert, fordert die PDS halt zwei X, das Geld kommt aus der Steckdose. Also, da ist überhaupt kein Modernisierungsbegriff unserer Gesellschaft da, und dazu kommt natürlich die Außenpolitik. Die PDS hat eine Außenpolitik, die ich nicht für verantwortbar hielte. Deswegen sind diese ganzen Fragen für mich nicht aktuell. Ich glaube, dass es so eine Koalition nicht geben wird. Und ich will daran erinnern: Meine Partei heißt 'Bündnis 90/Die Grünen', und Bündnis 90 heißt, es sind die Leute, die in der ehemaligen DDR die Revolution mit herbeigeführt haben. Wir werden deswegen nicht mit der PDS in die Koalition gehen.
Kuhn: Also, wir haben ganz bewusst in dem Programm, das am nächsten Wochenende verabschiedet wird, den Versuch gemacht, die alten Werte wieder aufleben zu lassen - aber sie zu übersetzten in die heutige Zeit und in die Herausforderung, die in den nächsten 20 Jahren vor uns liegen. Wir haben uns konzentriert natürlich auf die Ökologie, auf die Selbstbestimmung - grüne Politik hat sehr viel mit Emanzipation und Selbstbestimmung zu tun. Wir haben einen Gerechtigkeitsbegriff ausgebreitet im Programm, der sehr vielschichtig ist und Generationengerechtigkeit, Zugangsgerechtigkeit und soziale Verteilungsgerechtigkeit zusammen meint. Und wir haben die Demokratie und die Demokratisierung als weiteren Grundwert - aus dem werden alle anderen Punkte wie zum Beispiel Gewaltfreiheit, Menschenrechtsorientierung abgeleitet, und ich glaube, dass der Versuch aus dem, was vor 20 Jahren gegründet war, heute eine noch modernere Partei zu machen, wirklich gelungen ist. Und die Anträge, die es jetzt gibt, bestätigen: Es gibt eine ganz rege Mitarbeit und Zuarbeit zu dem Programm.
Thiel: Kritiker werfen Ihnen aber vor, dass Sie sich von Ihren urgrünen Wurzeln verabschieden. Was ist geblieben von der linken Tradition zum Beispiel?
Kuhn: Also, es ist völlig falsch. Wenn wir das Gleiche wieder geschrieben hätten wie vor 20 Jahren, würden alle sagen - alle -: 'Diese Partei hat den Sprung in die Zukunft verpasst'. Und wer das alte Programm liest, weiß auch, dass wir in den 20 Jahren viel dazugelernt haben und differenzieren mussten. Aber wir sind natürlich eine Partei der Gerechtigkeit, wir sind eine Partei, die Ökologie in Nachhaltigkeit verwandelt hat, also eine politische Konzeption von Ökologie. Wir haben im Programm sehr viel über Globalisierung geschrieben, weil wir einfach eine Internationalisierung der Wirtschaft nicht akzeptieren, wenn sie nicht sozial gerecht und ökologisch auch gerecht ist. Wir sind eine Partei, die im Bereich der Innenpolitik die Frauenpolitik und die Kinderpolitik sehr nach vorn tut. Wir sind eine Partei, die den Bürger auch vor zu viel Staat schützen will, und deswegen wurde der Begriff der Selbstbestimmung eine Konzeption für einen guten anderen Sozialstaat auch aufgebaut hat Das ist also ein Konzept, wo sehr, sehr vieles bewahrt worden ist. Und meine alte 'Kann'-Überlegung ist ja: Man muss vieles bewahren - aber nur, indem man auch radikal auch bei sich selber Veränderungen herbeiführt. Und das ist der Geist oder der Kann-Gedanke, den das Programm beinhaltet. Ich glaube, dass wir Grüne auf der Basis dieses Programms wieder wachsen können, weil das sehr Moderne Fassungen auch alter Werte sind.
Thiel: Die Frauen haben jetzt ein eigenes Kapitel im neuen Grundsatzprogramm, Ergebnisse Ihrer extra eingerichteten Kinderkommission liegen aber noch nicht vor. Trotzdem: Die Familienpolitik soll einen großen Bestand haben. Welchen Stellenwert wird sie in Zukunft in grüner Politik haben?
Kuhn: Politik für Kinder und für das Leben mit Kindern ist zentral für die grüne Partei. Da geht's nicht drum um die Frage, ob es eigene Kapitel gibt oder nicht. Wir haben quer durch das Programm immer wieder das Thema 'Kinder' aufgegriffen. Der Begriff der Generationengerechtigkeit zeichnet ja die Grünen gegenüber allen anderen Parteien aus; wir wollen diese Gegenwartsbesessenheit und Zukunftsvergessenheit der heutigen Politik überwinden und müssen in allen Politikbereichen fragen: Wie wirkt sich das eigentlich für künftige Generationen - Kinder, Enkelkinder - aus und soll Politik wirklich nachhaltig machen. Im Wahlprogramm werden wir das für die nächsten vier Jahre ganz konkret schreiben, und ich glaube, dass die Grünen schon die Partei sind, die die größte Kompetenz in dieser Frage hat. Vor 20 Jahren haben wir ein Plakat gedruckt - ich komme noch mal zu den alten Werten zurück - in Baden-Württemberg, da stand drauf: 'Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt'. Das war damals ganz aufs Ökologische gemeint, ein hervorragenden Plakat, weil man besser den Kerngedanken der Ökologie nicht formulieren kann. Und in den 20 Jahren haben wir Grüne versucht, diesen Gedanken auch bei der Sozialpolitik - siehe Rentenreform -, auch bei der Haushaltspolitik - siehe Haushaltskonsolidierung -, durchzubuchstabieren. Und wir wollen die Politik heute so verstehen, dass die Perspektiven, der Blickwinkel, das Lebensgefühl, die Erwartungen von Kindern in der Politik mit gedacht sind. Und deswegen glaube ich, dass wir mit dem Thema als Grüne sehr, sehr richtig liegen.
Thiel: Machen wir's mal konkret. Aus der Fraktion kommt der Vorschlag, eine Kinderkasse einzurichten. Können Sie sich damit anfreunden?
Kuhn: Also ich finde es richtig, die verschiedenen Transferleistungen, die wir heute für Kinder haben - das sind ja eine ganze Vielzahl - zusammenzubündeln in eine Kinderkasse. Ein Vorschlag, der auch gemacht worden ist zu der Kinderversicherung - aus der Arbeitslosenversicherung, halte ich für falsch. Ich glaube, dass wir eines machen müssen: Wir müssen die Infrastruktur für Kinder - wie ist die Kinderbetreuung, ist Familie und Beruf wirklich vereinbar? -, die müssen wir verbessern. Und das ist ein ganz zentraler Punkt. Wenn ich das mit Frankreich oder Skandinavien vergleiche, ist Deutschland ein Entwicklungsland - vor allem bei der Betreuung der unter Dreijährigen, auch bei der Betreuung an den Schulen dann. Das wollen wir verändern. Es muss eine Partei geben, und das sind wir Grüne, die auch eine Lobby für die Kinder im Alltag liefert. Ich will das mal an einem praktischen Beispiel sagen: Ich will eigentlich, dass sich niemand mehr vor Gericht ernsthaft beschweren kann über Kinderlärm, ohne dass er ausgelacht wird. Also, diese kleinen Fragen im Alltag, dass die Leute klagen, wenn irgendwo ein Spielplatz eingerichtet werden soll, die muss durch starke Lobbyarbeit verhindert werden. Damit will ich sagen: Es ist nicht immer nur eine Frage von Geld, sondern es ist auch manchmal einfach eine Frage der tatsächlichen inhaltlichen Einstellungen. Und wenn man Kinder hat - ich habe selber zwei kleine Buben - und das so beobachtet, wie die Wertschätzung insgesamt für Kinder ist, würde ich sagen, da kann Deutschland noch ein richtiges Stück zulegen. Und das sollten wir auch tun.
Thiel: Militärische Mittel als Ultimaratio werden jetzt nicht mehr ausgeschlossen in Ihrem neuen Grundsatzprogramm; regierungstaugliche Außenpolitik eigentlich ja kein Streitpunkt mehr nach dem Rostocker Parteitag im Herbst, auf dem der Bundeswehreinsatz im internationalen Anti-Terrorkampf abgesegnet wurde. Könnten die jüngsten Ereignisse und Entwicklungen die Stimmung in Ihrer Partei vielleicht jetzt doch wieder zum Kippen bringen?
Kuhn: Wir haben in Rostock im November eine Grundsatzentscheidung getroffen, die grüne Außenpolitik sehr genau definiert hat. Und die sagt: Unter extremsten Bedingungen - als Ultimaratio sozusagen - können wir uns so was vorstellen, Militäreinsätze. Und wir haben ja auch Beispiele, wo das viel gebracht hat, zum Beispiel in Mazedonien ist ein Bürgerkrieg verhindert worden. Aber wir haben das alles unter Voraussetzungen gestellt - ein klares UN-Mandat, eine politische Konzeption, die so was begleiten muss, auch das Ausschöpfen aller politischen Lösungen, die dem vorausgehen müssen. Und ich glaube, dass wir mit dieser Konzeption wirklich eine positive Weiterentwicklung unserer gewaltfreien Grundsätze erreichen, weil - man muss heute eines sehen: Wenn Sie dazu beitragen können irgendwo, dass ein Bürgerkrieg verhindert wird oder ein Krieg verhindert wird, dann müssen Sie das auch tun. Übrigens: Überall auf der Welt wird die deutsche Kompetenz des Friedensbauens, des politischen Herangehens an Konflikte inzwischen sehr geschätzt. Und das hat auch mit Joschka Fischer zu tun, dem grünen und deutschen Außenminister.
Thiel: Katastrophenschutzübungen in Kuwait, die KSK im geheimen Kampfeinsatz, Planungen in den USA für mögliche Angriffe auf den Irak - Fritz Kuhn, wie weit gehen die Bündnisgrünen noch mit?
Kuhn: Das ist keine Frage, wie weit gehen wir 'noch' mit, sondern wir haben einen Beschluss im Bundestag unterstützt, der eine Unterstützung in der Antiterrorkoalition bedeutet. Wir achten sehr genau drauf, dass dieser Beschluss eingehalten wird. Da sind ja solche Sachen wie Militäreinsätze im Irak nicht vorgesehen. Das haben wir extra damals auch ausgeschlossen. Ich kann nur sagen: Einen Angriff der Vereinigten Staaten auf den Irak würde ich für Abenteuertum halten. Deswegen ist es auch wichtig, dass wir den Begriff der 'uneingeschränkten Solidarität' für uns ersetzt haben durch den der 'kritischen Solidarität', weil man auch unter Freunden - und die Amerikaner sind politische Freunde der Bundesrepublik - auch mal sagen muss, wenn man was für falsch hält und auch energisch sagen muss, wenn man was für falsch hält. Also, unsere Konzeption ist die: Wer den Terrorismus bekämpfen will, der muss präventiv vorgehen, der muss auch repressiv vorgehen, aber er muss eine politische Koalition im Kampf gegen Terrorismus stets im Auge haben. Und ich sehe die gefährdet bei einem Angriff auf den Irak.
Thiel: Streit gab es um die Informationspolitik. Fühlen Sie sich ausreichend unterrichtet über das, was eben zum Beispiel in Afghanistan derzeit abläuft?
Kuhn: Ich bin schon ausreichend informiert und unterrichtet. Ich würde das Argument, dass man über den Einsatz von KSK-Leuten im direkten Kampf gegen die Terroristen bin Ladens nicht breit informiert, würde ich auch ernst nehmen, weil - man muss sich natürlich die Frage stellen, ob man Gefährdungen für die Familie und für die Angehörigen praktisch aktuell machen würde, wenn man da anders informiert. Es war sicher nicht gut, dass aus den USA diese Information kam, aber - wie gesagt: Wir achten sehr darauf, dass die Bundestagsbeschlüsse ganz streng eingehalten werden, und ich glaube, dass die Bundesregierung dies bisher auch auf Punkt und Komma gemacht hat.
Thiel: Zum Ende dieser Legislaturperiode gerät Rot-Grün wieder erheblich unter Druck; Reformprojekte stehen vor dem Aus oder sind schon gescheitert, die Stimmung in der Koalition hat sich deutlich verschlechtert. Hinzu kommt die Kölner Parteispendenaffäre, die Ihren Koalitionspartner erheblich in Bedrängnis gebracht hat. Rot-Grün - noch ein Zukunftsprojekt?
Kuhn: Also, ich glaube schon, dass im Herbst bei den Bundestagswahlen die Alternative sein wird, die Regierung Schröder/Fischer - oder die rot-grüne Politik - fortzusetzen oder mit Stoiber und vielleicht Westerwelle zurückzugehen in die Politik der Vergangenheit. Und ich will zunächst bei allen Turbulenzen, die es auch mal in der Regierung gegeben hat, doch eines sagen: Bisher hat Stoiber und hat Westerwelle keine politische Alternative benannt. Alles, wo sie in den letzten drei Jahren aufgetreten sind - Steuerreform vorziehen, Ökosteuer abschaffen, und, und, und -, haben sie jetzt kleinlaut, also wirklich 'mit eingezogenem Schwanz' würde man vielleicht etwas übertrieben formulieren, wieder zurückgenommen. Und das zeigt: Es ist keine Alternative da. Von daher wird man, glaube ich, die Fortsetzung dieser Reformregierung im September wählen - in der Breite. Natürlich ist eines klar: Rot-Grün muss sich auch als Reformregierung verstehen. Ich sage ja oft: Wir Grünen sind der Reformmotor in der Regierung. Ich bin mit dem, was bei der Arbeitsmarktpolitik bislang geschehen ist, noch nicht zufrieden. Wir haben vieles auf Wiedervorlage, zum Beispiel die Überwindung der Teilzeitmauer, weil wir bei den Teilzeitarbeitsplätzen ab 630 Mark einfach ein Loch haben und auch ein falsches Sozialabgabensystem. Das haben wir auf Wiedervorlage, und da drängen wir und drücken wir - genau so wie in der Gesundheitsreform und in anderen Bereichen. Die Regierung Schröder/Fischer - nach 16 Jahren Kohl und FDP - hat eine Legitimation, und die heißt, Deutschland wirklich zu modernisieren. Und das haben wir in vielem geschafft - in der Ökologie, bei der Rentenreform, bei der Steuerreform und bei der Haushaltskonsolidierung. Aber das muss weitergehen, und dieser Geist der Reform darf nicht verloren gehen. Ich sehe übrigens die Aufgabe der Grünen - auch wenn wir nicht alles durchsetzen können, aber von der Rolle her - darin, diesen Modernisierungsdruck in der Koalition aufrecht zu erhalten. In der SPD gibt es natürlich auch große Widersprüche. Es gibt einen sehr strukturkonservativen Gewerkschaftsflügel, der am liebsten alles lassen will wie es ist. Aber ich glaube, das geht nicht, weil - es gibt einen Kernsatz: Wenn man Gerechtigkeit bewahren will, dann muss man sehr viel verändern, denn sonst verliert man sie.
Thiel: Stichwort 'Arbeitsmarktpolitik': War die Politik der 'ruhigen Hand' zu wenig?
Kuhn: Also, eine Politik der 'ruhigen Hand' war und ist sinnvoll, wenn es um Strohfeuer der Konjunkturpolitik ging. Also, eine Hektik jetzt, in der Konjunkturkrise schnelle Konjunkturprogramme - das wäre wirklich falsch gewesen. Solche Programme sind wie Schnapstrinken in der Winternacht, das macht ein bisschen warm, kurzfristig habe ich das Gefühl. Aber danach ist um so größere Kälte. Was Strukturreformen angeht, braucht man auch eine ruhige Hand. Die muss aber zupacken. Deswegen - jetzt in der Arbeitsmarktpolitik weiter zupacken. Ich finde das ja gut in der Summe, dass man bei der Bundesanstalt für Arbeit jetzt Reformen macht, auch mit einem neuen reformfähigen Chef wie den Herrn Gerster, von dem ich mir sehr viel erhoffe, weil der praktisch immer innovativ in der Sozialpolitik war. Und deswegen werden wir in dem Feld weitere Reformen machen; ich erwähne noch einmal die Teilzeitmauer; viele andere Fragen - Zusammenlegen Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe - das steht alles auf der Tagesordnung. Und meine Überzeugung ist, dass die rot-grüne Regierung das gut machen wird.
Thiel: Die Rolle von Florian Gerster bewerten Sie also positiv, auch wenn er vorschlägt, Arbeitslosengeld auf ein Jahr zu beschränken, ABM abzuschaffen, Arbeitslosengeld zu staffeln?
Kuhn: Also, ich will mal so sagen: Wenn einer neu kommt und er will nichts anders machen, dann ist er schon der falsche Mann. Und deswegen finde ich das gut, dass da Reformansätze da sind. Vieles haben wir immer gefordert; zum Beispiel ist es wirklich falsch, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe als zwei verschiedene parallele Transfersysteme zu haben. Das geht immer zu Lasten der Leute aus und führt zu einem Verschiebebahnhof zwischen Gemeinden und anderen Kostenträgern . . .
Thiel: . . . und die Bezugsdauer für Ältere zu kürzen oder Arbeitslosengeld zu staffeln? . . .
Kuhn: . . . das kann man nur in einem Gesamtkonzept überhaupt diskutieren. Wir haben sicher heute das Problem, dass wir Menschen die letzten 36 Monate, wenn sie arbeitslos sind, zu lange in der Arbeitslosenversicherung haben. Ich glaube, dass wir aber einen anderen Weg gehen müssen. Wir müssen uns fragen: Gibt es neue Jobs durch Qualifizierung, die diese Leute machen können? Was ist mit dem Modell der Teilzeitrente? Also, man muss da wirkliche Alternativen schaffen. Durch die Frage, dass ich da Geld kürze, entstehen ja keine neuen Arbeitsplätze. Und das will ich vielleicht an der Stelle einmal ganz deutlich sagen: Die ganze Frage kann nicht nur um die Frage gehen, wie können wir intelligenter vermitteln in zu wenig Arbeitsplätze, sondern die Frage muss gehen zur künftigen Arbeitsmarktpolitik: Wie können wir auch intelligente neue Jobs schaffen - auch mit Hilfe der Bundesanstalt, die es bisher noch nicht gibt, aber für die ein Bedürfnis in der Gesellschaft da wäre.
Thiel: Das Karlsruher Urteil zu Rentenbesteuerung bescherte nun Nachbesserungsbedarf. Das kam nicht so ganz überraschend. Welche Konsequenzen wollen die Bündnisgrünen ziehen? Die Forderung liegt schon auf dem Tisch, eine zweite Rentenreform zu machen?
Kuhn: Also, das Gericht hat ja bis 2005 - übrigens zu recht, und das halte ich für ein sehr kluges Urteil - auch Zeit gelassen, das richtig zu machen. Selbstverständlich ist das Urteil aus meiner Sicht zu begrüßen, weil es eine Ungerechtigkeit beseitigt. Ich denke, dass wir in einer Art und Weise eine nachgelagerte Besteuerung umsetzen werden, die die Rentner in der Breite überhaupt nicht trifft. Da ist ja eine Angst geschürt worden, die völlig falsch ist. Was heißt das netto? Das bedeutet, dass wir natürlich eine Rentenreform haben werden in der nächsten Legislaturperiode. Ich rate da auch zu einer sorgfältigen Arbeit, nicht zu einer Hektik. Und man kann das - glaube ich - in einer Art und Weise machen, die auch den Bundeshaushalt nicht so sehr belastet, dass man da jetzt in Panik ausbrechen müsste.
Thiel: Stichwort 'Haushalt', das zentrale Problem. Ein Vorschlag aus Ihren Reihen lautet: 'Verkaufen wir doch einfach den Goldschatz', ein anderer sagt: 'Abbau der Subventionen' - fragt sich nur, welche. Herr Kuhn, was muss tatsächlich geschehen? Welche Einschnitte sind Ihrer Meinung nach notwendig und zumutbar?
Kuhn: Ich will zunächst mal sagen: Die Politik der Haushaltskonsolidierung dieser Regierung - des Finanzministers, aber auch der grünen Finanzpolitiker - ist ein ganz großes Erfolgsprojekt. Wenn wir nach dem alten Kurs der Union vorgegangen wären, hätten wir viel, viel mehr Neuverschuldung - fast das Doppelte, als es heute der Fall ist. Und deswegen werden wir weiter konsolidieren. Es gibt überall Einsparmöglichkeiten. Sie liegen übrigens nicht so sehr im Wegstreichen von Ausgaben, sondern sie liegen in Strukturreformen. Ich glaube, dass man das bei der Bundeswehrreform zum Beispiel sehen kann - dass man eine qualitativ bessere Bundeswehr erreichen kann mit weniger Mitteln, wenn man die Strukturreform macht. Da wird das Thema 'Abschaffung der Wehrpflicht' sicher auf die Tagesordnung der nächsten Koalitionsverhandlungen kommen - ich finde, das ist ein zentrales Thema. Wir werden in anderen Bereichen Reformprojekte haben. Ich glaube übrigens auch, dass die Arbeitsmarktpolitik so ein Bereich ist, wo man mit intelligenteren, schlankeren Möglichkeiten mehr erreichen kann, als das heute der Fall ist.
Thiel: Thema 'Zuwanderung'. Bleibt das unumstößlich dabei, dass es kein Vermittlungsverfahren geben soll?
Kuhn: Also, ich bin nicht für ein Vermittlungsverfahren, weil - ein Vermittlungsverfahren macht man dann, wenn man sieht, es gibt noch Spielraum für Kompromissverhandlungen. Aber das ist doch alles öffentlich diskutiert worden, wir diskutieren seit einem Jahr über Kompromisse, nachdem die Süssmuthkommission geliefert hat. Wir hatten die Vorschläge von Herrn Müller von der Union. Der müsste jetzt zustimmen, wenn er seine eigenen Vorschläge von vor einem Jahr noch mal lesen würde. Dann hat Stolpe, der Ministerpräsident von Brandenburg, noch mal Punkte aufgestellt; wir sind dem sehr weit entgegengekommen. Und jetzt kann man einschlagen, und man muss auch einschlagen. Und solche Verhandlungen im Vermittlungsausschuss macht man nur, wenn man sozusagen noch ein breites Feld von Kompromissen sieht. Das sehe ich aber nicht.
Thiel: Aber die FDP will in den Vermittlungsausschuss, die Union bleibt hart; ohne Verhandlungen wird sie ablehnen. Und die PDS hat auch noch Forderungen. Ist also das Projekt 'Zuwanderung' gescheitert nach heutigem Stand?
Kuhn: Nein, das sehe ich nicht so. Ich glaube, dass die rot-grüne Bundesregierung etwas sehr, sehr Gutes gemacht hat. Sie hat klargemacht, sie will ein Einwanderungsgesetz. Das ist eine Frage der gesellschaftlichen Modernisierung. Es ist ein wichtiges Gesetz, weil man da 10 Jahre, 15 Jahre nichts zustande gebracht hat. Und übrigens: Alle haben gesagt, sie wollen es, auch die FDP. Was die jetzt machen - mit dem Vermittlungsausschuss -, das ist nur Schau, um sich im Wahlkampf ein bisschen wichtig zu machen. Aber alle können jetzt einschlagen. Wir sind ihnen weit entgegengekommen - in vielen Fragen. Und der materielle Streitwert ist eigentlich, wenn man ganz genau hinschaut, nicht mehr so groß. Nur, was wir nicht machen werden - das muss allen klar sein: Wir werden kein Zuwanderungsgesetz machen, das nach Stoibers Vorstellungen die Zuwanderung verbietet. Das ist ja ein Stück aus dem Tollhaus, was der Herr Stoiber da seiner Union vorschlägt. Und ich frage auch nach all denen, die unter christlichen Gesichtspunkten in der CDU sind, was die alles mit sich machen lassen, nur um den Preis dieser Polarisierung, die Stoiber offensichtlich vorhat. Deswegen geht mein Appell ans Saarland, mein Appell geht natürlich nach Brandenburg, geht auch nach Rheinland-Pfalz. Wer jetzt aus der Sache entscheidet, der kann wirklich 'ja' sagen und diese Modernisierung in Deutschland möglich machen.
Thiel: Die Kölner Parteispendenaffäre hat Ihren Koalitionspartner schwer durchgerüttelt - ein Skandal mit noch unbekanntem Ausmaß. Belastet das den Umgang mit der SPD?
Kuhn: Also, es belastet ihn hier in Berlin nicht. Ich kann der SPD in aller Vorsicht nur raten, so offen und so radikal wie möglich dieses aufzuklären. Es kann nichts geben, was man da vertuschen darf. Ich glaube auch, dass da so drangegangen wird. Ich kann ja den Kopf nur schütteln. Wissen Sie, wir haben - weil Sie vorhin von den Grünen so vor 20 Jahren geredet haben - wir haben den Kampf gegen diese Müllverbrennungsanlagen immer geführt. Wir haben Deutschland vor vielleicht vor 40, 50 Anlagen bewahrt. Wir würden heute auf Überkapazitäten sitzen und aus ganz Europa den Müll einfahren, wie hier auch geschehen - aus Neapel wird hier Müll verbrannt. Also, wenn man mal über Verdienste der Grünen redet: Wir haben die Republik vor richtigen Fehlinvestitionen bewahrt bei dem Thema Müllverbrennung. Dass damals für die Befürworter Geld geflossen ist, kommt jetzt raus. Und das zeigt schon, dass es Bereiche gibt, die nicht besonders sauber begangen sind.
Thiel: Inzwischen werden ja schon Ehrenerklärungen von den Mandatsträgern verlangt. Die Bündnisgrünen sitzen da nicht mit im Boot?
Kuhn: Also, wenn ich das richtig sehe, haben wir da kein Problem an der Geschichte. Wir haben immer gegen diese Anlagen gekämpft, vehement. Ich selber bin jemand, der sehr viel gegen Müllverbrennungs- und Sondermüllverbrennungsanlagen unternommen hat. Ich habe meinem Bundesland einige Millionen - Hunderte Millionen - eingespart in Fehlinvestitionen. Und dass wir darüber keine Spenden bekommen haben von der betreffenden Industrie, darauf können Sie sich verlassen.
Thiel: Aber trotzdem noch mal die Nachfrage - Stichwort 'Vertrauensverlust'. Welcher politische Schaden ist jetzt entstanden?
Kuhn: Ich glaube, dass ein Schaden nur entsteht, wenn da jetzt versucht wird, was zu vertuschen. Und so, wie ich den Herrn Müntefering jetzt gesehen habe, auch den Vorsitzenden der nordrhein-westfälischen SPD, werden die nichts vertuschen. Und mein Punkt ist noch mal: Da muss man radikal aufklären, das werden in Nordrhein-Westfalen unsere Grünen auch mit betreiben. In einer Demokratie kann es immer mal einen Skandal geben. Die Qualität der Demokratie bemisst sich daran, ob von denen, die damit befasst sind - und auch von den anderen - radikal aufgeklärt wird. Also, die Selbstreinigung ist die Qualität, und ich hoffe, dass dies in dem Fall so gemacht wird.
Thiel: 'Der Kanzlerkandidat der Union wird uns Auftrieb geben, stärker profilieren, besser mobilisieren' - so hieß es nach der Kandidatenkür von Edmund Stoiber. Bei den bayerischen Kommunalwahlen war da nicht mehr sehr viel zu spüren, ganz im Gegenteil. Haben Sie sich verkalkuliert?
Kuhn: Nein, das sehe ich nicht so. Wir haben im Landesdurchschnitt ein gutes Prozent verloren, in vielen einzelnen Gegenden aber auch gewonnen bei einigen Landrats- und Kommunalwahlen. 1996 hatten wir eine bayerische Kommunalwahl, da waren die Grünen gerade richtig am Höhepunkt, da hatten wir bundesweit 12 Prozent. Deswegen bin ich mit dem Ergebnis dort sehr, sehr zufrieden. Und ich kann nur sagen - es gibt ja Beispiele wie in München, da hat Stoiber die Klappe richtig aufgerissen, was den Gemeinderat angeht, und er hat eins auf die Mütze bekommen. München ist deswegen so wichtig, weil man sehen kann: Wenn Stoiber rot-grün angreift, kann rot-grün, wenn man es gut macht, vom Wähler bestätigt werden. Und das habe ich vor, im September in Berlin zu wiederholen.
Thiel: Für die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt gibt es aber keine optimistischen Prognosen, Stammwähler sind offensichtlich hier auch von der Fahne gegangen. Fritz Kuhn, mit welcher Strategie wollen Sie die neuen Wählerschichten erschließen?
Kuhn: Also, die Wahl in Sachsen-Anhalt ist natürlich eine schwierige Wahl, weil wir im Osten noch schwach sind. Allerdings spüre ich, dass da ein Aufschwung entsteht. Die Grünen sind wieder viel mobiler und mobilisierter, als sie es vor einem Jahr oder vor zwei Jahren noch waren. Wir kämpfen da um jede Stimme in Sachsen-Anhalt, und wir wollen mittelfristig im Osten wieder über die fünf Prozent kommen. Da haben wir eine konzentrierte Strategie. Auch die Stabilisierung an den Hochschulstandorten haben wir ja vor einiger Zeit öffentlich vorgestellt und diskutiert. Wir haben eine ganz klare Botschaft für die Wahl: Wer ökologische und soziale Politik fortsetzen will, der muss die Grünen wählen. Wir werden natürlich auch Zweitstimmen zusätzlich bekommen, wir sind ja zum ersten Mal aus der Bundesregierung in der Position dieses Wahlkampfes, und wir werden natürlich nach allen Seiten - nach PDS-Seite, nach FDP-Seite und Unions-Seite - richtig auskeilen. Also ich spüre, dass durch meine Partei ein Ruck geht, vor allem auch, weil wir viel geschlossener sind als früher.
Thiel: In Berlin ist eine rot-rot-grüne Koalition nicht zustande gekommen. Für den Bund könnte das nach dem 22. September eine Option sein. Ist eine Koalition mit der PDS für Sie völlig ausgeschlossen?
Kuhn: Also, für mich ist das ausgeschlossen. Ich halte davon überhaupt nichts. Die PDS würde keine Reformkoalition bedeuten. Ich sehe die PDS als ganz strukturkonservative Partei. Wenn die SPD 'X' fordert, fordert die PDS halt zwei X, das Geld kommt aus der Steckdose. Also, da ist überhaupt kein Modernisierungsbegriff unserer Gesellschaft da, und dazu kommt natürlich die Außenpolitik. Die PDS hat eine Außenpolitik, die ich nicht für verantwortbar hielte. Deswegen sind diese ganzen Fragen für mich nicht aktuell. Ich glaube, dass es so eine Koalition nicht geben wird. Und ich will daran erinnern: Meine Partei heißt 'Bündnis 90/Die Grünen', und Bündnis 90 heißt, es sind die Leute, die in der ehemaligen DDR die Revolution mit herbeigeführt haben. Wir werden deswegen nicht mit der PDS in die Koalition gehen.