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Kujat

Clement: Herr General Kujat, zwei Jahre waren Sie jetzt Generalinspekteur der Bundeswehr. In der nun folgenden Woche geben Sie das Amt an Ihren Nachfolger ab. Sie gehen zur NATO, werden dort Vorsitzender des NATO-Militärausschusses – eines Gremiums, in dem die Generalstabschefs der NATO zusammenarbeiten. Was ist Ihre Bilanz dieser Zeit als Generalinspekteur? Wie hinterlassen Sie die Bundeswehr Ihrem Nachfolger?

Rolf Clement |
    Kujat: Ja, wenn man eine so große Organisation wie die Bundeswehr betrachtet, ist es natürlich schwierig, ein umfassendes Urteil abzugeben. Aber vereinfacht gesagt: Ich gehe hier weg in der Gewissheit, dass die konzeptionellen Grundlagen für die neue Bundeswehr gelegt sind und dass die Reform, soweit sie jetzt umgesetzt ist, große Fortschritte macht. Wenn ich sage, die konzeptionellen Grundlagen sind gelegt, dann muss ich auf das zurückgehen, was ich häufig in der Vergangenheit gesagt habe – vereinfacht: Was macht diese Reform aus? Sie steht im wesentlichen auf zwei Säulen. Eine ist die Struktur und das Personal, die andere Säule ist das Material, die Ausstattung und Ausrüstung der Soldaten. Das ist konzeptionell alles richtig angelegt. Ich denke, das ist auch weitgehend akzeptiert – in der Bundeswehr sowieso, hundertprozentig, aber auch außerhalb.

    Wir haben eine neue Reservistenkonzeption geschrieben, die auch den Bedingungen, wie sie nach dem 11. September eingetreten sind, Rechnung trägt. Wir haben ein Material- und Ausrüstungskonzept. Wir haben ein Personalstrukturmodell. Die Struktur ist richtig angelegt, die Stationierungsentscheidungen sind getroffen. Das heißt, die konzeptionellen Grundlagen stehen – wenn Sie so wollen, kann ich das mit einer Metapher ausdrücken: Der Zug steht auf der Schiene, er rollt bereits kräftig, und jeder weiß, wohin es geht und wann wir am Ziel ankommen werden.

    Clement: Muss nicht nach den Erfahrungen des 11. September und des seitdem laufenden Anti-Terror-Kampfes – die Amerikaner sagen ‚Anti-Terror-Krieg‘ - die Konzeption nicht noch mal überdacht werden? Kann alles einfach so bleiben, wie Sie das konzipiert haben vor zwei Jahren?

    Kujat: Nein, das kann es nicht, darüber waren wir uns im klaren. Zum einen müssen bei jeder Reform, die so umfassend und so tiefgreifend ist wie diese, auch Zwischenschritte eingelegt werden, und bei diesen Zwischenschritten muss man sich überlegen, ob es Nachsteuerungsbedarf gibt in dem einen oder anderen Fall. Das ist völlig klar, das tritt immer auf. Das haben wir auch getan, und diese Nachsteuerung fiel zeitlich zusammen auch mit den Ereignissen des September, so dass wir beide Aspekte berücksichtigen konnten dabei. Wir haben aber auch eine Art Prüfschleife eingezogen – sowohl unter dem Gesichtspunkt, dass irgend etwas vergessen worden oder falsch gelaufen ist, und wir haben diesem Aspekt – 11. September – hinreichend Rechnung getragen. Das ist gemacht worden.

    Clement: Wo sind denn seit dem 11. September noch Veränderungen vorgenommen worden, in welche Richtung?

    Kujat: Ja, es sind bisher keine Veränderungen vorgenommen worden, sondern das bewegt sich alles im konzeptionellen Rahmen. Wir haben zum Beispiel einen gewissen Nachsteuerungsbedarf in der Durchhaltefähigkeit, im Hinblick auf die Einsätze, in der Führung . . .

    Clement: ... das heißt, die lange Stehzeit im Einsatzland ...

    Kujat: . . . nicht nur die lange Stehzeit im Einsatzland, sondern auch die logistische Versorgung, die Führungsfähigkeit. Da mussten wir natürlich etwas nachsteuern, weil wir nicht genügend Erfahrung hatten; die Erfahrung aus den Einsätzen ist hier mit eingeflossen. Also, das war ein ganz normaler Vorgang natürlich. Das andere – dieser 11. September – hat natürlich vor allen Dingen auch seinen Niederschlag in der neuen Reservistenkonzeption gefunden. Hier geht es darum, dass wir Fähigkeiten, die die Streitkräfte besitzen – und nur die Streitkräfte besitzen –, auch für solche Fälle – Angriffe auf das Heimatterritorium – zur Verfügung gestellt werden können. Ich sage ausdrücklich: Das heißt nicht, dass die Streitkräfte Polizeiaufgaben übernehmen sollen. Dafür sind sie nicht ausgerüstet, dafür sind die Streitkräfte auch nicht ausgebildet. Aber denken Sie nur beispielsweise an hoheitliche Aufgaben, wie die Überwachung des Luftraumes – und das, was man also in NATO-deutsch ‚Air-Policing‘ nennt. Das ist eine ganz wichtige Aufgabe, die noch wichtiger geworden ist nach dem 11. September – aber auch andere Bereiche.

    Für mich kam es auch darauf an, dass wir bei dem ja doch begrenzten Umfang der Streitkräfte - auch im Vergleich zu den Anforderungen, denen wir uns im Augenblick gegenübersehen - die Reservisten stärker mit einbeziehen, dass wir in der Lage sind, Spezialkenntnisse, über die die Reservisten verfügen, die aber die Streitkräfte im normalen Dienstbetrieb im Heimatstandort nicht benötigen, dass wir diese Spezialkenntnisse, diese Fähigkeiten, für die Einsätze verfügbar machen. Ich will das mal an einem Beispiel erläutern: Wenn wir beispielsweise in Prizren im Kosovo ein Wasserwerk für 22.000 Einwohner – einer mittleren Stadt – betreiben, dann tun wir das im Augenblick mit einem ABC-Abwehrbataillon. Das ist aber nicht speziell dafür ausgelegt. Aber wir haben Spezialisten im zivilen Bereich, die das hervorragend können. Warum sollen die das nicht im Einsatz übernehmen? Zu Hause im Standort macht das das normale Wasserwerk, denn da brauchen wir das nicht. Es wäre also unsinnig, hier Kräfte vorzuhalten für diesen Zweck. Das sind so Dinge, die hier Berücksichtigung gefunden haben.

    Clement: Wenn man die Frage der Umsetzung der Konzeption stellt, dann ist man sehr schnell bei der Finanzfrage. Das Bundeskabinett hat in dieser Woche den Haushalt verabschiedet. Sind Sie mit dem zufrieden?

    Kujat: Also, das ist keine Frage, ob man damit zufrieden sein kann oder nicht. Die Frage ist, ob man mit den Haushaltsansätzen unter den Rahmenbedingungen, unter denen wir diese Reform durchführen, diese Reform auch erfolgreich umsetzen können. Und wenn ich Rahmenbedingungen sage, dann meine ich beispielsweise die Einsätze. Die Einsätze kosten sehr viel Geld. Dieses Geld steht natürlich nicht für die Reform zur Verfügung. Der andere Aspekt – das ist das, was wir in der Wirtschaftlichkeit in den Streitkräften nennen, auch mehr Bewegungsspielraum für Investitionen – also das, was wir als Privatisierung oder outsourcing bezeichnen, die Pilotprojekte beispielsweise, das Liegenschaftsmanagement und anderes mehr. Hier ist die Frage, ob wir dieses zweifache Ziel – mehr Wirtschaftlichkeit und größere Freiräume für Investitionen – erreichen können, wann wir das erreichen und in welchem Umfang wir das erreichen. Insofern ist die Frage ‚ist der Haushalt ausreichend oder nicht?‘ nicht einfach mit ‚ja‘ oder ‚nein‘ zu beantworten, sondern es hängt davon ab, inwieweit die Rahmenbedingungen hier unterstützend wirken. Das ist die entscheidende Frage.

    Wir müssen also sicherlich hier noch etwas abwarten, um zu sehen, ob wir solche Rahmenbedingungen haben, dass eine erfolgreiche Umsetzung möglich ist. Ich denke, das ist ein von allen akzeptiertes Ziel. Auch der Minister hat ja häufig gesagt: ‚Dieses muss ein Erfolg werden – diese Frage der Wirtschaftlichkeit‘, und wenn das ein Erfolg wird, dann wird auch die Reform davon profitieren. Und das andere ist natürlich das Engagement in den Einsätzen. Ich denke, wir müssen versuchen, uns hier auch nach der Decke zu strecken, das heißt, wir müssen unser Engagement, wo immer das möglich ist, wo das politisch vertretbar ist, reduzieren. Das schafft uns Entlastung innerhalb der Bundeswehr, aber es reduziert natürlich auch die Ausgaben, und die stehen dann wiederum für die Reform zur Verfügung.

    Clement: Herr Kujat, vor knapp vier Jahren, als die rot-grüne Bundesregierung angefangen hat, sind Sie als Planungsstabschef mit Minister Scharping ins Verteidigungsministerium gegangen. Damals wurde eine Bestandsaufnahme gemacht, und in der Bestandsaufnahme wurde festgestellt, dass die Bundeswehr eigentlich damals schon mit jährlich fünf Milliarden Mark – hat man damals noch gerechnet – unterfinanziert ist. Das Stichwort ‚Unterfinanzierung‘ macht seither die Runde in allen sicherheitspolitischen Diskussionen. Es ist keiner mehr, der bestreitet, dass die Bundeswehr unterfinanziert ist. Vor diesem Hintergrund: Können Sie mit einem solchen Haushalt wirklich zufrieden sein?

    Kujat: Ich denke in anderen Kategorien, also ich denke nicht in Kategorien von Euro – muss ich ja jetzt sagen – oder jedenfalls nicht primär in Haushaltskategorien. Ich bin ja in erster Linie Planer. Ich bin der Gesamtverantwortliche für die Bundeswehrplanung. Das heißt, die Umsetzung der Reform konkretisiert sich in dem jeweiligen Bundeswehrplan. Und in diesem Bundeswehrplan ist auch festgelegt, welche Mittel jährlich benötigt werden, um die Reform umzusetzen. Und wie das dann präzise in Euro und Cent im Haushalt umgesetzt wird, das ist eine politische Frage, die ich nicht zu entscheiden habe, die ich auch nicht bewerten kann.

    Der Bundeswehrplan hat ja einen gewissen Forderungscharakter, und da gibt es natürlich immer eine gewisse Differenz zwischen dem, was planerisch notwendig ist und dem, was tatsächlich an Haushaltsmitteln zur Verfügung steht. Das ist übrigens nicht neu, das ist immer der Fall gewesen, solange es Streitkräfte gibt und solange es dieses Planungssystem gibt. Wenn Sie das betrachten und dieses beides gegeneinander setzen, dann ist in der Tat ein gewisses Delta zwischen dem Bundeswehrplan und dem Haushalt. Auf der anderen Seite darf man aber auch nicht vergessen, dass wir ja gerade aufgrund der Ereignisse des 11. September im Vergleich zu den ursprünglichen Ansätzen mehr Geld bekommen, und das wirkt sich natürlich durchaus positiv aus . . .

    Clement: ...aber es bleibt unterhalb der Marsche, die Sie damals...

    Kujat: . . . es bleibt unterhalb der Ansätze, die wir nach dem Bundeswehrplan für erforderlich halten. Das muss man ganz klar sagen. Aber dieser gesamte Planungsvorgang ist äußerst komplex. Man darf da auch nicht vergessen – gerade im Vergleich zur Bestandsaufnahme –, dass wir ja auch erhebliche Eingriffe in die Planung vorgenommen haben, in die alte Planung – sage ich jetzt einmal. Wir haben für erhebliche Beträge Vorhaben – Rüstungsvorhaben – aus der Planung herausgenommen, Vorhaben, die entweder überholt waren, weil sie nicht mehr auf dem neuesten Stand der Entwicklung sind oder weil sie nicht mehr in das künftige Fähigkeitsprofil hineinpassen. Also, man kann jetzt diese Bestandsaufnahme nicht einfach linear fortschreiben, sondern man muss diese beiden Aspekte in jedem Fall mit berücksichtigen.

    Aber die Bestandsaufnahme ist immer noch lesenswert. Ich kann die Lektüre nur jedermann empfehlen, denn sie zeigt, wo wir begonnen haben. Sie zeigt auf der einen Seite doch die erheblichen Fortschritte, die wir gemacht haben. Sie zeigt aber auch, dass nicht alles, was wir in der Vergangenheit als Defizite festgestellt haben, beseitigt ist. Das war auch nicht zu erwarten, denn der Zeithorizont, den wir uns gesetzt haben, ist ja bis 2006 zunächst für den Kern der Reform. Aber gerade im Bereich der Ausrüstung - aber auch im Bereich des Personals geht der Zeitansatz ja weit über 2006 hinaus.

    Clement: Wenn man zurückblickt auf die Zeit als Generalinspekteur und praktisch aus der nationalen Ebene ausscheidet und in die internationale Ebene geht, würde mich Ihre Antwort auf die Frage interessieren, wie politisch eigentlich ein Generalinspekteur der Bundeswehr sein darf. Sie haben gerade die Konzeption doch verteidigt, auch gesagt, mit dem Haushalt können Sie leben. Das könnte Ihnen den Vorwurf einhandeln, als ob Sie der Regierung, in der Sie jetzt ja noch mitwirken – noch diese Woche – doch sehr nahe stehen. Sie haben auf der Kommandeurtagung eine Formulierung benutzt, dass Sie dem Bundeskanzler Glück wünschen in diesem Jahr. Wo ist die Grenze, wo ein Generalinspekteur zum politischen Akteur wird?

    Kujat: Der Generalinspekteur ist zunächst Soldat wie jeder andere, er ist ‚Staatsbürger in Uniform‘. Und es ist eine gute Tradition, dass die Soldaten auch ihre Meinung sagen dürfen. Also, wir haben in der Bundeswehr ein sehr offenes Klima. Das ist Teil der Inneren Führung. Das bedeutet, dass wir auch die Dinge, um die es geht, ausdiskutieren. Natürlich, wenn eine Entscheidung getroffen ist, dann wird diese Entscheidung so umgesetzt, wie sich das für Soldaten gehört. Aber zunächst einmal muss man auch offen darüber reden können. Das ist das eine. Der Generalinspekteur ist nun in einer besonderen Situation. Ich persönlich bin der Meinung, ein Generalinspekteur sollte nicht politisch im Sinne von parteipolitisch agieren. Ich glaube auch nicht, dass ich das getan habe – zu keinem Zeitpunkt. Er ist natürlich verpflichtet zur Loyalität, das ist eine Selbstverständlichkeit – zur Loyalität gegenüber der Regierung. Er ist auch kein politisch Handelnder, sondern er führt aus, was die Politik sagt; man bezeichnet das ja gemeinhin als den Primat der Politik.

    Der Generalinspekteur sollte also politisch unabhängig sein. Diese Unabhängigkeit bedeutet aber natürlich auch, dass er ab und zu mal in die Situation gerät, dass er etwas sagt, was der einen Seite nicht gefällt, und am nächsten Tag sagt er etwas, was der anderen Seite nicht gefällt. Wenn das so ist, dann ist das in Ordnung - meine ich. Im übrigen muss der Generalinspekteur immer beachten bei allem, was er sagt, dass er nicht nur nach außen spricht, sondern zugleich immer nach innen, in die Bundeswehr hinein. Und die Soldaten müssen von ihm erwarten, dass er eine eigene Meinung hat, dass er die Interessen der Streitkräfte vertritt, dass er natürlich loyal handelt gegenüber der politischen Führung, aber dass er auch – und das wiederhole ich noch mal – im Sinne der Sache Position bezieht.

    Ein Generalinspekteur, der nicht Fisch noch Fleisch ist, ist weder für die Regierung ein Gewinn noch für die Streitkräfte. Ich habe mich immer bemüht, die Dinge beim Namen zu nennen - mit der gebotenen Form natürlich, aber meine Soldaten wussten immer, wo ich stand. Und sie konnten sich auch darauf verlassen, dass das Urteil, das ich abgegeben habe über den Zustand der Streitkräfte und über den Stand der Reform, über die Erfolgsaussichten und über das, was notwendig ist oder über das, was erreicht wurde, dass das alles den Realitäten entsprach und auch mit ihrer persönlichen Erfahrung übereinstimmte.

    Clement: Nun wird ja immer wieder im politischen Bereich, gerade jetzt im Wahlkampf, von der Opposition gesagt, diese Reform ist so nicht finanzierbar. Sie brauchen stärkere Unterstützung – politisch wie finanziell. Ist das nicht ein Punkt, wo Sie sagen: Menschenskinder, das sind meine Verbündeten!

    Kujat: Nein, das können nicht meine Verbündeten sein. Wenn das so wäre, dann wäre ich ein politisch Handelnder. Ich mache mir natürlich meine eigene Meinung, wie jeder andere Staatsbürger auch – über das, was ich lese an Parteiprogrammen und ähnliches. Und einiges gefällt mir, anderes nicht. Aber ich kann nicht parteipolitisch Stellung beziehen. Ich kann in der Sache mit jedem reden, das tue ich auch, und ich kann erläutern, was ich aus militärischer Sicht für erforderlich halte. Und wenn dann der eine sagt ‚ja, das finde ich richtig und so sollten wir es auch machen‘, dann freue ich mich darüber, das ist völlig klar. Aber ich kann nicht parteipolitisch Position beziehen für die eine oder andere Partei. Meine Position ist eine neutrale, meine Position ist eine Position für die Streitkräfte und ist nicht die Position für eine bestimmte politische Richtung.

    Clement: Immer wieder wird von der Opposition der Vorschlag unterbreitet, das Einsatzgebiet der Bundeswehr doch dahingehend zu überprüfen, dass man sie auch im Inneren einsetzt. Gibt es nicht Bereiche, wo man sagt, diese Trennung zwischen äußerem Einsatz und innerem Einsatz ist eigentlich unsinnig? Ich denke zum Beispiel an den Bereich der ABC-Abwehr. Die Bundeswehr ist anerkanntermaßen international sehr qualifiziert im Bereich der Abwehr von biologischen und chemischen Kampfstoffen, in Kuwait steht sogar eine deutsche Einheit deswegen – zumindestens das Gerät. Im Inland macht das das Technische Hilfswerk oder die Feuerwehr. Ist das nicht eine Sache, die eigentlich unsinnig ist? Wäre es nicht besser, man würde nach Aufgaben orientiert die Bundeswehr dann auch entsprechend dieser Aufgaben sie im Inneren einsetzen?

    Kujat: Wir verfolgen bei der Reform einen fähigkeitsorientierten Ansatz. Das heißt, wir streben an, die Fähigkeiten herzustellen, die notwendig sind, um die Aufgaben erfüllen zu können, die uns politisch gestellt sind. Das ist der Sachzusammenhang, um den es geht. Werden die Aufgaben geändert, müssen wir natürlich auch die entsprechenden Fähigkeiten bereitstellen. Aber die Aufgaben sind politisch vorgegebene Aufgaben - ich sage jetzt einmal als Beispiel Landesverteidigung, Teilnahme an Krisenoperationen und ähnliches mehr, ich will jetzt nicht die ganze Bandbreite hier darstellen. Diesen engen Zusammenhang muss man betrachten. Und natürlich könnte man sagen – das ist ja auch in Ihrer Frage enthalten -: Müsste man nicht die Aufgaben jetzt nach den Fähigkeiten definieren?

    Das würde ich für falsch halten. Wir können sicherlich einiges beitragen – ich habe das ja auch am Anfang schon erwähnt –, beispielsweise in der ABC-Abwehr. Ich habe auch gesagt, die Frage der Lufthoheit ist ein ganz wichtiges Thema, auch im Zusammenhang mit den neuen Risiken. Dies sind Fähigkeiten, die vorhanden sind. Und wenn die politische Entscheidung getroffen wird, sie einzusetzen, dann sind wir auch in der Lage, sie einzusetzen. Aber man muss – glaube ich – diese Dinge sehr, sehr sauber differenzieren, weil sehr leicht hier ein Zungenschlag reinkommt, entweder von der einen oder von der anderen Seite, nämlich der: Die Bundeswehr soll im Innern eingesetzt werden – dann denkt jeder: ‚Aha, das sind Polizeiaufgaben‘. Das würde ich für völlig falsch halten. Wir haben eine wirkungsvolle Polizei, und wenn sie für die Risiken, die bestehen, nicht ausreicht, dann muss man eben dort nachsteuern. Die Bundeswehr kann sozusagen hier nicht als Platzhalter eintreten.

    Also, man muss sehr sorgfältig betrachten, um welche Risiken es geht, welche Fähigkeiten dafür benötigt werden und wer sie am besten beisteuern kann. Und ich sagte ja bereits: Es gibt diese Fähigkeiten in den Streitkräften, und es gibt auch Regelungen für den Einsatz der Bundeswehr im Innern – zum Beispiel bei Katastrophenfällen. Da haben wir ja auch häufiger in der Vergangenheit einen ganz großartigen Beitrag geleistet. Das sicherheitspolitische Umfeld hat sich geändert, die Bundeswehr wäre ja nach den Notstandsgesetzen früher auch im Innern eingesetzt worden im Falle eines Krieges, das muss man im Hinterkopf haben. Diese Bedingung ist jetzt nicht gegeben.

    Wenn man sagt, wie die Amerikaner das beispielsweise machen, dass der Begriff der Verteidigung so zu definieren ist, dass es nicht nur um die Abwehr eines Angriffs von außen geht – also sozusagen eines konventionellen Krieges, sondern wenn es auch darum geht, einen Angriff im Innern, der auch von außen kommt, abzuwehren, dann muss man eben sehen: Wer könnte das am besten, welche Fähigkeiten werden dazu bereitgehalten? Und ich denke, dass das ein Punkt ist, über den man sehr sorgfältig nachdenken muss. Ich persönlich bin der Meinung, dass die Frage der Bedrohung durch den Terrorismus ein Aspekt ist. Das größte Risiko sehe ich eigentlich in der Kombination von terroristischen Aktionen im Zusammenhang mit Massenvernichtungswaffen, und da sehe ich das Risiko insbesondere bei biologischen Waffen. Wenn sich dieses Risiko einstellen sollte – das ist im Augenblick nicht der Fall, das muss ich immer dazu sagen –, aber wenn dieses ein konkretes Risiko, eine konkrete Bedrohung werden sollte – ich glaube, dann muss man über diese Frage noch einmal sehr sorgfältig nachdenken. Aber es geht nicht pauschal. Einsatz im Innern ist keine Antwort, sondern man muss es sehr differenziert betrachten.

    Clement: Herr Kujat, was treibt einen General, der Generalinspekteur der Bundeswehr ist, zur NATO zu gehen – zu eine Organisation, der vorgehalten wird, sie werde immer bedeutungsloser, sie spiele vor allem militärisch keine Rolle mehr, weil die Amerikaner alles mit speziell zusammengestellten Koalitionen machen. Was treibt Sie nach Brüssel?

    Kujat: Nun ja, ich teile diese Einschätzung nicht. Auch hier muss man sehr sorgfältig differenzieren. Es ist richtig, dass die NATO als Organisation im Kampf gegen den Terrorismus nicht in Erscheinung tritt. Aber das ist die eine Seite. Die Nordatlantische Allianz – das ist das Bündnis der Mitgliedsstaaten – die Nordatlantische Allianz ist sehr aktiv an der Bekämpfung des Terrorismus beteiligt, die Mitgliedsstaaten nämlich. Wenn Sie betrachten, welche Staaten Streitkräfte zum Beispiel in Afghanistan stellen, dann sind das fast ausschließlich NATO-Staaten. Die Fähigkeiten des Bündnisses sind viel breiter angelegt, und niemand weiß, welche Risiken uns morgen oder übermorgen bevorstehen. Und ich denke, die Allianz ist immer eine Versicherung gewesen gegen die Unbilden der Zukunft, die man nicht präzise voraussagen kann – und sie hat das sehr erfolgreich gemacht, und sie wird das auch in den nächsten Jahrzehnten noch erfolgreich tun.

    Clement: Die NATO hat einigen Mitgliedsländern, auch Deutschland, immer wieder ins Stammbuch geschrieben, sie müssten etwas mehr für die Verteidigung aufwenden, etwas mehr tun. Wenn wir uns in einem halben Jahr zum nächsten Interview verabreden, wird dann der Vorsitzende des Militärausschusses der NATO, General Kujat, den Deutschen auch sagen: ‚Ihr müsst mehr Mittel bereitstellen für die Verteidigung‘?

    Kujat: Wenn dies notwendig ist, werde ich das sagen. Ich bin ja dann in einer Funktion, die neutral ist sozusagen gegenüber allen Mitgliedsstaaten. Es ist richtig, die Europäer müssen insgesamt mehr tun. Ich meine jetzt also nicht nur Deutschland, sondern ich meine die Europäer insgesamt. Wir müssen mehr aufwenden, um unsere Streitkräfte zu modernisieren. Sie müssen flexibler werden, schneller verlegbar. Das Szenario hat sich geändert, die Herausforderungen sind andere als sie noch vor 10 Jahren waren. Und wir müssen uns auf diese neuen Herausforderungen einstellen.