Kujat: Die Schwerpunkte liegen in drei Bereichen: Einmal in der Verbesserung unserer militärischen Fähigkeiten insgesamt, dann ganz speziell natürlich in der Entscheidung, aber auch Vorbereitung der Entscheidung für eine neue NATO-Response-Force, wie es bei uns heißt, und dazu gehören allerdings auch dann kollektive und gemeinsame Fähigkeiten, die das unterstützen, und drittens in einer Verbesserung der NATO-Kommandostruktur, der Führungsstruktur, die reaktionsfähiger sein soll, die Hauptquartiere haben soll, die schnell verlegbar sind und die insgesamt auch flexibler ist.
Clement: Sehen Sie eigentlich nach den Ereignissen auch vom 11. September vergangenen Jahres, aber auch nach den Entwicklungen, die es seit dem letzten NATO-Gipfel 1999 gegeben hat, auch einen Nachsteuerungsbedarf in der Strategie?
Kujat: Nein, das sehe ich nicht. Wenn man rückblickt, dann ist das erstaunlich zu sehen, wie weitsichtig damals unsere Staats- und Regierungschefs waren im April 1999 in Washington. Die damals verabschiedete Strategie ist sehr flexibel, sie deckt das gesamte Spektrum der Herausforderung ab, und sie enthält auch eine gewisse Vorsorge gegenüber einer Bedrohung, die damals noch nicht so deutlich jedenfalls war, nämlich der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus.
Clement: Nun wird im Zusammenhang mit der gesamten Irak-Diskussion ja die Frage allgemein diskutiert, ob es nicht notwendig ist, dass ein Bündnis wie die NATO auch vorbeugend eingreifen kann. Also das Szenario: Sie erkennen einen möglichen Gegner, der Waffen aufhäuft, die Sie bedrohen – die ein NATO-Land bedrohen. Darf man in einem solchen Fall 'preemptive strikes', also vorbeugend losschlagen? Die NATO-Strategie sagt bisher: Die NATO setzt Waffen nicht als erste ein. Ist das nicht ein Thema, über das Sie mal diskutieren müssten in der Allianz?
Kujat: Ich glaube, das Ganze ist etwas komplexer. Wenn wir über die Herausforderung oder die Risiken sprechen, dann gibt es mehrere Möglichkeiten, sich darauf vorzubereiten und darauf zu antworten. Wir sprechen ja insbesondere auch über die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägermittel, auch über den internationalen Terrorismus. Und da gibt es aus meiner Sicht drei Ansätze, um diesen Risiken zu begegnen. Der eine Ansatz ist eine effektive, also eine wirksame Rüstungskontrolle, insbesondere gerade im Hinblick auf die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägermittel. Der zweite Ansatz ist nach wie vor die Fähigkeit, einen Angriff abzuschrecken, das heißt, einen möglichen potentiellen Gegner zu demotivieren, das heißt auch, die Fähigkeit, zurückzuschlagen. Und das Dritte ist auch die Abwehr, die Fähigkeit zur Abwehr gegenüber ballistischen Trägersystemen, beispielsweise die mit Massenvernichtungswaffen bestückt sind. Und was hinzukommt in jedem Fall ist eine Vorsorge oder auch die Möglichkeit des Schutzes gegenüber solchen Systemen. Man muss hier auch berücksichtigen, dass es eben nicht nur um die militärischen Kräfte geht, die geschützt werden müssen, sondern wir haben ja bei dieser neuen Bedrohung auch zu gegenwärtigen, dass es auch um den Schutz unserer Zivilbevölkerung geht.
Clement: Ja, aber das ist die Schutzkomponente. Die andere Komponente ist die Frage: Werde ich auch aktiv gegen einen möglichen Gegner, letztlich auch natürlich offensiv aktiv gegen einen möglichen Gegner. Es ist die Frage, ob sich die NATO einer solchen Diskussion nicht stellen muss. Oder ist die Tatsache, dass man darüber nicht diskutiert, auch eine Entscheidung?
Kujat: Na, es ist im Augenblick jedenfalls kein Thema. Ich sagte ja, die Fähigkeit zur Abschreckung beinhaltet auch die Fähigkeit, einen solchen Angriff abzuwehren. Das heißt, das ist natürlich eine offensive Fähigkeit. Die Frage, wann diese offensive Fähigkeit eingesetzt wird und unter welchen Bedingungen, ist eine sehr komplexe Frage. Sie hat einen völkerrechtlichen Aspekt, sie hat natürlich auch einen hoch politischen Aspekt. Dies ist jedenfalls nicht Bestandteil der NATO-Strategie und ist auch kein Thema, das hier diskutiert wird.
Clement: Sind Sie der Meinung, dass die NATO, wenn sie es denn wollte, einen solchen präventiven Schlag führen könnte?
Kujat: Das hängt ganz davon ab, welcher Art diese Bedrohung ist, das hängt davon ab von der Geographie natürlich. Da sind also sehr viele Aspekte mit einzubeziehen. Diese Frage kann man nicht generell mit Ja oder Nein beantworten.
Clement: Herr Kujat, Sie sprachen an militärische Fähigkeiten. Die NATO hat 1999 auf dem Gipfel in Washington ein großes Paket von Maßnahmen beschlossen, die die Fähigkeit nach vorne bringen sollten. Dieses hat nicht richtig funktioniert, die Länder haben das nicht umgesetzt. Woher nehmen Sie die Erwartungen und den Mut, dass Sie jetzt das, was Sie in Prag beschließen, auch wirklich umsetzen können?
Kujat: Wir haben natürlich aus den Erfahrungen gelernt. Es ist richtig: Wir haben im April 99 erwartet, dass die NATO-Mitgliedsstaaten das, was die Staats- und Regierungschefs dort ganz allgemein zugesagt haben, auch dann in die Realität übersetzen würden, also in konkrete Fähigkeiten übersetzen würden. Man muss auch bedenken dabei, dass dieser Schritt, dass man also die Defizite – das war ja eine Defizitanalyse, die wir gemacht haben, dass man sich an die Staats- und Regierungschefs wendet und sie bittet, nun gegenzuhalten und zu versuchen, diese Defizite zu beseitigen. Das ist schon ein großer Schritt. Aber Sie haben recht: Das Ergebnis ist enttäuschend. Wir haben sicherlich in einigen Feldern Verbesserungen erreicht, aber insgesamt ist es enttäuschen. Das muss man ganz klar feststellen. So, was haben wir daraus gelernt? Wir haben daraus gelernt zwei Dinge. Erstens: Man muss die Felder, in denen eine Verbesserung dringend notwendig ist, präziser formulieren, und man darf die Bandbreite der erwarteten Verbesserungen nicht zu groß machen. Deshalb haben wir zwölf Felder identifiziert, in denen strategische Defizite bestehen. Und wir haben ein weiteres getan. Wir haben in Vorbereitung des Prager Gipfels die Nationen gebeten, uns zu sagen, was sie zu tun beabsichtigen, um diese Defizite zu beseitigen. Wir sind auch noch einen Schritt weiter gegangen, indem wir einzelne Nationen ganz speziell auf bestimmte Bereiche hingewiesen haben, in denen diese Nationen Verbesserungen vorzunehmen haben. Und ich denke, das ist nun eine andere Situation als 1999. Wir haben einen recht guten Überblick darüber, was getan werden muss, aber auch, was die Nationen zu leisten bereit sind. Insofern ist die Lage anders als 1999.
Clement: Aber Sie gehen davon aus, dass die Zusagen jetzt auch haushaltsmäßig abgedeckt sind. Nehmen wir nur die deutsche Diskussion. In Deutschland wird darüber diskutiert, dass man den Verteidigungshaushalt weiter runterfährt. Es wird eigentlich fast nur noch über die Höhe diskutiert. Ist das ein Signal, wo Sie sagen: Damit können wir exakt diese Prager Fähigkeitsinitiative umsetzen?
Kujat: Solange die einzelnen Staaten – und ich will hier nicht speziell auf Deutschland abheben, sondern ich möchte das ganz allgemein formulieren – solange die Staaten die Erwartungen, die wir in sie setzen, erfüllen, ist es natürlich zweitrangig zunächst mal, wie sie ihren eigenen Haushalt organisieren. Richtig ist allerdings auch, dass wir ganz allgemein mit sinkenden Verteidigungshaushalten nicht in der Lage sein werden - auf Dauer jedenfalls -, die militärischen Fähigkeiten zu erreichen, die wir brauchen, um mit den neuen Risiken fertig zu werden.
Clement: Greifen wir mal einen Bereich heraus, der immer wieder diskutiert wird: Transportmöglichkeit. Es gibt ein multilaterales Projekt, den Airbus A 400, der ab 2008 zugeliefert werden soll, langsam aufwachsen soll. Das Defizit ist aber schon heute da. Nun gibt es einen deutschen Vorschlag, wenn ich das richtig mitbekommen habe, als Übergangslösung multinational auf Leasingbasis so etwas zu machen. Was halten Sie davon?
Kujat: Das ist kein deutscher Vorschlag, sondern das ist ein NATO-Vorschlag, und Deutschland hat sich bereiterklärt, hier eine Führungsrolle zu übernehmen, so wie andere Staaten sich bereiterklärt haben in anderen Bereichen, wo wir multinationale oder gemeinsame NATO-Lösungen anstreben. Es ist richtig, wir haben einen kurzfristigen Bedarf an strategischer Lufttransportkapazität, und wir müssen die Zeit bis zum Jahre 2009 - und darüber hinaus auch, denn 2009 beginnt ja erst der Zulauf dieses Flugzeuges - wir müssen diese Zeit überbrücken. Und ich denke, das ist ein Ansatz, der Sinn macht.
Clement: Sehen Sie auch, dass das durchsetzbar ist, politisch und auch von der praktischen Seite her?
Kujat: Ja, ja. Ich sehe sehr wohl, dass das durchsetzbar ist. Das ist überhaupt ein Ansatz, für den ich seit langem schon werbe, nämlich dass wir als erste Priorität unsere gemeinsamen Fähigkeiten, die kollektiven Fähigkeiten in der Allianz verbessern. Das hat den Vorzug, dass sich auch kleinere Staaten daran beteiligen können mit einem geringeren finanziellen Anteil, aber diese Fähigkeit allen Staaten zur Verfügung steht und natürlich der Allianz insgesamt. Die zweite Priorität ist für mich, dass wir mehrere Staaten in einem multinationalen Ansatz dazu bewegen, kollektive Fähigkeiten bereitzustellen. Nicht jeder Staat kann sich an allen Projekten beteiligen, aber wir haben auch andere Staaten neben Deutschland beispielsweise, die eine Führungsrolle übernommen haben in einem gemeinsamen Projekt, beispielsweise in der Luftbetankung oder aber auch im Erwerb von Präzisionsmunition. Hier gibt es sehr vielversprechende Ansätze.
Clement: Führt das im Ergebnis dazu, dass man die Streitkräfte der NATO-Staaten noch enger verzahnt?
Kujat: Ja, das ist eindeutig unsere Absicht. Wir wollen zum einen natürlich die europäischen Fähigkeiten stärken. Wir wollen die Streitkräfte so strukturieren, so ausbilden und auch so ausrüsten, dass sie mit den neuen Herausforderungen fertig werden, dass sie geeignet sind, auch mit den Risiken, die vor uns stehen, zurechtzukommen. Aber wir wollen vor allen Dingen auch in der Lage sein, in Zukunft transatlantisch enger zusammenzuarbeiten. Sie wissen, dass die Vereinigten Staaten ihre Streitkräfte modernisieren, und zwar in einem Ausmaß auch, das für europäische Verhältnisse völlig außerhalb jeder Diskussion ist. Aber wir müssen natürlich gemeinsam operieren können und müssen also zumindest in den wesentlichen Bereichen die gleichen Fähigkeiten erwerben wie die Soldaten in den Vereinigten Staaten.
Clement: Gehen wir noch mal auf das europäische Szenarium. Ist das der erste Tippelschritt zu einer europäischen Armee?
Kujat: Nein, was wir vorhaben mit der NATO-Response-Force ist nicht der erste Schritt zu einer europäischen Armee. Wie Sie wissen, es gibt auch in der Europäischen Union den Ansatz zu einer Rapid-Reaction-force . . .
Clement: . . . was ja die gleichen Truppenteile sein können, die nur mal den einen, mal den anderen Hut aufhaben . . .
Kujat: . . . völlig richtig. Wir wollen ja nicht den Anteil der Soldaten vermehren, sondern wir wollen die Fähigkeiten der vorhandenen Truppenteile verbessern. Insofern ist das auch kein Gegensatz zu der europäischen Lösung, sondern die Kräfte, die von uns in einen höheren Einsatzbereitschaftszustand versetzt werden, die besser ausgerüstet werden, besser ausgebildet werden, stehen natürlich auch der Europäischen Union für Einsätze zur Verfügung. Also das heißt, sie werden entweder in der strategischen und politischen Verantwortung der NATO eingesetzt oder in der der Europäischen Union. Das Gleiche gilt im Übrigen auch für die kollektiven Fähigkeiten der Allianz. Wir sollten nicht vergessen, dass wir daran arbeiten, diese Fähigkeiten der Europäischen Union zur Verfügung zu stellen. Das ist im Augenblick noch nicht möglich aus den Gründen, die bekannt sind, aber alles, was wir investieren in kollektive Fähigkeiten der NATO, steht auch, sobald die politischen Voraussetzungen dafür geschaffen sind, auch der Europäischen Union zur Verfügung.
Clement: Aber dass eine solche engere Verzahnung, wie Sie sie beschrieben haben in der vorletzten Antwort, dann dazu hinführt, dass man irgendwann auch mal die Armeen zusammenführen kann in einer fernen Zukunft, sehen Sie nicht so?
Kujat: Also, ich will nicht spekulieren, es kommt darauf an, wie weit man in die Zukunft schaut. Ich denke, die wichtigste Voraussetzung für eine europäische Armee muss politisch geschaffen werden. Militärisch ist das eine Frage, wie man das organisiert und wie man das strukturiert. Aber die politischen Voraussetzungen müssen natürlich dafür vorhanden sein, und das sehe ich im Augenblick noch nicht.
Clement: Wenn man die Aufgabenbeschreibung für die EU-Eingreiftruppe sich anguckt und dann das, was bisher bekannt ist über die NATO-Response-Force, dann stellt man Unterschiede fest. Die EU-Eingreiftruppe ist für friedensschaffende, friedenserhaltende und humanitäre Maßnahmen, die NATO-Response-Force soll das gesamte Spektrum abdecken. Gibt es daraus nicht Friktionen zwischen der EU und der NATO?
Kujat: Nein, es gibt keine Friktionen, weil die Truppe für den jeweiligen Einsatz, für die jeweilige Mission ja zusammengestellt wird, und zwar zurechtgeschnitten wird sozusagen auf die spezielle Aufgabe. Das heißt, man greift in einen Pool von Verbänden und sucht sich die Verbände heraus, die für den jeweiligen Auftrag am besten geeignet sind.
Clement: Das sieht man in Washington genau so?
Kujat: Das sieht man in Washington ganz genau so. Ich muss allerdings hier hinzufügen: Es soll ja nicht bei dieser NATO-Response-Force bleiben, sondern unsere Absicht ist es natürlich, insgesamt die Fähigkeiten unserer Streitkräfte zu verbessern. Das heißt, wir setzen mit dieser NATO-Response-Force einen Standard, und ich hoffe, dass wir in der Zukunft dann unsere eigenen Kräfte, die diesen Standard haben, immer erweitern können. Das ist natürlich eine ganz wichtige Voraussetzung. Es kommt noch ein anderer Unterschied hinzu, und zwar ist das der, dass diese NATO-Response-Force ausgebildet und auch ausgerüstet wird nach Standards, die von den NATO-Militärbehörden gesetzt werden. Wir wollen einen einheitlichen Standard haben in der Leistungsfähigkeit. Das ist neu. Das heißt nicht, dass nun die spanischen Verbände exakt die gleichen Waffensysteme haben müssen wie die britischen oder die amerikanischen, aber die Qualität muss gleich sein. Und wir werden am Ende dieses Prozesses, sobald wir damit begonnen haben, auch eine Art Zertifizierung durchführen. Das heißt, nur die Verbände, die die Voraussetzung erfüllen, um in dieser NATO-Response-Force eingesetzt werden zu können, werden auch zugelassen.
Clement: Da steht natürlich wieder sofort die Frage nach der Absicherung einer solchen Maßnahme durch die nationalen Haushalte. Sehen Sie auch das gegeben?
Kujat: Also ich denke mal, natürlich erfordert das Mittel. Das steht ja völlig außer Frage. Aber es ist auf der anderen Seite ein sehr pragmatischer Ansatz. Wir fordern ja nicht, von heute auf morgen alle Streitkräfte, die möglicherweise der NATO zur Verfügung gestellt werden könnten, einheitlich auszurüsten und einheitlich auszubilden, sondern wir machen einen Anfang, und wir hoffen, dass aus diesem Anfang über die Jahre mehr wird. Das heißt also, wir tragen schon in diesem Ansatz der Tatsache Rechnung, dass eine dramatische Steigerung der europäischen Verteidigungshaushalte, jedenfalls kurzfristig, nicht zu erwarten ist.
Clement: Herr Kujat, der NATO-Gipfel wird auch wahrscheinlich sieben neue Mitglieder auffordern, sich auf eine NATO-Mitgliedschaft vorzubereiten oder sie einladen zu einer solchen NATO-Mitgliedschaft. Ist das militärisch verkraftbar?
Kujat: Ja, ich denke, wir sind gut vorbereitet. Es stellen sich zwei Herausforderungen hier aus militärischer Sicht. Die eine Herausforderung ist die, dass wir in der Lage sind, die Streitkräfte der eingeladenen Staaten, die dann Mitglied werden – ich weiß nicht, wieviel das sein werden, aber wieviel es auch immer sein mögen – zu integrieren, in die NATO-Strukturen zu integrieren, in die NATO-Kommandostruktur zu integrieren, in die NATO-Streitkräftestruktur zu integrieren. Die Voraussetzungen dafür sind geschaffen, und sie werden weiter verbessert mit einer Anpassung der Kommandostruktur. Ich denke, auch da werden in Prag die Weichen gestellt. Die zweite Herausforderung ist die, dass die Staaten selbst und ihre Streitkräfte so vorbereitet werden, dass sie nahtlos integriert werden können. Dazu haben wir seit Jahren den sogenannten 'membership-action-plan'. Das ist ein Programm, mit dem wir – natürlich beratend und Hinweise gebend – versuchen, Einfluss auf die Entwicklung der Streitkräfte zu nehmen. Das läuft äußerst positiv. Sicherlich ist da noch einiges zu tun, aber ich denke, auch auf der Seite der potentiellen Mitgliedsstaaten sind die Weichen in die richtige Richtung gestellt.
Clement: Wenn man mit dem einen oder anderen in der NATO-Zentrale spricht, dann sagt der, es gibt da doch gewaltige Unterschiede zwischen den jetzigen Bewerberländern, und aus militärischer Sicht sind sie noch nicht alle auch nicht annähernd so weit, dass sie etwas beitragen können zur Sicherheit, was immer ein Kriterium war. Ist es wirklich richtig, alle jetzt gleichzeitig in einem Schritt aufzunehmen? Wäre es nicht besser, da nochmal eine neue Zwischenstufe dazwischen zu schalten?
Kujat: Die militärischen Fähigkeiten sind ja nicht das ausschließliche Kriterium, sie sind nicht einmal das primäre Kriterium, sondern der Erweiterungsprozess ist ein politisch dominierter Prozess. Die militärischen Fragen sind eigentlich sekundär. Ich würde auch dieses Urteil in dieser allgemeinen Form nicht teilen. Es ist richtig, dass diese Länder noch einen weiten Weg zu gehen haben, bis sie den Standard erreichen, den die bisherigen NATO-Mitgliedsstaaten haben. Aber sie sind durchaus in der Lage, viele von ihnen, in Spezialbereichen einen durchaus wirkungsvollen Beitrag zu leisten. Das macht nicht die Masse aus, aber es sind doch bestimmte spezielle Fähigkeiten bei dem einen oder anderen vorhanden, die wir sehr gut in das allgemeine Fähigkeitspotential der NATO integrieren können.
Clement: Können Sie sich vorstellen, dass sich 19 Staats- und Regierungschefs in Prag treffen, ohne dass der Irak eine Rolle spielt?
Kujat: Also, ich weiß das nicht, ob das der Fall sein wird. Aber ich denke mal, dies ist ein Thema, das allgemein auf der Tagesordnung steht. Es ist ein Thema, das die Sicherheit aller unserer Staaten berührt – die Frage des Besitzes von Massenvernichtungswaffen, auch die Frage des Terrorismus. Ich denke einmal, dass die Staats- und Regierungschefs an dieser Frage nicht vorbeikommen werden. Ob dies der Fall sein wird, weiß ich nicht.
Clement: Haben Sie aus den Präsentationen, die die Amerikaner zum Beispiel bei dem Verteidigungsminister-Treffen in Warschau gegeben haben, für die NATO eine eigene Bedrohungsanalyse erstellt, die Sie den Staats- und Regierungschefs vorlegen können?
Kujat: Ich denke, es ist nicht die Absicht, über Risikoanalysen dort zu sprechen. Wir beobachten die Situation ja permanent und laufend, und die NATO-Mitgliedsstaaten werden auch über unsere eigenen Erkenntnisse informiert. Also, das ist ein permanenter Prozess, und ich denke nicht, dass nun in Prag eine besondere Gelegenheit ist, um diese Dinge anzusprechen. Aber selbstverständlich ist jeder Staat frei, ein Thema auf die Tagesordnung zu setzen und mit den Kollegen aus den anderen Staaten zu diskutieren.
Clement: Wie würden Sie aus den Ihnen vorliegenden Informationen die Bedrohungslage zur Zeit definieren?
Kujat: Sie meinen der NATO – oder . . .
Clement: . . . in bezug auf Irak.
Kujat: Also, ich spreche ungern über Bedrohungen. Ich spreche lieber über Risiken, und in der Tat ist das, was wir wissen, was im Irak passiert ist bis 1998, also bis die Inspektoren das Land verlassen haben, ist das schon ein Anlass zu erheblicher Sorge. Was wir nicht wissen oder was wir jedenfalls nicht präzise wissen, ist, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat. Deshalb ist es ja so dringlich, dass diese Inspektionen wieder aufgenommen werden und dass Klarheit geschaffen wird, aber mehr noch: Dass dann auch tatsächlich die Massenvernichtungswaffen, die bis 1998 nicht vernichtet worden, auch die Trägermittel, die bis 1998 nicht vernichtet wurden, tatsächlich vernichtet werden, dass das gesamte Programm offengelegt wird, und zwar ohne, dass das irgendwelche Verzögerungen wieder gibt oder Täuschungsmanöver auf der Seite des Irak, und dass diese Mittel dann auch vernichtet werden. Das muss geschehen.
Clement: Und da muss man zur Not auch mit militärischen Mitteln zumindest drohen?
Kujat: Ich glaube nicht, dass irgend jemand mit militärischen Mitteln droht, sondern es ist die Frage, ob die internationale Staatengemeinschaft es akzeptieren kann, dass Beschlüsse der Vereinten Nationen nicht honoriert werden. Und dies ist der Fall. Die Beschlüsse der Vereinten Nationen sind bisher vom Irak nicht honoriert worden. Das heißt also, die Frage ist ganz einfach: Will man tatsächlich diese Beschlüsse Realität werden lassen, die Umsetzung Realität werden lassen oder nicht. Das ist die entscheidende Frage, und ich denke, dass die Frage des Einsatzes von Zwangsmaßnahmen – ich spreche jetzt ganz allgemein einmal – durchaus ein Mittel ist, um den Druck zu erhöhen. Und wenn Sie zurückschauen und die letzten Wochen betrachten, wie sich die Position des Irak verändert hat, dann sehen Sie, dass genau dies geschehen ist. Ausschließlich der potentielle Einsatz von Zwangsmaßnahmen hat doch den Irak dazu gebracht, überhaupt Inspektionen zuzustimmen. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, würden wir heute ganz anders dastehen.
Clement: Herr Kujat, noch mal eine Frage – bezogen jetzt auf die deutsche Rolle in der NATO. Sie sind Deutscher, aber Sie haben jetzt einen NATO-Job, einen übernationalen Job. Es gab in den letzten Wochen heftige Irritationen zwischen den Deutschen und den Amerikanern auf der politischen Ebene. Schlägt sich das auf Ihre Arbeit nieder? Spüren Sie das hier auch, hat das die Arbeitsebene erreicht?
Kujat: Nein, also ich spüre das überhaupt nicht. Ich denke, dass meine Kollegen im Militärausschuss professionell genug sind, um sich auf das zu konzentrieren, was ihre Aufgabe ist, und das tun wir.
Clement: Also, Sie haben keine direkten Ratschläge nach Berlin zu geben, wie man mit diesem Thema vielleicht umgeht. Vielleicht können Sie ja helfen, vermittelnd zum Beispiel?
Kujat: Ich werde mich hüten, Ratschläge zu geben. Das ist nicht meine Aufgabe. Das hat also nichts damit zu tun, dass ich hier als Deutscher in dieser internationalen Position bin, sondern das gilt ganz allgemein. Ich habe hier eine neutrale Position, ich bin in einer internationalen Funktion, und ich versuche immer, die NATO als Ganzes zu sehen.
Clement: Sehen Sie eigentlich nach den Ereignissen auch vom 11. September vergangenen Jahres, aber auch nach den Entwicklungen, die es seit dem letzten NATO-Gipfel 1999 gegeben hat, auch einen Nachsteuerungsbedarf in der Strategie?
Kujat: Nein, das sehe ich nicht. Wenn man rückblickt, dann ist das erstaunlich zu sehen, wie weitsichtig damals unsere Staats- und Regierungschefs waren im April 1999 in Washington. Die damals verabschiedete Strategie ist sehr flexibel, sie deckt das gesamte Spektrum der Herausforderung ab, und sie enthält auch eine gewisse Vorsorge gegenüber einer Bedrohung, die damals noch nicht so deutlich jedenfalls war, nämlich der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus.
Clement: Nun wird im Zusammenhang mit der gesamten Irak-Diskussion ja die Frage allgemein diskutiert, ob es nicht notwendig ist, dass ein Bündnis wie die NATO auch vorbeugend eingreifen kann. Also das Szenario: Sie erkennen einen möglichen Gegner, der Waffen aufhäuft, die Sie bedrohen – die ein NATO-Land bedrohen. Darf man in einem solchen Fall 'preemptive strikes', also vorbeugend losschlagen? Die NATO-Strategie sagt bisher: Die NATO setzt Waffen nicht als erste ein. Ist das nicht ein Thema, über das Sie mal diskutieren müssten in der Allianz?
Kujat: Ich glaube, das Ganze ist etwas komplexer. Wenn wir über die Herausforderung oder die Risiken sprechen, dann gibt es mehrere Möglichkeiten, sich darauf vorzubereiten und darauf zu antworten. Wir sprechen ja insbesondere auch über die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägermittel, auch über den internationalen Terrorismus. Und da gibt es aus meiner Sicht drei Ansätze, um diesen Risiken zu begegnen. Der eine Ansatz ist eine effektive, also eine wirksame Rüstungskontrolle, insbesondere gerade im Hinblick auf die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägermittel. Der zweite Ansatz ist nach wie vor die Fähigkeit, einen Angriff abzuschrecken, das heißt, einen möglichen potentiellen Gegner zu demotivieren, das heißt auch, die Fähigkeit, zurückzuschlagen. Und das Dritte ist auch die Abwehr, die Fähigkeit zur Abwehr gegenüber ballistischen Trägersystemen, beispielsweise die mit Massenvernichtungswaffen bestückt sind. Und was hinzukommt in jedem Fall ist eine Vorsorge oder auch die Möglichkeit des Schutzes gegenüber solchen Systemen. Man muss hier auch berücksichtigen, dass es eben nicht nur um die militärischen Kräfte geht, die geschützt werden müssen, sondern wir haben ja bei dieser neuen Bedrohung auch zu gegenwärtigen, dass es auch um den Schutz unserer Zivilbevölkerung geht.
Clement: Ja, aber das ist die Schutzkomponente. Die andere Komponente ist die Frage: Werde ich auch aktiv gegen einen möglichen Gegner, letztlich auch natürlich offensiv aktiv gegen einen möglichen Gegner. Es ist die Frage, ob sich die NATO einer solchen Diskussion nicht stellen muss. Oder ist die Tatsache, dass man darüber nicht diskutiert, auch eine Entscheidung?
Kujat: Na, es ist im Augenblick jedenfalls kein Thema. Ich sagte ja, die Fähigkeit zur Abschreckung beinhaltet auch die Fähigkeit, einen solchen Angriff abzuwehren. Das heißt, das ist natürlich eine offensive Fähigkeit. Die Frage, wann diese offensive Fähigkeit eingesetzt wird und unter welchen Bedingungen, ist eine sehr komplexe Frage. Sie hat einen völkerrechtlichen Aspekt, sie hat natürlich auch einen hoch politischen Aspekt. Dies ist jedenfalls nicht Bestandteil der NATO-Strategie und ist auch kein Thema, das hier diskutiert wird.
Clement: Sind Sie der Meinung, dass die NATO, wenn sie es denn wollte, einen solchen präventiven Schlag führen könnte?
Kujat: Das hängt ganz davon ab, welcher Art diese Bedrohung ist, das hängt davon ab von der Geographie natürlich. Da sind also sehr viele Aspekte mit einzubeziehen. Diese Frage kann man nicht generell mit Ja oder Nein beantworten.
Clement: Herr Kujat, Sie sprachen an militärische Fähigkeiten. Die NATO hat 1999 auf dem Gipfel in Washington ein großes Paket von Maßnahmen beschlossen, die die Fähigkeit nach vorne bringen sollten. Dieses hat nicht richtig funktioniert, die Länder haben das nicht umgesetzt. Woher nehmen Sie die Erwartungen und den Mut, dass Sie jetzt das, was Sie in Prag beschließen, auch wirklich umsetzen können?
Kujat: Wir haben natürlich aus den Erfahrungen gelernt. Es ist richtig: Wir haben im April 99 erwartet, dass die NATO-Mitgliedsstaaten das, was die Staats- und Regierungschefs dort ganz allgemein zugesagt haben, auch dann in die Realität übersetzen würden, also in konkrete Fähigkeiten übersetzen würden. Man muss auch bedenken dabei, dass dieser Schritt, dass man also die Defizite – das war ja eine Defizitanalyse, die wir gemacht haben, dass man sich an die Staats- und Regierungschefs wendet und sie bittet, nun gegenzuhalten und zu versuchen, diese Defizite zu beseitigen. Das ist schon ein großer Schritt. Aber Sie haben recht: Das Ergebnis ist enttäuschend. Wir haben sicherlich in einigen Feldern Verbesserungen erreicht, aber insgesamt ist es enttäuschen. Das muss man ganz klar feststellen. So, was haben wir daraus gelernt? Wir haben daraus gelernt zwei Dinge. Erstens: Man muss die Felder, in denen eine Verbesserung dringend notwendig ist, präziser formulieren, und man darf die Bandbreite der erwarteten Verbesserungen nicht zu groß machen. Deshalb haben wir zwölf Felder identifiziert, in denen strategische Defizite bestehen. Und wir haben ein weiteres getan. Wir haben in Vorbereitung des Prager Gipfels die Nationen gebeten, uns zu sagen, was sie zu tun beabsichtigen, um diese Defizite zu beseitigen. Wir sind auch noch einen Schritt weiter gegangen, indem wir einzelne Nationen ganz speziell auf bestimmte Bereiche hingewiesen haben, in denen diese Nationen Verbesserungen vorzunehmen haben. Und ich denke, das ist nun eine andere Situation als 1999. Wir haben einen recht guten Überblick darüber, was getan werden muss, aber auch, was die Nationen zu leisten bereit sind. Insofern ist die Lage anders als 1999.
Clement: Aber Sie gehen davon aus, dass die Zusagen jetzt auch haushaltsmäßig abgedeckt sind. Nehmen wir nur die deutsche Diskussion. In Deutschland wird darüber diskutiert, dass man den Verteidigungshaushalt weiter runterfährt. Es wird eigentlich fast nur noch über die Höhe diskutiert. Ist das ein Signal, wo Sie sagen: Damit können wir exakt diese Prager Fähigkeitsinitiative umsetzen?
Kujat: Solange die einzelnen Staaten – und ich will hier nicht speziell auf Deutschland abheben, sondern ich möchte das ganz allgemein formulieren – solange die Staaten die Erwartungen, die wir in sie setzen, erfüllen, ist es natürlich zweitrangig zunächst mal, wie sie ihren eigenen Haushalt organisieren. Richtig ist allerdings auch, dass wir ganz allgemein mit sinkenden Verteidigungshaushalten nicht in der Lage sein werden - auf Dauer jedenfalls -, die militärischen Fähigkeiten zu erreichen, die wir brauchen, um mit den neuen Risiken fertig zu werden.
Clement: Greifen wir mal einen Bereich heraus, der immer wieder diskutiert wird: Transportmöglichkeit. Es gibt ein multilaterales Projekt, den Airbus A 400, der ab 2008 zugeliefert werden soll, langsam aufwachsen soll. Das Defizit ist aber schon heute da. Nun gibt es einen deutschen Vorschlag, wenn ich das richtig mitbekommen habe, als Übergangslösung multinational auf Leasingbasis so etwas zu machen. Was halten Sie davon?
Kujat: Das ist kein deutscher Vorschlag, sondern das ist ein NATO-Vorschlag, und Deutschland hat sich bereiterklärt, hier eine Führungsrolle zu übernehmen, so wie andere Staaten sich bereiterklärt haben in anderen Bereichen, wo wir multinationale oder gemeinsame NATO-Lösungen anstreben. Es ist richtig, wir haben einen kurzfristigen Bedarf an strategischer Lufttransportkapazität, und wir müssen die Zeit bis zum Jahre 2009 - und darüber hinaus auch, denn 2009 beginnt ja erst der Zulauf dieses Flugzeuges - wir müssen diese Zeit überbrücken. Und ich denke, das ist ein Ansatz, der Sinn macht.
Clement: Sehen Sie auch, dass das durchsetzbar ist, politisch und auch von der praktischen Seite her?
Kujat: Ja, ja. Ich sehe sehr wohl, dass das durchsetzbar ist. Das ist überhaupt ein Ansatz, für den ich seit langem schon werbe, nämlich dass wir als erste Priorität unsere gemeinsamen Fähigkeiten, die kollektiven Fähigkeiten in der Allianz verbessern. Das hat den Vorzug, dass sich auch kleinere Staaten daran beteiligen können mit einem geringeren finanziellen Anteil, aber diese Fähigkeit allen Staaten zur Verfügung steht und natürlich der Allianz insgesamt. Die zweite Priorität ist für mich, dass wir mehrere Staaten in einem multinationalen Ansatz dazu bewegen, kollektive Fähigkeiten bereitzustellen. Nicht jeder Staat kann sich an allen Projekten beteiligen, aber wir haben auch andere Staaten neben Deutschland beispielsweise, die eine Führungsrolle übernommen haben in einem gemeinsamen Projekt, beispielsweise in der Luftbetankung oder aber auch im Erwerb von Präzisionsmunition. Hier gibt es sehr vielversprechende Ansätze.
Clement: Führt das im Ergebnis dazu, dass man die Streitkräfte der NATO-Staaten noch enger verzahnt?
Kujat: Ja, das ist eindeutig unsere Absicht. Wir wollen zum einen natürlich die europäischen Fähigkeiten stärken. Wir wollen die Streitkräfte so strukturieren, so ausbilden und auch so ausrüsten, dass sie mit den neuen Herausforderungen fertig werden, dass sie geeignet sind, auch mit den Risiken, die vor uns stehen, zurechtzukommen. Aber wir wollen vor allen Dingen auch in der Lage sein, in Zukunft transatlantisch enger zusammenzuarbeiten. Sie wissen, dass die Vereinigten Staaten ihre Streitkräfte modernisieren, und zwar in einem Ausmaß auch, das für europäische Verhältnisse völlig außerhalb jeder Diskussion ist. Aber wir müssen natürlich gemeinsam operieren können und müssen also zumindest in den wesentlichen Bereichen die gleichen Fähigkeiten erwerben wie die Soldaten in den Vereinigten Staaten.
Clement: Gehen wir noch mal auf das europäische Szenarium. Ist das der erste Tippelschritt zu einer europäischen Armee?
Kujat: Nein, was wir vorhaben mit der NATO-Response-Force ist nicht der erste Schritt zu einer europäischen Armee. Wie Sie wissen, es gibt auch in der Europäischen Union den Ansatz zu einer Rapid-Reaction-force . . .
Clement: . . . was ja die gleichen Truppenteile sein können, die nur mal den einen, mal den anderen Hut aufhaben . . .
Kujat: . . . völlig richtig. Wir wollen ja nicht den Anteil der Soldaten vermehren, sondern wir wollen die Fähigkeiten der vorhandenen Truppenteile verbessern. Insofern ist das auch kein Gegensatz zu der europäischen Lösung, sondern die Kräfte, die von uns in einen höheren Einsatzbereitschaftszustand versetzt werden, die besser ausgerüstet werden, besser ausgebildet werden, stehen natürlich auch der Europäischen Union für Einsätze zur Verfügung. Also das heißt, sie werden entweder in der strategischen und politischen Verantwortung der NATO eingesetzt oder in der der Europäischen Union. Das Gleiche gilt im Übrigen auch für die kollektiven Fähigkeiten der Allianz. Wir sollten nicht vergessen, dass wir daran arbeiten, diese Fähigkeiten der Europäischen Union zur Verfügung zu stellen. Das ist im Augenblick noch nicht möglich aus den Gründen, die bekannt sind, aber alles, was wir investieren in kollektive Fähigkeiten der NATO, steht auch, sobald die politischen Voraussetzungen dafür geschaffen sind, auch der Europäischen Union zur Verfügung.
Clement: Aber dass eine solche engere Verzahnung, wie Sie sie beschrieben haben in der vorletzten Antwort, dann dazu hinführt, dass man irgendwann auch mal die Armeen zusammenführen kann in einer fernen Zukunft, sehen Sie nicht so?
Kujat: Also, ich will nicht spekulieren, es kommt darauf an, wie weit man in die Zukunft schaut. Ich denke, die wichtigste Voraussetzung für eine europäische Armee muss politisch geschaffen werden. Militärisch ist das eine Frage, wie man das organisiert und wie man das strukturiert. Aber die politischen Voraussetzungen müssen natürlich dafür vorhanden sein, und das sehe ich im Augenblick noch nicht.
Clement: Wenn man die Aufgabenbeschreibung für die EU-Eingreiftruppe sich anguckt und dann das, was bisher bekannt ist über die NATO-Response-Force, dann stellt man Unterschiede fest. Die EU-Eingreiftruppe ist für friedensschaffende, friedenserhaltende und humanitäre Maßnahmen, die NATO-Response-Force soll das gesamte Spektrum abdecken. Gibt es daraus nicht Friktionen zwischen der EU und der NATO?
Kujat: Nein, es gibt keine Friktionen, weil die Truppe für den jeweiligen Einsatz, für die jeweilige Mission ja zusammengestellt wird, und zwar zurechtgeschnitten wird sozusagen auf die spezielle Aufgabe. Das heißt, man greift in einen Pool von Verbänden und sucht sich die Verbände heraus, die für den jeweiligen Auftrag am besten geeignet sind.
Clement: Das sieht man in Washington genau so?
Kujat: Das sieht man in Washington ganz genau so. Ich muss allerdings hier hinzufügen: Es soll ja nicht bei dieser NATO-Response-Force bleiben, sondern unsere Absicht ist es natürlich, insgesamt die Fähigkeiten unserer Streitkräfte zu verbessern. Das heißt, wir setzen mit dieser NATO-Response-Force einen Standard, und ich hoffe, dass wir in der Zukunft dann unsere eigenen Kräfte, die diesen Standard haben, immer erweitern können. Das ist natürlich eine ganz wichtige Voraussetzung. Es kommt noch ein anderer Unterschied hinzu, und zwar ist das der, dass diese NATO-Response-Force ausgebildet und auch ausgerüstet wird nach Standards, die von den NATO-Militärbehörden gesetzt werden. Wir wollen einen einheitlichen Standard haben in der Leistungsfähigkeit. Das ist neu. Das heißt nicht, dass nun die spanischen Verbände exakt die gleichen Waffensysteme haben müssen wie die britischen oder die amerikanischen, aber die Qualität muss gleich sein. Und wir werden am Ende dieses Prozesses, sobald wir damit begonnen haben, auch eine Art Zertifizierung durchführen. Das heißt, nur die Verbände, die die Voraussetzung erfüllen, um in dieser NATO-Response-Force eingesetzt werden zu können, werden auch zugelassen.
Clement: Da steht natürlich wieder sofort die Frage nach der Absicherung einer solchen Maßnahme durch die nationalen Haushalte. Sehen Sie auch das gegeben?
Kujat: Also ich denke mal, natürlich erfordert das Mittel. Das steht ja völlig außer Frage. Aber es ist auf der anderen Seite ein sehr pragmatischer Ansatz. Wir fordern ja nicht, von heute auf morgen alle Streitkräfte, die möglicherweise der NATO zur Verfügung gestellt werden könnten, einheitlich auszurüsten und einheitlich auszubilden, sondern wir machen einen Anfang, und wir hoffen, dass aus diesem Anfang über die Jahre mehr wird. Das heißt also, wir tragen schon in diesem Ansatz der Tatsache Rechnung, dass eine dramatische Steigerung der europäischen Verteidigungshaushalte, jedenfalls kurzfristig, nicht zu erwarten ist.
Clement: Herr Kujat, der NATO-Gipfel wird auch wahrscheinlich sieben neue Mitglieder auffordern, sich auf eine NATO-Mitgliedschaft vorzubereiten oder sie einladen zu einer solchen NATO-Mitgliedschaft. Ist das militärisch verkraftbar?
Kujat: Ja, ich denke, wir sind gut vorbereitet. Es stellen sich zwei Herausforderungen hier aus militärischer Sicht. Die eine Herausforderung ist die, dass wir in der Lage sind, die Streitkräfte der eingeladenen Staaten, die dann Mitglied werden – ich weiß nicht, wieviel das sein werden, aber wieviel es auch immer sein mögen – zu integrieren, in die NATO-Strukturen zu integrieren, in die NATO-Kommandostruktur zu integrieren, in die NATO-Streitkräftestruktur zu integrieren. Die Voraussetzungen dafür sind geschaffen, und sie werden weiter verbessert mit einer Anpassung der Kommandostruktur. Ich denke, auch da werden in Prag die Weichen gestellt. Die zweite Herausforderung ist die, dass die Staaten selbst und ihre Streitkräfte so vorbereitet werden, dass sie nahtlos integriert werden können. Dazu haben wir seit Jahren den sogenannten 'membership-action-plan'. Das ist ein Programm, mit dem wir – natürlich beratend und Hinweise gebend – versuchen, Einfluss auf die Entwicklung der Streitkräfte zu nehmen. Das läuft äußerst positiv. Sicherlich ist da noch einiges zu tun, aber ich denke, auch auf der Seite der potentiellen Mitgliedsstaaten sind die Weichen in die richtige Richtung gestellt.
Clement: Wenn man mit dem einen oder anderen in der NATO-Zentrale spricht, dann sagt der, es gibt da doch gewaltige Unterschiede zwischen den jetzigen Bewerberländern, und aus militärischer Sicht sind sie noch nicht alle auch nicht annähernd so weit, dass sie etwas beitragen können zur Sicherheit, was immer ein Kriterium war. Ist es wirklich richtig, alle jetzt gleichzeitig in einem Schritt aufzunehmen? Wäre es nicht besser, da nochmal eine neue Zwischenstufe dazwischen zu schalten?
Kujat: Die militärischen Fähigkeiten sind ja nicht das ausschließliche Kriterium, sie sind nicht einmal das primäre Kriterium, sondern der Erweiterungsprozess ist ein politisch dominierter Prozess. Die militärischen Fragen sind eigentlich sekundär. Ich würde auch dieses Urteil in dieser allgemeinen Form nicht teilen. Es ist richtig, dass diese Länder noch einen weiten Weg zu gehen haben, bis sie den Standard erreichen, den die bisherigen NATO-Mitgliedsstaaten haben. Aber sie sind durchaus in der Lage, viele von ihnen, in Spezialbereichen einen durchaus wirkungsvollen Beitrag zu leisten. Das macht nicht die Masse aus, aber es sind doch bestimmte spezielle Fähigkeiten bei dem einen oder anderen vorhanden, die wir sehr gut in das allgemeine Fähigkeitspotential der NATO integrieren können.
Clement: Können Sie sich vorstellen, dass sich 19 Staats- und Regierungschefs in Prag treffen, ohne dass der Irak eine Rolle spielt?
Kujat: Also, ich weiß das nicht, ob das der Fall sein wird. Aber ich denke mal, dies ist ein Thema, das allgemein auf der Tagesordnung steht. Es ist ein Thema, das die Sicherheit aller unserer Staaten berührt – die Frage des Besitzes von Massenvernichtungswaffen, auch die Frage des Terrorismus. Ich denke einmal, dass die Staats- und Regierungschefs an dieser Frage nicht vorbeikommen werden. Ob dies der Fall sein wird, weiß ich nicht.
Clement: Haben Sie aus den Präsentationen, die die Amerikaner zum Beispiel bei dem Verteidigungsminister-Treffen in Warschau gegeben haben, für die NATO eine eigene Bedrohungsanalyse erstellt, die Sie den Staats- und Regierungschefs vorlegen können?
Kujat: Ich denke, es ist nicht die Absicht, über Risikoanalysen dort zu sprechen. Wir beobachten die Situation ja permanent und laufend, und die NATO-Mitgliedsstaaten werden auch über unsere eigenen Erkenntnisse informiert. Also, das ist ein permanenter Prozess, und ich denke nicht, dass nun in Prag eine besondere Gelegenheit ist, um diese Dinge anzusprechen. Aber selbstverständlich ist jeder Staat frei, ein Thema auf die Tagesordnung zu setzen und mit den Kollegen aus den anderen Staaten zu diskutieren.
Clement: Wie würden Sie aus den Ihnen vorliegenden Informationen die Bedrohungslage zur Zeit definieren?
Kujat: Sie meinen der NATO – oder . . .
Clement: . . . in bezug auf Irak.
Kujat: Also, ich spreche ungern über Bedrohungen. Ich spreche lieber über Risiken, und in der Tat ist das, was wir wissen, was im Irak passiert ist bis 1998, also bis die Inspektoren das Land verlassen haben, ist das schon ein Anlass zu erheblicher Sorge. Was wir nicht wissen oder was wir jedenfalls nicht präzise wissen, ist, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat. Deshalb ist es ja so dringlich, dass diese Inspektionen wieder aufgenommen werden und dass Klarheit geschaffen wird, aber mehr noch: Dass dann auch tatsächlich die Massenvernichtungswaffen, die bis 1998 nicht vernichtet worden, auch die Trägermittel, die bis 1998 nicht vernichtet wurden, tatsächlich vernichtet werden, dass das gesamte Programm offengelegt wird, und zwar ohne, dass das irgendwelche Verzögerungen wieder gibt oder Täuschungsmanöver auf der Seite des Irak, und dass diese Mittel dann auch vernichtet werden. Das muss geschehen.
Clement: Und da muss man zur Not auch mit militärischen Mitteln zumindest drohen?
Kujat: Ich glaube nicht, dass irgend jemand mit militärischen Mitteln droht, sondern es ist die Frage, ob die internationale Staatengemeinschaft es akzeptieren kann, dass Beschlüsse der Vereinten Nationen nicht honoriert werden. Und dies ist der Fall. Die Beschlüsse der Vereinten Nationen sind bisher vom Irak nicht honoriert worden. Das heißt also, die Frage ist ganz einfach: Will man tatsächlich diese Beschlüsse Realität werden lassen, die Umsetzung Realität werden lassen oder nicht. Das ist die entscheidende Frage, und ich denke, dass die Frage des Einsatzes von Zwangsmaßnahmen – ich spreche jetzt ganz allgemein einmal – durchaus ein Mittel ist, um den Druck zu erhöhen. Und wenn Sie zurückschauen und die letzten Wochen betrachten, wie sich die Position des Irak verändert hat, dann sehen Sie, dass genau dies geschehen ist. Ausschließlich der potentielle Einsatz von Zwangsmaßnahmen hat doch den Irak dazu gebracht, überhaupt Inspektionen zuzustimmen. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, würden wir heute ganz anders dastehen.
Clement: Herr Kujat, noch mal eine Frage – bezogen jetzt auf die deutsche Rolle in der NATO. Sie sind Deutscher, aber Sie haben jetzt einen NATO-Job, einen übernationalen Job. Es gab in den letzten Wochen heftige Irritationen zwischen den Deutschen und den Amerikanern auf der politischen Ebene. Schlägt sich das auf Ihre Arbeit nieder? Spüren Sie das hier auch, hat das die Arbeitsebene erreicht?
Kujat: Nein, also ich spüre das überhaupt nicht. Ich denke, dass meine Kollegen im Militärausschuss professionell genug sind, um sich auf das zu konzentrieren, was ihre Aufgabe ist, und das tun wir.
Clement: Also, Sie haben keine direkten Ratschläge nach Berlin zu geben, wie man mit diesem Thema vielleicht umgeht. Vielleicht können Sie ja helfen, vermittelnd zum Beispiel?
Kujat: Ich werde mich hüten, Ratschläge zu geben. Das ist nicht meine Aufgabe. Das hat also nichts damit zu tun, dass ich hier als Deutscher in dieser internationalen Position bin, sondern das gilt ganz allgemein. Ich habe hier eine neutrale Position, ich bin in einer internationalen Funktion, und ich versuche immer, die NATO als Ganzes zu sehen.