Archiv


Kultur- und Literaturrevolution ohne Nachleben?

Vor 50 Jahren gründeten italienische Künstler die Gruppe 63 in Palermo. Sechs Jahre später löste sie sich auf, prägte aber dennoch eine ganze Generation von Intellektuellen. Ein Wiederaufleben der Bewegung scheint unwahrscheinlich.

Von Henning Klüver |
    Eine Ausstellungseröffnung in Mailand. Die Fondazione Marconi zeigt seit Mittwoch Arbeiten von italienischen Künstlern aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Man begegnet unter anderem einer durchstochenen Leinwand von Lucio Fontana, zwei Rahmen ohne Bilder von Tano Festa oder einer grauweißen monochromen Arbeit von Piero Manzoni. Und in einer Ecke tickt eine kinetische Installation von Gianni Colombo. Was vereint diese Werke so gegensätzlicher Künstler?

    "Das sind die Arbeiten von Weggenossen einer Gruppe, die sich einer kosmopolitischen Sicht auf die Literatur verpflichtet fühlte. Sie stellte sich neben die deutsche Gruppe 47, neben Uwe Johnson oder Ingeborg Bachmann, die in Deutschland die Avantgarde wieder belebt hatten. Die Gruppe 63 folgte einer Idee von Kunst, die sich nicht als Abbild, als Dopplung von Realität verstand. Sondern die eine Sprache finden wollte, die die neue Wirklichkeit repräsentieren konnte."

    Der Kunstkritiker Achille Bonito Oliva, der diese Ausstellung kuratiert hat, war 24 Jahre alt, als er an dem ersten Treffen des Gruppo 63, der Gruppe 63, teilnahm. Eingeladen hatte der damals 28-jährige Lyriker und Romanzier Nanni Balestrini, dessen Roman über die Fiatkämpfe "Wir wollen alles" auch ins Deutsche übersetzt wurde. In der Literatur, die Balestrini und seine Altersgenossen vertraten, und die von dem jungen Umberto Eco zum Beispiel in dem Essay "Das offene Kunstwerk" theoretisch untermauert wurde, wollte man sich von der Nachkriegsgeneration der Neorealisten etwa eines Giorgio Bassani absetzen. Dabei spielten formale Experimente eine wichtige Rolle, wie Nanni Balestrini heute unterstreicht:

    "Uns ging es vor allem um das Formale. Wir waren gegen eine Literatur, die der Linie folgen wollte, wie sie die alte kommunistische Partei vorgegeben hatte, nach der allein Inhalte wichtig waren. Wir waren absolut dagegen, wir waren wirklich Formalisten."

    Die sechziger Jahre waren in Italien von einem fast gewaltsamen Modernisierungsschub gekennzeichnet, als sich das provinziell geprägte Agrarland in eine Industrienation wandelte. Die Städte wurden zu kulturellen Werkstätten. Das Fernsehen setzte landesweit die Hochsprache durch, wo bislang die Dialekte vorgeherrscht hatten. Und Autoren der neoavantgardistischen Gruppe 63 wie etwa Edoardo Sanguineti oder Giorgio Manganelli suchten nach entsprechenden Formen, diese Zeit auszudrücken.

    Wenn ein Pasolini sich in jenen Jahren für die untergehende bäuerliche Kultur interessierte, schimpfte man ihn einen Reaktionär. Es kam darauf an, sich mit der Industriegesellschaft und den Massenmedien auseinanderzusetzen. Das galt auch für die bildenden Künstler. Sie nahmen den Dialog mit der Kunst anderer Länder in Europa und mit der in den Vereinigten Staaten auf. Dazu Achille Bonito Oliva:

    "Das ist das Ergebnis eines Weges, der ja bereits in den fünfziger Jahren mit Burri, Fontana und Capogrossi begonnen hatte. In den Sechzigern fand er dann ein Echo und einen Resonanzboden in den Texten der Literaten der Gruppe 63."

    Die Gruppe 63 war keine fest gefügte Einrichtung. Die Zahl der Teilnehmer auf ihren Treffen schwankte. Zeitschriften bildeten immerhin eine öffentliche Plattform. Unter dem Einfluss der 68er-Bewegung löste die Gruppe sich dann nach nur sechs Jahren 1969 auf. Auch wenn sie nicht die Literaturgeschichte umschreiben konnte, prägte sie doch eine ganze Generation von Intellektuellen. Nanni Balestrini glaubt nicht, dass sich das kollektive Erlebnis, die Bereitschaft, sich von anderen in einer Gruppe kritisieren zu lassen, heute wiederholen ließe:

    "Nein, die jungen Schriftsteller heute sind seit den 80er-Jahren vom Konsumdenken belastet, von einem Wettbewerbsindividualismus, bei dem jeder gegen jeden antritt. Damals befand sich Italien in einer aufstrebenden Phase, trat gleichsam lebensfroh in die Moderne ein, heute ist das Land praktisch wieder ausgetreten."

    So bekommen die Veranstaltungen in Mailand, Rom und anderswo zur Erinnerung an die Gründung des Gruppo 63 nicht nur einen nostalgischen, sondern auch einen bitteren Beigeschmack.


    Mehr zum Thema:

    20 Jahre nach Huntingtons "Kampf der Kulturen"
    Eine Tagung der Universität Vechta über die Relevanz des Konzeptes heute
    Pleite und doch erfolgreich
    Das Teatro Valle in Rom ist seit einem Jahr besetzt
    Heldin der Widerborstigkeit
    Guillaume Nicloux' Diderot-Verfilmung "Die Nonne"