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Kulturelle Evolution
Die Bibel als Tagebuch der Menschheit

Die Vertreibung aus dem Paradies, der Turmbau zu Babel oder der Kampf zwischen David und Goliath: Biblische Geschichten sind aus theologischer und historischer Perspektive schon vielfältig beleuchtet worden. Zwei Wissenschaftler haben jetzt eine neue, anthropologische Sicht auf das Buch der Bücher vorgelegt.

Von Lennart Pyritz | 10.01.2017
    Adam und Eva in einem Gemälde von Bréviaire Grimani
    Adam und Eva in einem Gemälde von Bréviaire Grimani (Imago)
    Das "Tagebuch der Menschheit" fängt bei Adam und Eva an – im wortwörtlichen Sinn. Denn die beiden Autoren des gleichnamigen Buches – eigenem Bekunden nach Agnostiker – begeben sich auf eine chronologische Expedition durch die Bibel, vom Paradies bis ins Neue Testament.
    "Ausgerüstet mit den neuesten Erkenntnissen der Kognitions- und Evolutionswissenschaften haben wir uns an die Bibellektüre gemacht, um zu erkunden, welche Einblicke das Buch der Bücher in die Kultur und Natur des Homo sapiens gewährt. Aus einer biologisch-anthropologischen Perspektive heraus funkeln viele Geschichten der Bibel in neuem Licht."
    Der Anthropologe Carel van Schaik, Professor an der Universität Zürich, und der Historiker Kai Michel entdecken ein zentrales Motiv hinter den Bibel-Geschichten: Demzufolge spiegeln sie kulturelle Strategien der Menschen, um mit neuen Problemen fertig zu werden. Und diese Probleme seien seinerzeit durch eine grundlegende Verhaltensänderung des Homo sapiens aufgetaucht.
    Übergang von einer Kultur der Jäger und Sammler zum Ackerbau
    "Insbesondere das Sesshaftwerden stellte einen kulturellen Quantensprung dar. Krankheiten, Hungersnöte und Gewalt bedrohten die Existenz. Angesichts des rapiden Wandels war für genetische Adaptionen nicht genügend Zeit. Es war Sache der Kultur, Lösungen zu produzieren."
    Eine Bibelgeschichte nach der anderen durchstreifen die Autoren und interpretieren sie im Licht der kulturellen Evolution. Die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies symbolisiert für sie den Übergang von einer Kultur der Jäger und Sammler zum Ackerbau.
    "Dass Adam und Eva ihren Lebensunterhalt jenseits von Eden mit Feldarbeit und Unkrautrupfen verdienen müssen, ist eine Strafe. "Verflucht sei der Acker um deinetwillen!" Gott wählt deutliche Worte, um Adam sein neues Schicksal vor Augen zu führen. Das neue Leben scheint sich tatsächlich als Fluch erwiesen zu haben, das zeigen prähistorische Skelettfunde. Den Menschen bekam das sesshafte Leben schlecht: Sie wurden nicht mehr so groß wie noch zu Jäger- und Sammlerzeiten, sie litten an Hunger und Krankheiten, sie starben früher."
    Dass Adam und Eva nach dem Pflücken einer verbotenen Frucht aus dem Paradies geworfen wurden, weist den Autoren zufolge auf eine neue kulturelle Kategorie hin: die Erfindung des Eigentums als Folge des Ackerbaus. Denn:
    "Wie sollte man etwas ernten, wenn sich vorher jeder bediente?"
    Mit dem Aufkommen des Eigentums stellt sich auch die Frage des Vererbens. Wie lassen sich Konflikte unter Nachkommen und das Zerstückeln des Besitzes vermeiden? Fragen, um die es in der Geschichte von Kain und Abel gehe. Später in der Bibel wachsen die menschlichen Gemeinschaften zu anonymen Metropolen heran – mit neuen Gefahren und neuen Hygiene-Vorschriften.
    "Die Einwohnerschaft einer Stadt bot ein genügend großes Reservoir, in dem sich Krankheiten dauerhaft halten konnten. Städte wurden zu Todesfallen."
    Wen wundere es da, dass Gott in Babel oder Sodom und Gomorra dem üblen Treiben Einhalt gebietet? An anderer Stelle gibt die Bibel konkrete Handlungsanweisungen, um sexuell übertragbare Krankheiten einzudämmen. Im Neuen Testament trete schließlich Jesus als Paradebeispiel kumulativer kultureller Evolution auf: Er kämpft gegen böse Mächte und kümmert sich um die Kranken und Schwachen.
    Warum leben wir jenseits von Eden?
    "Aus dem Geist der Katastrophenvermeidung entsteht hier die Gerechtigkeit als abstraktes Prinzip und etabliert eine universelle Moral. Vor dem Gesetz Gottes sind Arm und Reich gleich; das lässt unsere alten Jäger-und-Sammler-Herzen höher schlagen."
    Zielgruppe: Für alle, die verstehen wollen, warum wir jenseits von Eden leben.
    Erkenntnisgewinn: Die Bibel kann nicht nur aus theologischer Perspektive gelesen werden. Sie lässt sich auch als Hausordnung interpretieren, die sich die Menschen gaben, als sie sesshaft wurden und damit ihr Leben grundsätzlich veränderten.
    Spaßfaktor: Ein ungewöhnlicher und stellenweise amüsanter Blick auf das Buch der Bücher – eine tolerante Weltsicht und wissenschaftliche Neugier vorausgesetzt.
    Carel van Schaik & Kai Michel: "Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät",
    Rowohlt-Verlag, 576 Seiten, 24,95 Euro