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Kulturgeschichte des Restaurants
Kulinarische Anekdoten

Wolfram Siebecks Hungererfahrungen, die Geschichte von der teuersten Mahlzeit der Welt oder die Pilgerschaft eines Literaturredakteurs - von solchen Anekdoten erzählt Christoph Ribbat in seinem Kompendium zur Kulturgeschichte des Restaurants. Er erzählt gut, aber gelingt ihm mit "Im Restaurant" ein Tapas-Menü mit köstlich aufeinander abgestimmten Häppchen?

Von Eva Gritzmann | 27.04.2016
    Blick in ein Restaurant, auf einer Theke im Vordergrund steht ein Kaffee, ein Kellner läuft durchs Bild.
    "Geschichte aus dem Bauch der Moderne" nennt Christoph Ribbat sein Buch "Im Restaurant", denn es geht ums Essen. (imago/stock&people)
    "Die Hauptstadt ist für ihre Restaurants berühmt. Fisch und Meeresfrüchte sind hier exzellent, ebenso Rindfleisch, Geflügel und Nudeln. Das Angebot ist vielfältig, weil die Lokale nicht nur alteingesessene Stadtbewohner zufriedenstellen wollen, sondern auch die Kriegsflüchtlinge, die hier seit einiger Zeit zu Hause sind. Ihre Traditionen und Speisevorschriften – etwa die der Muslime – bereichern die Diversität der Küche. Die süße Sojasuppe am Markt ist zu empfehlen. Sehr gut sind auch die Fischsuppe und der Reis mit Hammel bei Mutter Song. In Asche gegartes Schwein gibt es vor dem Palast der Langlebigkeit und des Mitgefühls."
    Man muss sich Christoph Ribbat als glücklichen Sammler vorstellen. Mit diebischer Freude lenkt er Lesererwartungen in die Irre – etwa wenn er im zweiten Absatz seines Buchs von der "Hauptstadt" spricht und damit nicht das Berlin der Gegenwart meint, sondern Hanghzou, die chinesische Hauptstadt während der Song-Dynastie vor 700 Jahren. Für seine "Geschichte aus dem Bauch der Moderne", wie Christoph Ribbat sein Kompendium zur Kulturgeschichte des Restaurants nennt, häuft er kulinarische Anekdoten an wie ein Koch Vorräte für ein großes Festmahl. Türmt Wissensbröckchen auf Wissensbröckchen. Präsentiert Fund auf Fund. Folgt Hinweis um Hinweis. Und verkittet das Ganze mit Informationsfitzelchen um Informationsfitzelchen.
    Zahlreiche Essens-Geschichten
    Da die Geschichte der kellnernden Soziologin aus dem Chicago der 20er-Jahre. Dort die von George Orwell, der Schauerliches in den Küchen von Paris und London erlebt. Hier Wolfram Siebecks Hunger- und Hamstererfahrungen auf den Höfen Münsterländer Bauern. Eine Trouvaille: die Speisekarte des Wiener Hotelrestaurants "Meissl & Schadn" vor dem Zweiten Weltkrieg, die Tafelspitz aus 32 verschiedenen Rindfleischteilen in vier Qualitätsstufen anbietet und zwischen "Kruspelspitz" und "Kavalierspitz", "Schulterschwanzerl" und "Schulterscherzl" zu differenzieren weiß. Nicht zu vergessen die saftige Schnurre von Bill Buford, dem Literaturredakteur des "New Yorker", der eigentlich nur ein paar Tage beim New Yorker Sternekoch Mario Batali hospitieren will, sich dort aber so mit der Leidenschaft fürs Kochen ansteckt, dass er eine jahrelange Pilgerschaft antritt, um die Geheimnisse der italienischen Küche zu ergründen, die ihn bis in eine entlegene Metzgerei in die Toskana führen soll, und schließlich selbst ein Buch mit dem Titel "Hitze" schreibt, das mindestens ebenso sehr von der Bewältigung einer Midlifekrise erzählt wie von seiner neuentdeckten Passion für die Cucina Italiana.
    All das erzählt Christoph Ribbat. Und meistens erzählt er es gut. Zum Beispiel die Geschichte von der teuersten Mahlzeit der Welt, die der Gastrokritiker der "New York Times" Craig Claiborne 1975 mit einem ohne Kostenlimit versehenen Abendessengutschein für zwei Personen von American Express im "Chez Denis" in Paris verzehrt.
    "31 Gänge, neun Weine werden präsentiert. Sie beginnen mit Beluga-Kaviar, es folgen drei verschiedene Suppen, Austern, Hummer, ein provenzalischer Rotbarben-Kuchen, Stücke vom Bressehuhn, Sorbets. Ortolane: kleine Vögel, nur von Beeren ernährt, ihr kurzes Leben lang. (…) Danach schwebt wilde Ente ein. Anschließend Kalbslende in Blätterteig, mit golfballgroßen schwarzen Trüffeln, Artischockenpüree. Gänseleber in Aspik. Brustfleisch der Waldschnepfe. Kalter Fasan mit frischen Haselnüssen. Und die Desserts: eine Erdbeer-Charlotte, "Birne Alma", eine "Ile Flottante", begleitet von einem 1928er-Chateau-d’Yquem. Jener wiederum wird abgelöst von einem 1835er-Madeira, der zu den Dessertgängen serviert wird. Es folgt: ein 100 Jahre alter Calvados mit dem Kaffee. (…) Am 14. November erscheint sein Text. Schon die Überschrift verrät den Preis des erlesensten Diners der Menschheitsgeschichte: 4.000 Dollar – zu dieser Zeit die Kosten eines soliden, fabrikneuen Mittelklasseautos. (…) Später berichtet Claiborne, selbst der Vatikan habe jenes Abendessen im "Chez Denis" als "skandalös verurteilt. Er selbst steht nach wie vor zu seinem Projekt. Schließlich habe er an diesem Abend nicht einem hungrigen Menschen die Nahrung entzogen. Und er klärt eine weitere Nachfrage auf. Trinkgeld habe er keines gegeben, das sei seiner Ansicht nach inbegriffen gewesen."
    Form des Kaleidoskops
    Christoph Ribbat hat für sein aus Aberdutzenden kurzen Kapiteln montiertes Buch die Form des Kaleidoskops gewählt: Rassismus und Ausbeutung, die Trennung der Welt in Reich und Arm, Prasser und Hungerleider, Mann und Frau, der Zusammenprall von Technik und Handwerk, Luxus und Prekariat: All das spiegelt sich im Lauf der Jahrhunderte im Restaurant. Nun gut, es spiegelt sich auch in allen anderen Orten der Moderne, aber warum nicht vom Restaurant statt vom Getränkemarkt oder der Autohandlung erzählen. Und Christoph Ribbat erzählt wie gesagt gut.
    Aber Christoph Ribbat erzählt nach. Die Geschichte von Juli Solers und Albert und Ferran Adrias "El Bulli", das aus der Grillbude eines deutschen Campingplatzes hervorging. Der mühselige Weg von Heston Blumenthal in der "Fat Duck" an die Spitze kulinarischer Innovation in England. Alice Waters Bemühen um Nachhaltigkeit und kulinarische Abrüstung im kalifornischen "Chez Panisse". Der Versuch des besessenen Leiters einer HO-Gaststätte namens "Waffenschmied", aus seiner DDR-Klitsche ein japanisches Restaurant zu machen: All das ist bereits in alle denkbare mediale Ausspielformen gegossen worden, vom Artikel im Food-Magazin bis hin zum abendfüllenden Kinofilm. Neu an Ribbats Darstellung ist der breite Raum, den sie dem Restaurant als Ort des Rassismus widmet: Sei es Antisemitismus, wie die jüdische Deutsche Gerta Pfeffer ihn in einer Gaststätte im September 1935 erlebt, sei es bei der Schilderung der Sit-ins an den Tresen von Woolworth‘s-Imbisstheken in den amerikanischen Südstaaten oder bei der Nacherzählung der Morde an zumeist türkischstämmigen Kleingewerbetreibende, darunter einige Dönerverkäufer.
    Eintopf mit den Hauptzutaten Kraut und Rüben
    Der Erkenntnisgewinn bleibt dabei zumeist gering. Ob ihre Opfer nun Dönerverkäufer oder Mitarbeiter eines Schlüsseldienstes, Blumenhändler oder Änderungsschneider waren: Der Terror der NSU-Mörder vermag zur Kulturgeschichte des Restaurants wenig beitragen. Dieses Gefühl des Unscharfen, des Unfokussierten verlässt einen nie bei der Lektüre von "Im Restaurant". Schon die Überschriften der vier Hauptkapitel von Christoph Ribbats Buch, "Öffnungszeiten", "Nachkriegshunger", "In die Gegenwart" und "Restaurants deuten", lassen außer sprachverliebtem Klingklang keinerlei Zusammenhang oder aufeinander bezogene Struktur erkennen. So erzählt Christoph Ribbat die eigentliche Geschichte des Restaurants wie nebenbei, ja er streift sie kaum und interessiert sich für deren historische Wurzeln so wenig, dass er die Frage, ob es denn wirklich in Paris aus Adelsdiensten ausgeschiedene Hofköche waren, die mit ihren Suppenküchen neuen Typs die ersten Restaurants eröffneten, darin "restaurative" leichte Speisen für individuell bestellende Gäste feilboten und in Konkurrenz mit den mittelalterlichen Tavernen traten, in die Fußnoten verlegt. In den Haupttext schafft es dagegen der Satz:
    "Das gekochte Fleisch bei Wei-das-große-Messer an der Katzenbrücke ist hervorragend, und die Honigkrapfen bei Zhou-Nummer Fünf am fünfbogigen Pavillon ganz vorzüglich."
    So entsteht Information, nicht aber Wissen. Christoph Ribbat wollte in "Im Restaurant" in Form eines Tapas-Menüs mit köstlich aufeinander abgestimmten Häppchen erzählen. Herausgekommen ist ein Eintopf mit den Hauptzutaten Kraut und Rüben.
    Christoph Ribbat: "Im Restaurant. Eine Geschichte aus dem Bauch der Moderne", Suhrkamp Verlag, 229 Seiten, 19,95 Euro