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Kulturgeschichte
Leben am Mittelmeer

Der Franzose Fernand Braudel legte 1949 ein Standardwerk zur Geschichte des Mittelmeerraumes vor. Von ihm setzt sich der britische Historiker David Abulafia mit seinem Werk explizit absetzt. "Das Mittelmeer. Eine Biographie" interessiert die Menschen und ihre Bewegungen mehr als die Geografie der Region.

Von Sigrid Brinkmann | 10.04.2014
    Nordküste Ägyptens bei Marsa Matru
    Nordküste Ägyptens bei Marsa Matru (picture alliance / dpa / Matthias Toedt)
    Seinen jüdischen Vorfahren, die 1492 aus Kastilien vertrieben wurden und das Mittelmeer über die Jahrhunderte mehrfach von einem Ende zum anderen überquerten, widmet David Abulafia die Studie. Ihn interessieren die Menschen und ihre getriebenen, suchenden Bewegungen zu Wasser und zu Land mehr als die Geografie des mediterranen Raumes, und deshalb nennt er seine Erkundung konsequenterweise eine Biografie. Fernand Braudel ist der große Antipode. Abulafia würdigt dessen Leistung, doch die ganze Ausrichtung passt ihm nicht, denn Braudel und die in seinem Gefolge arbeitenden Geschichtswissenschaftler behandelten den Mittelmeerraum seiner Ansicht nach bloß wie eine Landmasse.
    "Noch immer gibt es eine Tendenz, den Mittelmeerraum über den Olivenanbau oder die ins Mittelmeer mündenden Flusstäler zu definieren. [...] Natürlich kann man das Hinterland - die Produkte, die dort erzeugt wurden und die ihren Weg durch diese Regionen nahmen - nicht außer Acht lassen, doch dieses Buch konzentriert sich auf die Menschen, die tatsächlich die Füße ins Wasser steckten [...]"
    Händler als Ferment
    Das sind vor allem Händler, Pilger, Kreuzfahrer und natürlich Soldaten, die in Saloniki, Triest, Marseille, Konstantinopel und Alexandria anlandeten. Die Fischer werden ausgeklammert, weil sie keine bleibenden Zeugnisse hinterließen und eh nur einen Blick für das hatten, was in der Meerestiefe schwamm.
    "Von allen, die das Mittelmeer befuhren, liefern uns die Kaufleute die besten Aufschlüsse. Seit phönizische Kaufleute einst die Kunst der Alphabetschrift im ganzen Mittelmeerraum verbreiteten, waren sie darauf bedacht, ihre Transaktionen aufzuzeichnen. Doch als Pionier ist der Kaufmann fast schon definitionsgemäß ein Außenseiter, jemand, der kulturelle und physikalische Grenzen überschreitet, neuen Göttern begegnet, andere Sprachen hört und sich der Kritik der Bewohner jener Orte aussetzt, in denen er nach Gütern sucht, die es in seiner Heimat nicht gibt."
    Händler, so David Abulafia, wirkten wie ein Ferment. Schon in der Antike trieben sie Handel zwischen Syrien und Gibraltar. Sie schufen kosmopolitische Hafenstädte, von denen aus sich Ideen und religiöse Überzeugungen verbreiteten. Für Homers Dünkel gegenüber den "betrügerischen und unheroischen" Händlern hat Abulafia darum nur leisen Spott übrig. Er bewundert die außerordentliche Mobilität jüdischer Kaufleute, die bis tief in die Sahara vordrangen, auf der Suche nach Erzeugnissen, zu denen Christen keinen Zugang hatten. Handelskontakte offenzulegen und die Geschichte unentwegter Kriegsführung an den Rändern des Meeres nachzuzeichnen: Das sind die beiden wesentlichen Elemente der Mittelmeerbiografie, die David Abulafia in fünf Zeitalter gliedert. Er beginnt mit dem Jahr 22.000 vor Christus und schließt die Akten 2010, als auf Kreta Faustkeile aus Quarz gefunden wurden. Demnach waren vor über 130.000 Jahren Menschen auf die Insel verschlagen worden, vermutlich auf Sturmtrümmern. Vielleicht waren sie die ersten gewesen, die sich aufs offene Meer hinaus gewagt hatten. Man weiß es nicht. Rätsel geben auch einstige Bewohner der Insel Malta auf. Sie schufen Tempelanlagen, die in der Mittelmeerwelt einzigartig sind.
    "Diese Kultur verschwand ebenso überraschend, wie sie entstanden war. Es finden sich keine Anzeichen eines Niedergangs. Vielmehr kam es zu einem scharfen Bruch, als Eindringlinge eintrafen, die nicht die Fähigkeiten besaßen, denen die großen Monumente ihre Entstehung verdankten, dafür aber über einen Vorteil verfügten: Bronzewaffen. [...] Die Einwanderer und ihre Nachfahren ließen sich in den Bauwerken eines Volkes nieder, das vom Antlitz der Erde verschwunden war."
    Während sich in Malta über Jahrhunderte nur wenig veränderte, waren die Verhältnisse in Sizilien äußerst unbeständig. Abulafia erklärt dies mit dem hohen Rohstoffvorkommen. Immer wieder ruft der Geschichtsforscher Ereignisse wach, die zeitgleich an verschiedenen Enden des Mittelmeeres passierten. Von Sizilien springt er zu den Kykladen, um dann länger die Bedeutung Trojas für das geschichtliche Bewusstsein der Griechen wie der Römer zu erörtern. Erfreulicherweise werden viele Detailzeichnungen eingefügt für alle, die weniger vertraut sind mit der Geografie der Küstenorte. Überhaupt sollten Leser dieser Studie eine solide Kenntnis geschichtlicher Umbruchphasen besitzen, vertraut sein mit der Abfolge von Herrscherdynastien wie mit der griechischen Götterwelt - denn Abulafia grenzt sich hier und da von den antiken Dichtern ab, weil für sie die Karte des Mittelmeeres "unendlich formbar" war. Und jenen, die die Beschreibung ionischer Vasen und frühminoischer Becher ermüdet, antwortet der Historiker:
    "Solche Fragmente sagen sehr viel mehr über das Kontaktnetz der antiken Welt aus als ein großes Werk der Kunst, das sich ein Herrscher aus speziellen Gründen in den Palast stellt."
    "Kraftwerk der Region"
    Wirklich lange verweilt David Abulafia bei der Gründung von Alexandria im Jahr 331 vor Christus. Der Historiker schwärmt:
    "Das Museion war keine bloße Kultstätte, an der man gnädig auch Musik, Philosophie und die Künste pflegte. Es war ein Wissenschaftszentrum, ein "All Souls College", ähnlich dem in Oxford [...]"
    Ägypten, so Abulafia, war das gewaltigste "Kraftwerk der Region" und Alexandria so bedeutend, weil die Stadt von Anfang an eine gemischte Identität besaß. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde sie von nationalistischen Kräften gebrochen. Minutiös rekapituliert der Autor die handelspolitische Bedeutung, die der Mittelmeerraum gewann - erst durch Phönizier, Griechen, Etrusker und Römer, dann durch Genueser, Venezianer und Katalanen und schließlich durch holländische, englische und russische Flotten. Er dokumentiert die Auflösung der mittelmeerischen Einheit zwischen den Jahren 600 bis 800 nach Christus und streift die Taten Karls des Großen - ihn kanzelt er knapp als "inzestuösen Massenmörder" ab. Abulafia beschreibt die Ausdehnung der muslimischen Herrschaft im südlichen Mittelmeer und die Verzweiflung der Juden in der Diaspora. Dem "Abgang" der Osmanen widmet er ein längeres Unterkapitel. Eine Herzensache ist ihm auch die Korrektur romantisierender Vorstellungen von der ethnisch-kulturellen Vielfalt der größeren Küstenstädte.
    Natürlich ist Abulafia auch bibelkundig und etymologisch bewandert. Wer bei der Lektüre dieser Studie nachlässt, dem geht der Blick für das Ganze schnell verloren. Das Wissen des Mittelmeer-Biografen ist schier überwältigend. Etwas zu summarisch gerät das Schlusskapitel. Das "letzte Mediterrane Zeitalter" beginnt für den Historiker um 1950, als Arbeiter aus Afrika und Asien nach Europa übersetzten, Unabhängigkeitskriege geführt wurden und der Massentourismus für eine Zementierung der Küsten mit Bettenburgen sorgte. Schiffskatastrophen schädigten die Küsten. Umweltpolitische Fehlentscheidungen füllen Listen. Die 2008 gegründete "Mittelmeer-Union" hält David Abulafia glattweg für gescheitert. So bleibt am Ende dieser klugen Studie, die das Wirken der Menschen am Mittelmeer für die Weltpolitik von gestern betont, nur die nüchterne Feststellung:
    "Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist klar, dass das große ökonomische Kraftzentrum der Zukunft China sein wird. [...] Dank der verbesserten Möglichkeiten rund um den Erdball Verbindungen aufzunehmen [...], lassen sich politische, kommerzielle und kulturelle Kontakte heute sehr schnell über große Entfernungen hinweg aufbauen. [...] Das Fünfte Mediterrane Zeitalter ist das letzte, von dem man sagen kann, die Welt habe sich um das Große Meer gedreht."
    David Abulafia: "Das Mittelmeer. Eine Biographie"
    Aus dem Englischen von Michael Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt a/M. 2013, 960 S. mit Abbildungen, 34 Euro