Dienstag, 07. Mai 2024

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Kundgebung mit Erdogan
Konfrontation mit Europa, Versöhnung mit Russland

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat bei einer gigantischen Kundgebung erneut eine Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei in Aussicht gestellt. Europa und Deutschland kritisierte er scharf - morgen will er sich mit Wladimir Putin dagegen versöhnen.

08.08.2016
    Sie sehen den türkischen Präsidenten Erdogan, dahinter eine große Menschenmenge.
    Der türkische Präsident Erdogan spricht auf der Großkundgebung in Istanbul. (picture-alliance / dpa / Pressebüro des Präsidenten)
    "Wenn das Volk die Todesstrafe will, werden die Parteien seinem Willen folgen", sagte Erdogan auf dem Istanbuler Yenikapi-Platz vor hunderttausenden Menschen, die türkische Flaggen schwenkten. Sollte das Parlament eine solche Entscheidung treffen, werde er dieser "zustimmen". Erdogan ging mit seiner Äußerung offenbar auf die Rufe von Demonstrationsteilnehmern ein, die lauthals "Todesstrafe" skandierten.
    Der Staatschef ging deutlich auf Distanz zu Europa. "Offensichtlich gibt es keine Todesstrafe in Europa, aber sie haben sie in den USA, in Japan, in China. Die meisten Länder wenden sie an." Auch in der Türkei sei die Verhängung der Todesstrafe noch bis 2004 möglich gewesen - auch wenn die letzte Hinrichtung im Land bereits 1984 stattgefunden habe. Die Europäische Union hatte wiederholt gewarnt, dass eine Einführung der Todesstrafe in der Türkei ein Ende der 2005 begonnenen Beitrittsverhandlungen bedeuten würde.
    Putin könnte sich den Streit zu Nutze machen
    Erdogan warf Europa mangelnde Unterstützung gegen den Putschversuch vor. "Der Westen hat uns nicht gezeigt, dass er gegen den Putsch ist. Ihr Schweigen ist unentschuldbar." Das angespannte Verhältnis zwischen Europa und der Türkei könnte sich nun Russland zu Nutze machen. Denn am Dienstag trifft Erdogan den russischen Präsidenten Wladimir Putin in St. Petersburg.
    Recep Tayyip Erdogan (l.) mit Wladimir Putin - neun Tage vor dem Abschuss des russischen Flugzeugs.
    Recep Tayyip Erdogan (l.) mit Wladimir Putin - neun Tage vor dem Abschuss des russischen Flugzeugs. (AFP/Cem Oksuz)
    Dabei waren die türkisch-russischen Beziehungen vor Kurzem auf einem Tiefpunkt angelangt, nachdem die Türkei - ein NATO-Mitglied - am 24. November 2015 ein russisches Kampfflugzeug im Grenzgebiet zu Syrien abgeschossen hatte. Russland verhängte daraufhin etwa im Tourismus massive Sanktionen gegen die Türkei. Ende Juni hatte Erdogan dann in einem Brief sein Bedauern über den Zwischenfall bekräftigt. Bei dem Treffen will Erdogan mit seinem "Freund Wladimir" den Streit nun endgültig beilegen, wie er der russischen Nachrichtenagentur Tass sagte.
    Erdogan: Deutsche Behörden "ernähren Terroristen"
    Erdogan versuchte bei der Kundgebung, eine Einheit der türkischen Politik zu beschwören. Zu der Veranstaltung waren auf Einladung des Präsidenten auch Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von der Mitte-Links-Partei CHP und der Chef der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli, gekommen. "Der 15. Juli hat die Tür für unsere Aussöhnung geöffnet", sagte Kilicdaroglu. Nicht eingeladen wurde die pro-kurdische HDP. Erdogan wirft der zweitgrößten Oppositionspartei im Parlament Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vor.
    Seit abtrünnige Offiziere am 15. Juli versucht hatten, die Regierung von der Macht zu putschen, war diese hart gegen mutmaßliche Beteiligte vorgegangen. Tausende Militärs und Beamte wurden festgenommen oder ihrer Posten enthoben. Die Regierung verfolgte vor allem Anhänger des in den USA lebenden Predigers und einstigen Erdogan-Verbündeten Fethullah Gülen, den sie als Drahtzieher beschuldigt.
    Erdogan beklagte, dass er sich bei der türkischen Kundgebung in Köln am Sonntag vor einer Woche nicht per Videoleinwand zuschalten durfte, was bei einer früheren Veranstaltung in Köln der PKK zugelassen worden sei. "Sollen sie die Terroristen nur ernähren", sagte Erdogan. "Wie ein Bumerang wird es sie treffen."
    Forderungen nach Einschränkungen von Ditib
    Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) rechnet nach eigenen Worten nicht damit, dass die Türkei in den nächsten zehn oder 20 Jahren EU-Vollmitglied wird - denn auch die EU sei derzeit nicht in der Verfassung, "auch nur einen Kleinststaat zusätzlich aufzunehmen". Trotzdem solle die EU weiter daran arbeiten, die Türkei auf europäische Standards zu bringen. Es mache "keinen Sinn, so zu tun, als ob wir nicht mit diesem schwierigen Nachbarn klar kommen müssen", sagte er im ARD-Sommerinterview.
    Andere deutsche Politiker forderten, den Einfluss des von Ankara kontrollierten Moscheen-Dachverband Ditib einzuschränken. "Meines Erachtens sollte man es nicht zulassen, dass ein Verband wie Ditib, der offenbar Sprachrohr von Präsident Erdogan ist, den islamischen Religionsunterricht in Schulen gestaltet", sagte Unionsfraktionschef Volker Kauder den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Ähnlich äußerte sich die kirchen- und religionspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Kerstin Griese.
    (nch/jcs)