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Kunert versteht Proteste gegen Hartz IV

Burkhard Birke: Ohne Antrag kein Geld, und der Antrag sollte bis spätestens Oktober bei den Arbeitsämtern und den Beratungsstellen vorliegen, sonst gibt es kein Geld für die Leute, die das Arbeitslosengeld II künftig beziehen wollen. Das ist die bürokratische Seite von Hartz IV. Wir wollen uns jetzt mit der emotionalen Seite beschäftigen und sind dazu telefonisch mit dem Schriftsteller Günter Kunert verbunden. Herr Kunert, in einer Biografie über Sie steht zu lesen, sie verstünden sich als Seismograph unserer Zeit, sie registrierten das Erdbeben, aber Sie könnten es nicht verhindern. Was registrieren Sie denn bei Hartz IV bei den Montagsdemos?

Moderation: Burkhard Birke |
    Günter Kunert: Das ist schon der Beginn des Erdbebens. Da bebt die Erde schon. Ich bin überzeugt davon, dass diese Demonstrationen sich ausweiten und zunehmen werden. Es wird ja in Deutschland immer etwas als Reform verkauft, weil das so positiv klingt, was dann aber nachträglich negative Folgen hat. Ich glaube, dass diese "Hartz-IV-Reformen" ohnehin erst der Beginn eines weiteren Rückganges der Lebensqualität für sehr viele Menschen sein werden.

    Birke: Besonders für die Menschen im Osten. Wächst hier nicht zusammen, was zusammengehört?

    Kunert: Ich glaube, im Gegenteil. Diese Hartz-Reform, die ja von der Bürokratie über uns alle gestülpt wird, wird natürlich im Osten als Affront und ganz besonders gegen den Osten gerichtet empfunden und verstanden. Die Demonstrationen haben ja auch im Osten begonnen. Hier gibt es auch welche, aber sie sind relativ klein, werden aber wachsen.

    Birke: Kehrt die drohende materielle Entbehrung, diese ganze Empörung über Hartz IV wieder die hässlichen Seiten im Menschen hervor, oder anders gefragt, drohen die Montagsdemos jetzt nicht von radikalen Kräften auch für Ausländerhetze und andere Themen missbraucht zu werden?

    Kunert: Ja, aber wissen Sie, es gibt keine Demonstration, es gibt überhaupt kein Protest, an den sich nicht extreme Kräfte hängen werden. Das lässt sich gar nicht verhindern. Aber wenn man jetzt sagt, um Gottes Willen, wir unternehmen lieber gar nichts, weil sonst aus der rechten oder linken Ecke einer kommt und sein Süppchen daran wärmen will, dann wäre das natürlich ganz und gar falsch. Ich finde, der Protest ist ganz notwendig, ganz egal wer da noch ein bisschen, wie gesagt, im Hintergrund mitläuft.

    Birke: Der Protest drückt sich auch zum Teil in Eierwürfen, in Steinwürfen aus. Verlassen wir hier nicht den Boden der Demokratie? Man sollte vielleicht die Informationen des Datenreportes 2004 zitieren, wonach im Osten nur noch 32 Prozent der Bevölkerung mit der Demokratie zufrieden sind. Was müssen wir tun?

    Kunert: Wissen Sie, einer der typischen Fehler dieser Bürokratie war, über diese sogenannte Reform nicht vorher zu informieren. Die Leute wussten ja überhaupt nicht, worum es geht. Erst jetzt erfahren sie so langsam, was Sache ist. Dass natürlich Aufgebrachte immer wieder - es handelt sich ja um Minderheiten, wenn es sich nicht um einzelne handelt - ausrasten, ist auch völlig verständlich. Demokratie heißt ja auch ein bisschen, das Volk an der Regierung zu beteiligen, denn das Volk ist ja von der Verfassung her der Souverän, aber der Souverän steht da und wird über nichts informiert; es wird mit ihm umgegangen wie mit dem Hausknecht.

    Birke: Nun wird das Volk gerade im Osten, nämlich bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg, Gelegenheit haben, seine Stimme zum Ausdruck zu bringen. Trifft es Sie, dass ausgerechnet wohl die PDS Profiteur der sozialen Spannungen bei den kommenden Landtagswahlen werden könnte?

    Kunert: Das wird eine Protestwahl. Aber es ist so, dass nur 11 Prozent eigentlich nostalgisch auf die ehemalige DDR zurückblicken. Die Mehrheit, die PDS wählen wird, wie gesagt, eine Protestwahl veranstalten.

    Birke: Ist das ein gutes Potential für eine neue Linkspartei? Es gibt ja heute Meldungen, wonach sich Oskar Lafontaine, der frühere SPD-Vorsitzende, sich mit dem IG-Metall Peters getroffen haben soll, um eine solche Partei wohlmöglich zu gründen.

    Kunert: Es ist vielleicht gar nicht schlecht, wenn die SPD einen Stachel zu fühlen bekommt, denn diese Partei ist ja erstens ein bisschen in sich zerfallen, wie wir wissen, und mit sich selber stark beschäftigt. Sie hätte es schon nötig, aus diesem Dornröschenschlaf aufgeweckt zu werden.

    Birke: Würden Sie eine Linkspartei unterstützen?

    Kunert: Ich unterstütze überhaupt keine Parteien mehr. Ich bin nur in einem Verband, in einem Verein, und das reicht mir, das ist der Deutsche Vogelschutzbund.

    Birke: Lassen Sie uns doch noch einmal über die Befindlichkeiten der Ostdeutschen gerade im Zuge von Hartz IV sprechen. Was könnte man nun auch an der Basis tun, um hier auch dieses Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, bei den ostdeutschen Mitbürgern zu entfernen?

    Kunert: Einerseits ist ja die Kluft zwischen Regierung, sprich bürokratischer Verwaltung, und Bevölkerung immer weiter gewachsen. Das ist zum Beispiel auch einer der Anlässe, warum der Protest immer stärker wird. Man hat sich eigentlich sozusagen nicht um die Bevölkerung, um die es ja eigentlich geht und die es angeht, gekümmert.

    Birke: Also mehr Informationsstellen, zum Beispiel auch mehr Bücher in den Bibliotheken?

    Kunert: Ja, aber nicht nur eine Broschüre irgendwo verteilen, sondern persönliche Informationen. Die Leute, die ein bisschen irgendwo in Funktionen sitzen, müssen in und unter das Volk gehen und mit den Leuten reden, sonst wird das alles noch viel schlimmer.

    Birke: Sie haben eben gesagt, Sie seien im Vogelschutzbund, aber Sie sind auch noch in dem unabhängigen Rat für deutsche Rechtschreibung, und zwar Ehrenmitglied neuerdings. Die Sprache gehöre dem Volk, und es müsse die orthografische Selbstregulierung zurückgewinnen. Das geht ja auch so ein bisschen in die Richtung dessen, was Sie eben angedeutet haben. Streben Sie eine Volksabstimmung aller deutschsprachigen im Rechtschreibestreit an?

    Kunert: Wir hatten eine Volksabstimmung in Schleswig-Holstein, und bei dieser Volksabstimmung wurde die sogenannte Rechtsschreibreform abgelehnt. Drei Monate später wurde per Ukas diese Volksabstimmung für ungültig erklärt. Das heißt also, dem Volk wurde über das Maul gefahren, so zu sprechen und zu schreiben, wie sie es wollen. Das fand ich schon mal nicht sehr demokratisch, muss ich Ihnen sagen. Ich hoffe nur, dass es in ganz Deutschland zu einer Volksabstimmung kommt. Dann werden vielleicht diese entsetzlichen Kulturkommissare aufwachen und mal gezwungen werden, die Verantwortung dafür zu übernehmen, wo die 100 Millionen geblieben sind, die die sogenannte Reform gekostet hat.

    Birke: Recht herzlichen Dank für dieses Gespräch.