
Omaid Sharifi steht in einem Hinterhof, über seinen Kopf donnert ein Militärhubschrauber hinweg, das ist der Sound Kabuls. Auf einer rot-bunt bemalten Begrenzungsmauer scheint ein schlicht weiß gemalter Tänzer zu schweben. Es ist Rumi, Afghanistans Nationaldichter.
"Wir wollten ihn jungen Afghanen wieder näher bringen. Viele junge Leute kennen ihn nicht, also wollen wir ihn zurück auf Kabuls Straßen bringen. Hier auf dem Bild führt er einen der Wirbeltänze auf."
Omaid würde gerne noch andere Orte zeigen, an denen er gemalt hat. Zum Beispiel die Außenmauer der Geheimdienstzentrale oder die Sprengschutz-Mauern am Botschaftsviertel. Leider geht es gerade nicht. Zu gefährlich.
"Der Präsidentenpalast, der Geheimdienst oder das Polizeihauptquartier und so weiter, das sind extrem sensible Gegenden. Wenn da etwas passiert, dann haben wir keinerlei Schutz. Wenn wir trotzdem dort sind mit unseren Pinseln, Leitern und Farbeimern, dauert es nicht lange, und schwer bewaffnete Wachen kommen und fragen uns aus. Das sind Hochsicherheitszonen."

Dem Geheimdienst hat Omaid zwei große Augen auf die Mauer gemalt: "Wir sehen alles!" – sagen die Augen. Das ist ironisch angesichts der vielen Extremisten, die trotzdem in Kabul Anschläge verüben. Die beiden Augen sind das berühmteste Gemälde der "Artlords", einer Künstlergruppe, die Omaid mitbegründet hat.
"Wir wollen das schöne englische Wort "Lord" wieder positiv besetzen. Wir haben Warlords, also Kriegsfürsten. Wir haben Druglords, also Drogenbarone. Wir wollen konstruktive Lords sein. Die Idee ist einfach: Ich bin hier aufgewachsen und habe immer hier gelebt. Und ich konnte immer überall hin. Aber plötzlich kamen diese hässlichen Sprengmauern. Kabul wirkt wie ein Gefängnis. Die Straßen sind blockiert. Alles ist grau. Also haben wir uns gesagt: Lasst uns diese Mauern einreißen. Der einzige Weg, das zu tun, ist, sie zu bemalen."
Kunst mit Hindernissen
In Kabul braucht man dafür einen sehr, sehr langen Atem. 2014 startete die Gruppe. Mit Hindernissen.
"Wir brauchen Genehmigungen. Wir müssen ständig Leute anrufen, Papierkram erledigen, und selbst dann: Als ich zum Beispiel am Präsidentenpalast gemalt habe, machte ein Soldat dort Stress. Er forderte mich auf, zu gehen. Ich sagte: Aber ich habe die Erlaubnis des Präsidenten. Ich gehe nicht. Und er sagte: Wenn Du nicht gehst, dann erschieße ich Dich. Ich entgegnete nur: Dann mach‘ es. Und siehe da: Ich bin immer noch hier."
Feinde hat Omaid viele, denn seine Bilder haben Botschaften. Da ist die Polizistin, eine Frau in Uniform, für Omaid eine Heldin – für Hardliner das Gegenteil. Einige Inschriften wenden sich gegen Korruption und treffen Politiker. Der Geheimdienst fand die beiden Augen auf seiner Außenmauer nicht lustig und ließ sie entfernen, aber Omaid drohte, daraus einen Skandal zu machen, und malte sie aufs Neue.
"Jeder kann mich stoppen. Deswegen habe ich ständig Angst. Meine Familie hat Angst, meine Frau hat Angst. Wenn ich aus dem Haus gehe, weiß ich nicht, ob abends wieder zurück komme. Es gibt Anschläge, Entführungen, gezielte Morde. Aber wir wollen trotzdem ein Lächeln schenken, Hoffnung, ein Zeichen gegen diese dunklen Mächte setzen. Wir machen ganz bewusst weiter. Wir sehen uns als eine Art Widerstand."
"Wir wollen eine neue Art von Helden einführen"
Ein wiederkehrendes Motiv sind rote Herzen. Als Kontrast zu Handgranaten, Gewehren, Bomben. Und es geht um Helden. Neben der Polizistin aus Kabul sind das zum Beispiel Sportler.

"Wir wollen eine neue Art von Helden einführen. Bisher hat man uns die Helden aufgezwungen. Die Helden, die Kalaschnikow tragen oder ein Schwert. Uns wurde gesagt: Hier, das ist Euer Held. Zeigt ihm Respekt! Aber meine Helden, das ist das Fußballteam oder die Kricketspieler – die machen uns glücklich. Wir wollen den Leuten zeigen, dass sie sich ihre Helden selbst wählen können. Meine Helden sind aber auch einfache Soldaten, wir verlieren jeden Tag Dutzende solcher Männer."
Manchmal malen die Bürgerinnen und Bürger Kabuls einfach mit. Omaid und die anderen Künstler führen dann Regie und weisen ihnen kleine Flächen des Gemäldes zu. Kunst, sagt Omaid, das war in Afghanistan bisher nur etwas für eine kleine, reiche Elite. Auch das will er ändern.
"Am Anfang fanden die Leute es echt merkwürdig. Sie sprachen mich auf Englisch an, weil sie dachten, wir seien Ausländer. Als ich in ihrer Sprache antwortete und ihnen sagte, dass ich ein Kind dieser Stadt bin, waren sie überrascht. Und dann begannen sie, mitzumachen. Straßenkinder, Minister, Botschafter, alle."
Omaid ist derzeit vielleicht Afghanistans bekanntester Künstler. Jeden Tag wechselt er seine Routinen, seine Wege nach Hause und ins Atelier, um möglichen Feinden zu entkommen. Dieser Alltag, in den Omaid etwas Farbe bringen will, macht selbst ihn manchmal ein wenig müde.
"Nun ja. Wir Afghanen sind zähe Leute. Ich habe manchmal wirklich schlechte Tage. Hier ist wirklich gar nichts einfach. Aber wir lassen nicht locker. Wenn immer jemand uns die Genehmigung verweigern will, machen wir trotzdem weiter. So lange, bis dieser jemand mit uns zusammen arbeitet."