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Kurdistan
Leben in einer Welt aus Krieg und Flucht

Seit dem Angriff der kurdischen Peschmerga und der internationalen Truppen auf Mossul verschlimmert sich die Lage in den kurdischen Gebieten im Nordirak. Viele Flüchtlinge müssen versorgt werden und die Wirtschaft liegt am Boden. Viele junge Kurden bemängeln aber auch den politischen Stillstand und die Clan-Wirtschaft - immer mehr wollen ihr Land verlassen.

Von Martin Gerner | 29.10.2016
    Stadtansicht von Erbil, Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan Irak, aufgenommen am 23.09.2016 in Erbil im Irak.
    Stadtansicht von Erbil, Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan Irak, aufgenommen am 23.09.2016 in Erbil im Irak (dpa / Michael Kappeler)
    Hizel ist Ende 20 und lebt in Duhok, im Nordirak.
    "Die ersten Worte sind immer schwer. Das Leben hier ist schwierig. Aus vielen Gründen."
    Und das ist Mohammad. Anfang 30. Er wohnt in Erbil, der Hauptstadt des faktisch von Bagdad autonomen irakischen Kurdistan.
    "Ich bin 2007 aus Bagdad gekommen. Nachdem mein Vater dort gekidnappt wurde. Vorher war unser Leben normal."
    Hizel in Duhok wächst auf in einer Welt aus Krieg und Flucht. In der Stadt mit ihren rund 500.000 Einwohnern - neben Erbil und Suleymania die größte im Land – kommt auf einen Einwohner ein Flüchtling. Zeltlager um Zeltlager reihen sich vor den Toren der Stadt. Der jüngste Angriff kurdischer Peschmerga und internationaler Truppen auf Mosul gegen den IS sei Teil der Tragödie seines Volkes, so Hizel.
    "Die Peschmerga sterben jeden Tag. Der Krieg ist furchtbar. Wir haben viel verloren. Leute, die nichts mit dem Krieg zu tun haben. Wir wollten nicht kämpfen. Aber der Krieg ist zu uns gekommen."
    Vor zwei Jahren, im Sommer 2014, machte der Vormarsch des IS erst gut 30 Kilometer vor den Stadtgrenzen von Duhok halt.
    "Die Jesiden-Kinder sind jetzt beim IS. Sie trainieren sie, um Terroristen zu werden. Wenn ich an all das denke, dann habe ich Frust. Ich frage mich, warum passiert das?"
    Hizel kennt auch bessere Zeiten. In Deutschland hat er vorübergehend gelebt und gelernt. Eine Zeit des Friedens und der Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln, die er in einem kleinen Buch festgehalten hat, das er jetzt in seiner Heimat zu Papier gebracht hat. Nach dem Studienjahr zog es ihn zurück zu seiner Familie. Mohammad arbeitet für ein deutsches Unternehmen in Erbil. Er hat die Entführung seines Vaters nicht vergessen:
    "Mein Vater wurde von islamischen Milizen in Bagdad gekidnappt. Sie forderten ein Lösegeld, sonst würden sie ihn töten und uns seine Leiche zurückgeben. Rasch haben wir einigen Grund und Boden verkauft und das erpresste Geld den Kidnappern übergeben, um ihn freizubekommen."
    Die Flucht von Mohammads Familie nach Erbil fand mitten in der wirtschaftlichen Boomzeit der Region statt.
    "Anfangs konnte ich unter zehn bis 20 Jobangeboten aussuchen. Ich bin so von Firma zu Firma gehoppt. Habe so mein Gehalt und meine Position Stück um Stück aufgebessert. Und jetzt? Jetzt hat sich alles um 180 Grad gedreht. Für 1.000 Leute, die Arbeit suchen, gibt es einen oder zwei passende Jobs."
    Mohammads Kollege wurde entlassen wegen der Krise. Überall wird rationalisiert.
    "Die Bauruinen sind von Unternehmen, die nicht mehr liquide sind. Es ist auch eine Folge der Präsenz des IS. Den Investoren fehlt es an Frischgeld aufgrund des Öl-Preisverfalls. Wenn es Banken gäbe, staatliche, die ihnen helfen würden, könnten sie überleben."
    Während Mohammad sich wirtschaftlich sorgt, legt Hezel den Finger in eine gesellschaftliche Wunde:
    "Die Gesellschaft ist vom Clan abhängig. Das ist die Struktur hier: Wenn ich einen kenne und wir Verwandte sind, dann ist das OK. Wenn nicht, dann ist es nicht OK. Wenn ich Beziehungen habe, gehe ich nicht ins Gefängnis. Dann komme ich schnell raus, wegen meiner Verwandten und Kontakte."
    Frustration in der jüngeren Generation ist spürbar
    Die Frustration der jüngeren Generation ist spürbar. Seit dem Sturz von Saddam Hussein regieren im Nordirak zwei kurdische Parteien, die sich im Wesentlichen Macht und Einnahmen aufteilen. Eine echte Opposition, politische Gegenentwürfe fehlen.
    "Seit 2003 sehen die Leute hier nur Geld. Ich glaube, für die Parteien ist das gut. Aber die Leute machen dann ihren Mund zu. Die Parteien machen, was immer sie wollen, die Clans."
    In Duhok arbeitet Hizel in diesen Tagen als Übersetzer für ein internationales Filmfestival. Es zeigt Filme in der Mazi Mall, einem Konsumtempel mit Spielhöllen, Zuckerwatte und Boutiquen von Weltmarken wie Prada und Adidas. Drei Multiplexkinos zeigen die Filme. Alles funkelt und glitzert. Der wirtschaftliche Boom, der 2003 im Nordirak ausbrach, scheint hier ungebrochen. Aber das trügt.
    "Mein Vater ist ein Arzt. Er kriegt jetzt nur 25 Prozent seines Gehaltes, weil Bagdad kein Geld mehr zur Kurdistan-Region schickt seit 2014. Und weil Kurdistan auch viel Geld für den Krieg ausgeben muss und wir die vielen Flüchtlinge haben."
    Wie Hizels Vater geht es vielen Selbstständigen. Hizel will erst einmal sein Englischstudium in Dohuk beenden. Perspektiven auf eine Arbeit, die ihn erfüllt, findet er zur Zeit nicht:
    "Das System muss auf den Kopf gestellt werden. Die Regierung muss sich ändern. Die Parteien müssen neu denken. Lass' uns an die Leute wirklich denken. Wir denken nur an uns."
    Bis vor Kurzem war Mohammad zuversichtlich, dass es zumindest mit der Wirtschaft wieder bergauf geht. Dann begann der Vormarsch auf Mossul. Seitdem gibt es neue Fragezeichen:
    "Freunde von mir haben das Land verlassen. Die einen über die Türkei, Griechenland. Illegal. Und sind nach Deutschland, Schweden. Das andere sind Geschäftsleute mit europäischen Pässen, die jetzt zurück nach Deutschland gehen oder England.
    Auch Hizel denkt bei all dem über persönliche Konsequenzen nach.
    "Ich überlege, nach Deutschland zurückzugehen, weil man lebt nur einmal. Und ich finde kein Leben hier. Was ich in Deutschland fand, war das richtige Leben. Ich fand, dass ich noch am Leben war. Aber hier fühle ich mich irgendwie tot. Von innen bin ich kaputt."