Nach dem Epochenjahr 1989 hat kaum jemand dieser zuvor noch stark linksdogmatisch gefärbten Zeitschrift einen Neustart zugetraut. Albrecht von Lucke, geboren 1967, gehört dem in Berlin ansässigen Redaktionsquartett an. Er erinnert an die schillernde Vita seiner Blätter für deutsche und internationale Politik:
"Sie sind geboren, gewissermaßen, im Jahre 1956 als ein Teil der neutralistischen Bewegung, gegen Adenauer gegründet, für eine Deutschlandpolitik, mit einem ganz breiten Spektrum. Die zweite Phase würde ich terminieren von der Mitte der 60er-Jahre, als die Blätter dezidiert zu einem Organ der Linken wurden, und damit gewissermaßen – wie es einmal gesagt wurde – zu einem Zentralorgan der APO, wie es der "Bayernkurier" nannte."
Diese Phase ging dann über in eine eher unrühmliche, DKP-nahe Zeit bis weit in die 1980er Jahre. Die dritte Phase begann 2003 mit dem Orts- und Generationswechsel der Redaktion nach Berlin. Linksdogmatische Positionen hatten historisch ausgedient. Stattdessen war mehr Diskursoffenheit angesagt.
"Das Blatt ist nach wie vor einer aufgeklärten linken Position verschrieben. Das bedeutet, dass wir versuchen, als linkes Debattenorgan die großen Fragen zu thematisieren, die in vielen Organen zu kurz kommen. Also, das bedeutet die Frage: Wohin geht es in Europa mit einem klar europäischen Kurs?, aber auch die Frage: Was ist der richtige Kurs in Richtung Europa?"
Die "Blätter" schlagen dabei im linken Spektrum einen Bogen zwischen Anti-Euro-Positionen wie die des Soziologen Wolfgang Streeck, bis zur unverdrossen pathosgeladenen Vision des Mitherausgebers Jürgen Habermas, der mittlerweile fast allein auf weiter Flur Europa auch Euro-Europa verteidigt.
"Dann in dem zweiten Punkt die Frage: Wie geht es weiter mit großen Zukunftsfragen: Postwachstum. Ist es möglich, eine Politik des kapitalistischen Wachstums zu betreiben, die ständig an die ökologischen Grenzen des Wachstums gerät?"
Dabei bewegen sich die "Blätter" auf einem gemäßigt theoretischen Niveau, ohne in dröge programmatische Litanei zu verfallen. Kurzatmiges Feuilleton und eine mainstreamgefällige Aufmachung sind nicht die Sache der ambitionierten Redaktion.
"Wir wollen immer auch ein politisches Interventionsorgan sein. Auf der anderen Seite mit einem wissenschaftlichen Anspruch, der schon im Format, dem klassischen Bleiwüstenformat zum Ausdruck kommt. Wir sind nach wie vor in der Hinsicht fast anachronistisch, als wir völlig ohne Bilder auskommen, nach wie vor dem Leser Monat für Monat 128 Seiten gebündelte Analyse und Kritik zumuten."
Dank eines renommierten Herausgebergremiums, dem neben Habermas unter anderen auch Seyla Benhabib und Dan Diner angehören, gelingt es den "Blättern" einstweilen, sich auf dem dünn gesäten Feld politischer Kulturzeitschriften zu behaupten.
"Das Erstaunliche ist, dass die Blätter, die ja auch schlechtere Zeiten gehabt haben, seit geraumer Zeit wachsen – wir haben eine Auflage von 10.000 Exemplaren und knapp 7500 Abonnenten, dass die Blätter es schaffen, im Jahr drei bis vier Prozent jährlich zu wachsen."
So bedienen die "Blätter" das eher in die Defensive geratene Bedürfnis nach geistiger Fundierung.
"Es gibt eine Nachfrage jenseits der Blogs, und diese Nachfrage ist offensichtlich eine solche, die eher hintergründige Beiträge schätzt, das heißt: die Menschen brauchen offensichtlich langfristige Orientierung und suchen dergleichen. Das kann die Blog-Kultur bei weitem nicht ersetzen."
In der aktuellen Ausgabe sieht Albrecht von Lucke die Große Koalition auf dem Weg in eine "schwarz-rote Selbstverzwergung". Seine Vision eines "sozialen Europa" scheint derzeit mit dem vorsichtigen Pragmatismus Sigmar Gabriels kaum kompatibel zu sein:
"Die SPD-Spitze verweist stolz darauf, im Koalitionsvertrag das soziale Europa gleichberechtigt neben dem Binnenmarkt Europa verankert zu haben. Nicht zuletzt hier wird sich die Sozialdemokratie in den nächsten vier Jahren zu beweisen haben. Eine echte Bankenunion und einen europäischen Altschuldentilgungsfonds zur Entlastung der verschuldeten Staaten wird es mit CDU/CSU jedenfalls nicht geben. Dabei ist die Schaffung einer politisch handlungsfähigen, solidarischen EU die zentrale Aufgabe der nächsten vier Jahre – und damit die eigentliche Existenzberechtigung der Großen Koalition."
Und die zentralen Projekte für 2014? Die Arbeit an der deutschen Schuld beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die Entwicklung eines Gegenmodells zur GroKo.
"In der Januar-Ausgabe wird eine der großen Fragen sein, die Thematisierung geschichtspolitischer Art: Was war der Erste Weltkrieg? Die große Debatte um Christopher Clarks Buch zum einen. Aber natürlich wird uns mit Blick auf 2014 auch die ganz große Frage zentral interessieren: Wie ist eine Alternative jenseits der Großen Koalition zu denken, und zwar vor allem vor dem Hintergrund: Wie ist eben eine solche Alternative ( ... ), die Abschied nimmt von der Wachstumsfrage?"
"Blätter für deutsche und internationale Politik"
Die Zeitschrift erscheint monatlich und kostet jeweils 9,50 Euro.