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Friedenseinsätze nicht militärisch, sondern moralisch rechtfertigen

"Es gibt große Teile der Welt, in denen heute unklar ist, was eigentlich den Staat ausmacht", sagt Jean-Marie Guehenno. Er war viele Jahre Untergeneralsekretär für Friedenseinsätze bei der UNO. In seinen Memoiren "Fog of Peace" beschreibt er aus seiner Erfahrung Wege aus diesem Konflikt, die ohne jahrhundertelange Gewalt auskommen könnten.

Von Marc Engelhardt | 26.10.2015
    Der französische Diplomat Jean-Marie Guehenno hat mit "Fog of Peace" seine Sicht auf Friedenseinsätze herausgebracht
    Der französische Diplomat Jean-Marie Guehenno hat mit "Fog of Peace" seine Sicht auf Friedenseinsätze herausgebracht (dpa/picture alliance/epa afp Coex)
    Von Friedenseinsätzen weiß vermutlich kaum jemand mehr zu berichten als Jean-Marie Guéhenno. Acht Jahre lang war der Franzose an der Spitze der Vereinten Nationen als Untergeneralsekretär für die Entsendung von Blauhelmen zuständig. Seine Memoiren hat er "Fog of Peace", Nebel des Friedens, getauft - eine Anspielung auf den Ausdruck Nebel des Krieges, der vom preußischen General Carl von Clausewitz stammt. Der Frieden sei heute genauso unwägbar wie der Krieg, sagt Guéhenno bei der Brookings Institution, der renommierten Denkfabrik in Washington D.C., die das Buch veröffentlicht hat. Auch deshalb habe er sich für eine biografische Erzählform entschieden.
    Von Haiti bis zum Libanon
    "Über die theoretische Seite der Friedensmissionen gibt es viele gute Bücher. Mir war es wichtig, die Unsicherheiten der täglichen Arbeit zu transportieren; die Tatsache, dass Du immer erst hinterher weißt, ob Du die richtigen Entscheidungen getroffen hast. Und eine Biografie kann das besser."
    Genug Stoff dafür liefert das Leben des inzwischen 66-Jährigen. Auf 330 großformatigen und eng beschriebenen Seiten beschäftigt er sich mit Afghanistan und dem Irak, dem Kongo und der Elfenbeinküste, Darfur, dem Kosovo, Haiti und dem Libanon - unter anderem. Dabei widersteht er jeder Art von Schönfärberei. Wochen und Monate hat Guéhenno etwa in den seit 1999 laufenden Friedenseinsatz im Kongo investiert; bis heute ist die UN-Mission dort mit fast 20.000 Kräften die weltweit größte ihrer Art. Doch seine Bilanz ist zwiespältig.
    "Ich bin sehr stolz auf das, was die UNO im Kongo geleistet hat. Aber ich bin auch enorm frustriert, denn die Politik im Kongo ist die gleiche wie früher. Der Staat ist schwach, und deshalb kann es jederzeit neue Kämpfe geben. Nach 15 Jahren Einsatz im Kongo ist das ein Scheitern."
    Schlüsselmoment bei Kongo-Frage
    Ein Schlüsselmoment, von dem Guéhenno schreibt, ist seine Entscheidung im Frühjahr 2003, UN-Truppen nach Ituri im Nordosten Kongos zu schicken, wo ein Völkermord drohte. Guéhenno beschreibt minutiös das Desinteresse im Sicherheitsrat, der mit dem Irakkrieg beschäftigt war; die Angst der Staaten, die Truppen entsenden; die riesigen Hoffnungen der Bevölkerung, die viel zu groß waren für das, was die Welt leisten konnte oder wollte. Vor allem aber die eigene Angst, die er als Kerndilemma der Friedenseinsätze beschreibt: Soll man eingreifen und eine Eskalation riskieren - oder abwarten und schlimmstenfalls ein neues Ruanda in Kauf nehmen?
    "Um Erfolg zu haben, braucht man politisches Engagement, so wie es im Kosovo der Fall war. Oder man braucht militärisches Engagement, so wie in Sierra Leone oder in Liberia. In Ländern wie dem Sudan, dem Südsudan oder dem Kongo ist das politische Engagement aber gering, und militärisch mögen 20.000 Blauhelme im Kongo nach viel klingen - aber in einem Land von der Größe Westeuropas ist das in Wirklichkeit nichts. Und mit geringem Engagement gibt es keinen Erfolg."
    Bislang verlassen sich gerade reiche Staaten darauf, dass Blauhelme aus den ärmsten Ländern der Welt die Kohlen aus dem Feuer holen. Auch die Reformpläne, die UN-Generalsekretär Ban Ki Moon gerade in New York vorgelegt hat, ändern im Grundsatz nichts daran. Eine schnelle Eingreiftruppe ist geplant, ein größerer Pool von knappem Material, und mehr Geld. Bessere Prävention aber, die viele Staaten und auch Guéhenno in seinem Buch fordern, bleibt umstritten.
    Denn Länder wie China befürchten die Einmischung der UN in innere Angelegenheiten. Guéhenno dagegen macht unmissverständlich klar, dass Friedenseinsätze im Kern nicht militärisch, sondern moralisch gerechtfertigt werden müssen. Für ihn gehören dazu: schnellere und zur Not militärisch robustere Einsätze der UN.
    Man hätte in Syrien entschieden eingreifen müssen
    "Nehmen Sie die Lage in Syrien heute. Hätte man zu Beginn der Krise entschieden eingegriffen, dann hätte man den Absturz Syriens in den Abgrund womöglich noch stoppen können. Heute bin ich mir nicht sicher, ob selbst ein großer Militäreinsatz die Krise beenden würde. Die Lage ist so verworren, dass man kaum sehen kann, wie man militärisch entscheidend eingreifen sollte."
    Diese Wirrnis, die im Nebel von Krieg und Frieden entsteht, nimmt Guéhenno zufolge zu. Auch deshalb, weil immer mehr nicht-staatliche Gruppen in Konflikte verwickelt sind und die bisherigen Strategien der UN nicht mehr passen. Das reihenweise Scheitern von Nationalstaaten und der Aufschwung von Gruppen wie dem sogenannten Islamischen Staat stellen die Welt vor neue, grundlegend andere Herausforderungen, sagt Guéhenno.
    "Es gibt große Teile der Welt, in denen heute unklar ist, was eigentlich den Staat ausmacht. Auch darum dreht sich mein Buch: Wie die internationale Gemeinschaft einen Weg da rausfinden kann, der ohne jahrhundertelange Gewalt auskommt."
    "The Fog of Peace" ist ein kluges Buch. Die Analyse Jean-Marie Guéhennos fußt auf jahrelanger Erfahrung. Sie wird nüchtern und spannend lesbar vorgetragen. Es ist zugleich ein wichtiges Buch. Denn eine Alternative zu den UN-Friedenseinsätzen ist in der konfliktreichen Welt von heute nicht in Sicht, gerade weil das Verhältnis zwischen Ost und West sich wieder verschlechtert. Koalitionen der Willigen oder Angriffe einzelner Staaten wie derzeit in Syrien oder im Jemen verschärfen die Lage nur. Und das kann niemand wollen.
    Jean Marie Guéhenno: The Fog of Peace.
    A Memoir of International Peacekeeping in the 21st Century. Brookings Institution Press, 331 Seiten, 23,80 Euro
    ISBN: 978-0-815-72636-4