Dienstag, 07. Mai 2024

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Kursiv: Mitläufer, Oppositionelle und die Creme der Partei

Sonderausgaben und Diskussionsveranstaltungen: das Jubiläum zum Fall der Mauer erfährt in Frankreich eine umfassende Würdigung. Die politische Literatur untersucht dabei vornehmlich, inwieweit die Deutschen ihre verbrecherische Vergangenheit aufgearbeitet haben.

Von Suzanne Krause | 02.11.2009
    Bei seiner Reise in die Vergangenheit, ins Berlin von 1989, landet Georges Marion mitten im Herzen der Demokratischen Republik. Im Alltagsleben der kleinen Leute. Sehr einfühlsam und farbig zeichnet er Porträts, spürt den Hoffnungen, den Brüchen und den Widersprüchen in deren Leben nach. Ganz so, als handele es sich um Helden eines Romans. Harald Jäger beispielsweise, der den Reigen der Porträtgalerie eröffnet. Jäger wollte eigentlich Spion werden. Ein Wunschtraum, den er sich nun bei der Stasi erfüllen kann. An der frisch errichteten Mauer findet er seinen Einsatzposten: bei der Ausweiskontrolle.

    Die Arbeit bestand aus viel Routine, aber es gab auch Möglichkeiten zum "Einsatz". Und das gefiel Harald besonders. Er musste Verbindungen aufdecken, die einen Besucher aus dem Westen eventuell mit einem bekannten Intellektuellen verband. Er musste unter den westlichen Touristen Mitglieder der Berufsgruppen ausmachen, die als Informanten in Betracht kamen. Die Ausweise von allein reisenden Frauen wurden mit besonderer Sorgfalt geprüft: Man wollte herausbekommen, ob sie Beziehungen zu in West-Berlin stationierten Soldaten hatten.

    Oder Ingo Bethke. Der hat für drei Jahre Armeedienst unterschrieben. Doch insgeheim sehnt sich der 18-Jährige, Sohn vorbildhafter Sozialisten, nach einem anderen Leben, in Freiheit, im Westen. So macht er nach einem Jahr Vorbereitungen rüber, über die Mauer. Wie später auch seine beiden jüngeren Brüder. Der Autor präsentiert dem Leser Mitläufer, Oppositionelle, die Creme der Partei. In sehr spannender und gut lesbarer Weise verwebt Georges Marion all die kleinen Geschichten zur großen Geschichte. Der der Mauer. Des Symbols, mit dem die SED-Führung die Bevölkerung des kleinen Staats zum Zusammenhalt zwingen wollte.

    Was mich erstaunte oder besser: Was ich vorher eigentlich schon wusste, aber nun bei meinen Recherchen erst wirklich begriff, war folgendes: Es gab bei den Deutschen, die damals Bewohner der DDR waren, eine große Bandbreite unterschiedlicher Ansätze, das sozialistische Alltagsleben zu betrachten, damit umzugehen. Zumindest hier in Frankreich denkt man, seit man die Bilder vom Mauerfall und der feiernden Massen gesehen hat, ein bisschen einseitig. Nämlich dass alle in der DDR nur auf den Mauerfall gewartet hätten und auf die Wiedervereinigung. Und ich glaube, die westdeutsche Politik hat diesbezüglich ein bisschen ins selbe Horn gestoßen, um zu zeigen, dass es letztendlich doch der Westen sei, der richtig lag.

    Das Mosaikwerk aus persönlichen Porträts ergänzt Marion mit der Darstellung der damaligen geopolitischen Lage. Zudem holt der Journalist, der unter anderem bei der französische Tageszeitung Le Monde mehrfach Staatsaffären enthüllte, interessante Details aus den deutsch-deutschen Beziehungen vor dem Mauerfall ans Licht. Und diese differenzierte Betrachtungsweise wirft auch ein Schlaglicht auf die Auseinandersetzung mit dem Thema in Frankreich, die heute einen andere ist, als im November 1989. Nach der ersten Verblüffung, reagierte die Bevölkerung zwar begeistert, nahm teil an der euphorischen Stimmung auf der anderen Rheinseite. In den Medien hingegen 1989 geriet die deutsche Wiedervereinigung noch zum Schreckensbild: Ein Wochenmagazin beispielsweise zierte sein Titelblatt mit zwei Soldatenstiefeln, die Ost- und Westdeutschland symbolisierten. Und die nun gemeinsam losmarschierten. Lange wurde dem damaligen sozialistischen Staatspräsidenten Mitterrand unterstellt, er habe die Wiedervereinigung verhindern wollen. Ein Eindruck, den Hélène Miard-Delacroix, Germanistikprofessorin an der Sorbonne, korrigiert. Den deutschen Wunsch nach der Einheit habe Mitterrand als normal und statthaft empfunden:

    Aber als Staatsmann hat er gemeint, dieser Prozess soll eingerahmt werden, kontrolliert werden. Das heißt, dass die schöne Verwirklichung des deutschen Selbstbestimmungsrechtes der Deutschen nicht das ganze europäische Gleichgewicht in Gefahr bringen dürfte. Und er hatte Angst davor, dass eine überstürzte Vereinigung Michail Gorbatschows Position so gefährden könnte, dass dann alles in einem Blutbad enden könnte.
    Zwanzig Jahre später steht der Mauerfall nun für etwas anderes, beobachtet Hélène Miard-Delacroix:

    "Viele Reportagen und Diskussionen betreffen auch Ungarn und die damalige Tschechoslowakei und Polen. Aber der Fall der Mauer wird zum Symbol der ganzen Entwicklung, die zwar vieles verändert hat, Osterweiterung der EU etc, aber insgesamt doch eine glückliche Geschichte ist. Und das wird so empfunden."

    Stimmen aus Frankreich über den deutschen Nachbarn. Das Buch "Berlin 1989" ist in der Edition du Seuil erschienen, der Autor ist Georges Marion, 252 Seiten für 19 Euro (EAN13: 9782020978897). Suzanne Krause hat es für uns gelesen.