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Kurzgeschichten
Mit einem Faible für starke, kluge, einsame Frauen

Edith Pearlman schreibt ausschließlich Kurzgeschichten. Die heute 79-jährige Autorin aus Brookline, Massachusetts, hat dabei ein Faible für starke, kluge und einsame Frauen. Auch wenn sie in dem jetzt auf deutsch erschienen Band "Honeydew" von traurigen Begebenheiten erzählt - so entlässt sie den Leser doch beschwingt.

Von Brigitte Neumann |
    Zwei Frauen auf einer Bank in Berlin, 2015
    Pearlmans Geschichten handeln von Frauen zwischen 50 und 80 Jahren. (picture alliance / dpa / Tim Brakemeier)
    Edith Pearlmans Geschichten möchte man am liebsten sofort weitererzählen, auch weil sich die Illusion, man sei dabei gewesen, kaum abstreifen lässt und weil sie auf einfache Weise kunstvoll erzählte unerhörte, auch traurige Begebenheiten enthalten aus dem Leben erfreulicher Menschen, viele zwischen 50 und 80 und noch dazu weiblichen Geschlechts. Nein, Edith Pearlman ist keine Feministin. Oder jedenfalls ist sie noch nie als solche hervorgetreten.
    Sie macht sich überhaupt rar. Warum erzählte sie vor ein paar Jahren einem Reporter vom "Boston Globe":
    "Für einen Schriftsteller ist es sehr wichtig, unauffällig zu bleiben. So ruhig und unauffällig wie nur möglich."
    Entsprechend dürftig ist die Faktenlage. Wir wissen, dass Edith Pearlman ihre unauffällige Schriftstellerexistenz drei Bücher lang, bis sie 75 war, durchhalten konnte. Dann erschien 2011 "Binocular Vision", ein Best-of-Edith-Pearlman, und vorbei war es mit der Unauffälligkeit. Die Autorin wurde förmlich überhäuft mit großen Literaturpreisen, darunter dem wichtigsten Branchenpreis, dem "National Book Critics Circle Award".
    Literaturstudium und schreiben im Keller
    Edith Pearlman, aufgewachsen in einer jüdischen Familie, verheiratet, Mutter zweier Kinder, wollte als junge Frau in den 50ern gerne in Harvard studieren, aber die Elite-Universität nahm damals - und übrigens bis 1975 - keine Frauen auf. Sie musste mit dem weniger gut ausgestatteten Schwesterinstitut, dem Radcliffe-College für Frauen, vorliebnehmen. Nach ihrem Literaturstudium dort arbeitete sie als Programmiererin, kochte in Suppenküchen und bediente in einem Klub. Manchmal, das hat sie in Interviews mit amerikanischen Zeitungen gesagt, ging sie Abends in den Keller, um zu schreiben - erst von Hand, später auf einer Schreibmaschine. So richtig aber erst mit 60.
    "Was zählte, war, wie man sein Leben anpackte, solange der Tod einen leben ließ, und wie man dem Tod begegnete, wenn das Leben einen losließ."
    Dieser Satz aus der Geschichte "Glückseliger Harry" könnte dem Buch als Motto dienen. Denn darum geht es, gleich, ob Edith Pearlman über Wachmänner, Fußpflegerinnen, Immobilienmaklerinnen, Lehrerinnen oder Professoren schreibt. Es geht um Sex, um Liebe, um Gefühle für Andere und wie man sich selbst durch sie erkennt. Austragungsort fast aller ihrer Geschichten ist der fiktive Bostoner Vorort Godolphin.
    Dort führt Rennie einen gut gehenden Antiquitätenladen. Sie hat sich auf viktorianischen Schmuck spezialisiert. Muffy und Stu Willis, geschwisterlich wirkende, wortkarge Eheleute Ende 70 mit feinem dünnem Haar "von einer Farbe wie Vaseline" - wie es heißt, kommen zwei Mal die Woche vorbei. Manchmal nur, um nett zu grüßen.
    "Und Muffys Stimme - sie war kaum hörbar. Man konnte denken, sie sei einmal fast erstickt und dann doch am Leben gelassen worden, solange sie ihren Wortschatz begrenzte und kaum atmete."
    Solch kleine, verletzende Beobachtungen sind das Markenzeichen von Rennie, der einzigen weiblichen Hauptfigur Pearlmans mit einem Hang zum Sarkasmus. Muffy probiert einmal ein mehrreihiges Diamantarmband an und ist sich nicht sicher, ob es ihr steht. Nach außen hin hält Rennie sich bedeckt, wie es so ihre Art ist, im Stillen aber denkt sie:
    "Natürlich stand es ihr genauso wenig, wie es einer Gemüsebürste gestanden hätte. Der Herr im Himmel allein wusste, was ihr stehen würde. Eine Transfusion, eine Dauerwelle, ein Hobby - Gärten, Bridge, Krimis, Kriminalität an sich ...?"
    Erst als Muffy Willis im Sterben liegt und nach Rennie verlangt, versiegt deren Sarkasmus und sie erkennt - zu spät - die Freundin in ihr. Rennie wird aus wechselnden Perspektiven gezeigt: Von innen, aus Sicht anderer Personen und aus der Vogelperspektive des allwissenden Erzählers. Das gilt für alle Hauptfiguren im Band "Honeydew" und ergibt ein plastisches Leseerlebnis - fast als wäre man dabei gewesen.
    Geschichten über Frauen
    Pearlman hat ein Faible für starke, kluge, einsame Frauen. So wie Rennie, so wie Ingrid. Die New Yorker Kauffrau und Witwe hat auch mit 72 immer noch Lust auf Männer, wie es in der Kurzgeschichte unter dem Titel "Stein" heißt.
    Chris, der Sohn ihres ersten Mannes aus einer früheren Verbindung ruft sie an, denn er braucht sie als Interims-Geschäftsführer für seine Holzfabrik auf dem Land. Bei Spaziergängen am Wochenende verliebt er sich in die noch immer schöne Frau, vielleicht auch weil seine Gattin depressiv ist. Ingrid genießt die Liebeswerbung, zieht in Erwägung, darauf einzugehen. Doch in einem stummen Dialog mit dem 30 Jahre jüngeren Chris entscheidet sie sich anders:
    "Ich sehe weiter als du. Ich sehe, das ich schwächer werde, missmutig. Ich sehe, wie du das Nachlassen deines Verlangens betrauerst. Und jenseits dieser erträglichen Zukunft sind die weniger angenehmen Aussichten: Ein Schlaganfall, Organversagen oder vielleicht werde ich in meiner Demenz eine komische Figur."
    Selten wurde die Resignation, die mit dem Alter einhergeht, mit mehr Würde beschrieben, als in dieser Geschichte. Um körperliche Hinfälligkeit anderer Art geht es in der titelgebenden Erzählung "Honeydew".
    Alice Toomey, die 43-jährige Direktorin eines privaten Mädchencolleges, ist in der sechsten Woche schwanger, und zwar vom Vater ihrer problematischsten Schülerin, der magersüchtigen Emily. Sie fürchtet um ihren Posten, wenn das herauskommt. Das Mädchen, 17, beste Leistungen, ist mit 45 Kilo immer an der Grenze zum Kollaps. Ihr Vater, Arzt und Anatomieprofessor, hat eine seltsam tiefenentspannt wirkende Haltung zum schleichenden Selbstmord seiner Tochter. Die ebenfalls spindeldürre Mutter ist ratlos und wütend. Emily ihrerseits stellt sich gerne vor, ein Insekt zu sein - sehr leicht, nahezu bedürfnislos und unauffällig.
    "Sie hatte gelesen, dass die Epidermis des Menschen nach Eintritt des Todes und vor dem Verwesungsprozess eine lederartige Härte entwickelte - wie Chitin -, und folglich den Käfern ähnlich wird, die sich über den zerfallenden Körper hermachen und so Fleisch in Kompost verwandeln."
    Anders als die Schildlaus, die in der Wüste lebt, Pflanzen frisst und in Honigtau - Honeydew - verwandelt. Als Emily in der Bibel von der Errettung der Israeliten durch Himmelstau liest, weiß sie, das war nicht Gott, das waren die Ausscheidungen einer Armee von Läusen. So ist das ganze Leben in ihren Augen: eine Lüge, auf der Basis von Scheiße. Und natürlich weiß sie, dass ihr Vater und die Direktorin ihre Schäferstündchen im Schulgebäude abhalten, ein paar Minuten entfernt von ihrem Zuhause.
    Ungenierte Beschreibung von Sex
    Wie In all ihren Kurzgeschichten beschreibt Edith Pearlman auch in "Honeydew" Sex ungeniert, saftig und liebevoll. Ebenso in "Zartfuß", der wunderbaren Eröffnungsgeschichte aus ihrem gerade auf deutsch erschienenen Sammelband. Der Kunsthistoriker Bobby Farraday ist frisch getrennt, neu in Godolphin und einsam, hat aber schon Kontakt mit seiner Nachbarin, der Fußpflegerin Paige, aufgenommen.
    "Manchmal stand er am Fenster und sah bei der Pediküre zu, aber meistens saß er auf dem Toilettendeckel wie der Besucher einer Peepshow. Er sah gerne zu, wenn die Kunden sich im Sessel entspannten, als würde die fast biblische Erfahrung sie in einen schaumigen Himmel transportieren."
    Bobby lässt sich einen Termin geben, legt Paige seine rissigen Füße vor, schläft während der Behandlung ein und träumt von einer "Zukunft voller fürstlicher Zuwendungen" während die Fußpflegerin ihre eigenen erotischen Interessen verfolgt. Da hält vor dem Schaufenster der Praxis ein Taxi an und Bobbys Frau steigt aus.
    Die 20 Kurzgeschichten von Edith Pearlman unter dem Titel "Honeydew" entlassen einen beschwingt ins Leben. Das liegt an der einzigartigen Erzählhaltung dieser Autorin: Die reife Milde, mit der sie Menschen betrachtet; die Versöhnlichkeit im Ton und die Atmosphäre des Einvernehmens mit der Welt. Edith Pearlman ist positiv, ohne flach zu sein. Hoffentlich hat sie uns noch viel zu erzählen.
    Edith Pearlman: "Honeydew", Kurzgeschichten, aus dem Amerikanischen übersetzt von Susanne Höbel, Ullstein Verlag, 320 Seiten, 20 Euro