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Labor: Legasthenie, Dyskalkulie
Neue Fördermethoden bei Lese-, Rechtschreib-, Rechenschwäche

Neueste Forschungen deuten darauf hin, dass Legasthenie und Rechenschwäche auf einer klinischen Störung im Gehirn beruhen. Experten setzen vor allem auf Frühförderung.

Von Susanne Lettenbauer | 16.05.2017
    Ein Grundschüler nimmt bei den Hausaufgaben im Fach Mathematik seine Finger zur Hilfe.
    Neueste Forschungen deuten darauf hin, dass Lese-Rechtschreibschwäche und Rechenschwäche auf einer klinischen Störung im Gehirn beruhen. Frühzeitige Therapie kann aber helfen. (dpa / picture alliance / Patrick Pleul)
    "Ich konnte B und D nicht unterscheiden, kann ich manchmal immer noch nicht, so hatte ich ein paar Buchstaben, die ich verdreht habe, und ich konnte nicht so schnell lesen wie die anderen, kann ich heute immer noch nicht. Beim schönen Schreiben und ich vergesse manchmal Wörter oder schreibe sie mehrmals auf. Mir fällt eigentlich nur das Schreiben und das Stifthalten schwer, eigentlich bei sonst nichts so richtig."
    Für Anton und Lucia bedeutet Lesen und Schreiben richtig Arbeit. Buchstaben unterscheiden, Wörter lesen – ein langer Text kann zur Mammutaufgabe werden, wenn nicht Lehrer oder Mitschüler helfen, sagt die Sechstklässlerin Lucia:
    "Also, mir hilft meine Banknachbarin auch, manche Texte zu lesen, die wirklich zu lang für mich sind, wir lesen da dann zusammen, damit es schneller geht und ich es besser verstehe, weil ich mir sehr viel merken kann, wenn ich es höre."
    "Sie leidet richtig, sie tut sich so schwer"
    Lucias Mutter fielen die Probleme gleich in der Grundschule auf, eine Lehrerin riet zum Legasthenie-Test, der positiv ausfiel. Seit dem offiziellen Test wird die Rechtschreibung bei Lucia nicht mehr bewertet, sie bekommt per Gesetz des Freistaats Bayern einen sogenannten Nachteilsausgleich und Notenschutz:
    "Lucia hat sich sehr, sehr viel Mühe gegeben in der Schule, aber obwohl wir so viel versucht haben und alles gemacht haben und ganz, ganz langsam, es ist nicht besser geworden. Also man hat gemerkt, sie leidet richtig, sie tut sich so schwer, sie möchte, es geht aber nicht."
    Wenn Anton und Lucia sich mühsam durch einen Text quälen, dann hat das nachweislich nichts mit Trägheit oder Schulunlust zu tun. Neueste Forschungen deuten darauf hin, dass Lese-Rechtschreibschwäche, die sogenannte Dyslexie, und auch die Rechenschwäche, wissenschaftlich Dyskalkulie genannt, auf einer klinischen Störung im Gehirn beruhen.
    "Relevante Hirnareale und Netzwerke sind fehlerhaft"
    Die für das Lesen und Schreiben relevanten Hirnareale und Netzwerke sind fehlerhaft, das könne man mit MRT-Untersuchungen, also per Hirnscan feststellen, sagt Gerd Schulte-Körne, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der LMU München:
    "Da sind tatsächlich Prozesse gestört in der frühen Hirnentwicklung und vor allem auch in Hirnarealen, die fürs Lesen und Schreiben relevant sind, allerdings kann man nicht annehmen, dass es ausschließlich in diesen Hirnarealen ist, sondern die neuronale Migrationsveränderung oder -störung wirkt sich auch auf andere Hirnregionen aus."
    Da es keine Medikamente gegen Legasthenie und Rechenschwäche gibt, brächte nur viel Üben das Erfolgserlebnis, erklärt Schulte-Körne, und zwar schon ab einem Alter von drei Jahren.
    "Besonders wichtig bei Legasthenikern: das altbewährte Vorlesen"
    Frühförderung sei extrem wichtig. Darin sind sich die Psychologen einig, die kürzlich auf ihrem Jahrestreffen in München über neue Forschungsergebnisse diskutierten. Besonders wichtig sei bei Legasthenikern das altbewährte Vorlesen, sagt die britische Forscherin Maggie Snowling von der Universität Oxford:
    "Wir empfehlen den Eltern, ihren Kindern vor allem Buchstabenlaute beizubringen, am besten mit Klangspielen wie Reimen oder Alliterationen. Sie sollen vor allem viel mit den Kindern lesen, damit das Leseverständnis entwickelt wird."
    Auch eine neue Studie der Universität Kaiserslautern bestätigt die Wirksamkeit des gemeinsamen Vorlesens, Kinder entwickeln dadurch nicht nur einen reicheren Wortschatz bereits vor der Schule, sondern auch eine größere Vertrautheit mit Buchstaben, so Studienleiter Thomas Lachenmann. Er entwickelte auch das Software-Trainingsprogramm Lautarium, bei dem Laute und Buchstaben miteinander verknüpft werden.
    "Tiss, tall, doff. ... Bra, dra."
    Täglich 20 Minuten selbstständiges Lernen
    Damit können Kinder auch selbstständig das Erkennen von Buchstaben üben, jeden Tag rund zwanzig Minuten über mehrere Monate hinweg. Über sechs Jahre lang haben Lachenmann und seine Mitarbeiter das Lernprogramm immer wieder überarbeitet und auf Wirksamkeit getestet - mit Erfolg, so der Forscher:
    "Zum Beispiel die Lesegeschwindigkeit, die Lesegenauigkeit, die Rechtschreibung oder auch die phonologische Verarbeitung an sich. Da gibt es ein ganz differenziertes Bild. In den überwiegenden Bereichen profitiert die Mehrheit der Teilnehmer davon, in manchen Bereichen mehr, in manchen weniger. Aber der Effekt ist wirklich durchschlagend, sodass wir sehr zufrieden sind mit diesem Programm."
    Inklusive Betreuung - Teil der Therapie
    Ein in den USA entwickeltes, neues Stufenmodell versucht, Frust bei den betroffenen Schülern zu verhindern und ihnen beim Umgang mit den Defiziten zu helfen. So starte man anfangs gemeinsam mit allen Erstklässlern in den Unterricht, erklärt der Münchner Kinderpsychiater Schulte-Körne. Erst wenn man feststellt:
    "Aha, hier gibt es einzelne Kinder, die mit dieser Unterrichtsmethode nicht zurechtkommen, die vielleicht mehr brauchen, die sollte man dann in kleineren Gruppen spezifischer fördern, mit einer intensiveren Methode. Und wenn das nicht ausreicht, ist vielleicht auch eine dritte Stufe notwendig, wo man mit speziellen Förderkonzepten intensiv, vielleicht auch nur einzeln, die Kinder entsprechend fördert."
    Spezielle Förderklassen allerdings, wie es sie in der DDR gab oder in Baden-Württemberg und heute wieder im Freistaat Sachsen, hält Schulte-Körne nicht für sinnvoll. Eine inklusive Betreuung durch qualifizierte Lehrkräfte und eine Einbeziehung in das normale Schulleben sei Teil der Therapie und deshalb wichtig.