Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Lage in Flüchtlingslager Zaatari hat sich "dramatisch verbessert"

120.000 Syrer leben in dem Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien. Kriminalität und Gewalt sind inzwischen gesunken, berichtet der Leiter des Camps, Kilian Kleinschmidt. Denn die Versorgung sei gut und die Menschen fänden sich langsam damit ab, länger dort bleiben zu müssen.

Kilian Kleinschmidt im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 20.07.2013
    Jürgen Zurheide: Mehr als 1,7 Millionen Syrer haben das Land nach dem Bürgerkrieg inzwischen verlassen. Davon sind fast 500.000 nach Jordanien gekommen, und Jordanien selbst, muss man sagen, ist ein Land, in dem es an vielem fehlt. Und dazu jetzt noch 500.000 Flüchtlinge. Wir wollen über die Lage etwas näher reden. Wir wollen fragen, wie leben denn die Menschen? Es gibt eines der größten Flüchtlingslager in Jordanien, in Zaatari ganz genau, und der "Bürgermeister" dort ist ein Deutscher. Er ist jetzt am Telefon, Kilian Kleinschmidt. Zunächst einmal schönen guten Morgen, Herr Kleinschmidt!

    Kilian Kleinschmidt: Ja, guten Morgen nach Deutschland!

    Zurheide: Herr Kleinschmidt, Sie sind "Bürgermeister" in diesem Ort. 120.000 Entwurzelte auf knapp neun Quadratkilometern. Das sind die äußeren Bedingungen. Ansonsten leben die Menschen dort in der Wüste. Beschreiben Sie, wie die Lage im Moment ist.

    Kleinschmidt: Die Lage hat sich, wollen wir mal so sagen, dramatisch verbessert in den letzten Monaten. Zaatari war bekannt für sehr schwierige Lebensbedingungen, dafür auch, dass es große Spannungen gab, dass die Flüchtlinge oft demonstriert haben, auch gewalttätig demonstriert haben. Viele Mitarbeiter der Hilfsorganisationen wurden verletzt oder bedroht. Auch die Polizei hatte große Schwierigkeiten. Das bessert sich jetzt. Es bessert sich dadurch, dass die Lebensbedingungen einmal im Grunde eigentlich vernünftig sind, und zweitens, dass man auch gemerkt hat, wir bleiben zusammen für eine Weile.

    Zurheide: Wie ist denn die Lage, das heißt insgesamt, die Menschen müssen davon ausgehen, nein, wir kommen nicht so schnell zurück, wie sie es vielleicht ursprünglich gehofft haben. Stellen sie sich darauf ein, dass sie dort bleiben müssen?

    Kleinschmidt: Ja, wir merken einen großen Unterschied in der Auffassung der Menschen gegenüber dem, was in Syrien passiert. Vor wenigen Monaten – ich bin seit vier Monaten jetzt in Zaatari – haben sie alle gesagt, wir werden nicht mit euch zusammenarbeiten, wir sind nur kurz da, wir werden gehen, wir gehen. Viele gehen auch, aber sie merken jetzt, ja, es gibt keinen Gewinner und es gibt keinen Verlierer in diesem Konflikt.

    Zurheide: Sie haben zunächst in Zelten gelebt, inzwischen haben Sie Container aufgestellt. Wie muss man sich das Leben ganz praktisch vorstellen, also wenn, die Menschen wissen ja, wir kommen doch nicht so schnell zurück. Bildet sich da so etwas wie ein halbwegs normales Leben? Ist das möglich?

    Kleinschmidt: Ja, also jetzt haben sich da viele Familien so eingerichtet, dass sie jetzt ihre temporäre neue Heimat einrichten, das heißt, stellen zwei oder drei von diesen Containern, wenn sie das schaffen, zusammen. Es wird ein kleiner Hof eingerichtet. Da wird auch inzwischen, das mag man in Zaatari natürlich nicht so sehr, auch inzwischen zementiert. Und oft auch dann wird investiert in eine Küche, ein privates Bad, eine Toilette. Es gibt auch inzwischen in den meisten von diesen Wohncontainern einen Fernseher, einen leider illegalen Stromanschluss, der sich an unser Straßenbeleuchtungssystem angezapft hat. Aber insgesamt kommt für viele so ein Gefühl der Normalität rein, und das heißt auch, dass man wirklich zusammenarbeitet, dass sie auch dazu bereit sind, zu investieren in Strukturen, in Dialog, und ein besseres Verhältnis jetzt auch mit der jordanischen Autorität aufzubauen, die ja nun eigentlich verantwortlich ist.

    Zurheide: Da kommen wir gleich noch drauf, aber erst mal, wovon können die Menschen überhaupt leben? Es hat ja auch Kriminalität gegeben, aber im Zweifel deshalb, weil wahrscheinlich gar nichts anderes bleibt. Welche Möglichkeiten, Geld zu verdienen, gibt es denn überhaupt da?

    Kleinschmidt: Also erst mal muss man ja klar sagen, dass alles, was die Menschen im Grunde brauchen zum Überleben, von uns geliefert wird. Das Lager kostet pro Tag bis zu einer Million Dollar, das heißt, Lebensmittel werden kostenlos verteilt, es gibt Wasser, es gibt Gesundheitsversorgung, Krankenhäuser, Kliniken und so weiter. Also im Grunde wird für alles, für alle Grundbedürfnisse gesorgt. Und das ist für uns ein Erfolgserlebnis, denn das schaffen wir nur in wenigen Lagern dieser Welt. Aber natürlich gibt es dann Bedürfnisse, zusätzliche Bedürfnisse, für die man Geld braucht. Viele sind mit Geld gekommen, das läuft aber dann aus nach einer Weile, andere versuchen sich durch Gelegenheitsjobs auch mit den Hilfsorganisationen etwas dazuzuverdienen.

    Und dann gibt es natürlich diese kriminellen Strukturen und Individuelle, die Probleme, dass gestohlen wird oder gehandelt wird. Viele von den Menschen kommen aus einer Gegend in Südsyrien, wo sie handeln. Das heißt, es wird verkauft und weiter gehandelt, und als solches gibt es schon ein Einkommen. Die Kriminalität ist nicht auf das Fehlen von Möglichkeiten zurückzuführen, sondern eher auf insgesamt, ich meine, ein Gewaltpotenzial, das im Augenblick in unserer Bevölkerung noch ist.

    Zurheide: Jetzt haben Sie angesprochen, dass die Grundbedürfnisse gedeckt sind, was auf der einen Seite sicher sehr positiv ist, auf der anderen Seite kann es ja keine dauerhafte Lebensperspektive sein. Jetzt sprechen wir über das, was in Jordanien möglich ist. Jordanien, ich hab es gesagt, ist ein Land, wo schon fast 500.000 Flüchtlinge insgesamt leben und auch andere Probleme herrschen. Wie kann denn das Land überhaupt damit umgehen?

    Kleinschmidt: Sehr schwierig. Also, Sie müssen sich mal vorstellen, dass da in Zaatari natürlich 120.000 Menschen leben. In der Region, wo Zaatari liegt, gab es vor dem Ankommen der Flüchtlinge insgesamt 60.000 Menschen lokale Bevölkerung. Inzwischen ist die Gesamtbevölkerung in dieser Gegend auf 240.000 angestiegen, das heißt 180.000, das Lager eingeschlossen, sind Syrer. Das heißt, die gesamte Infrastruktur ist dort überlastet, ausgelegt für 60.000 Menschen, jetzt 180.000 mehr dazu. Es ist insgesamt sehr schwierig. Wasser, Krankenhäuser sind belegt, Schulen werden von syrischen Kindern besucht. Und das heißt, für Jordanien ist das eine sehr schwierige Aufgabe, damit umzugehen. Auch der lokalen Bevölkerung klar zu machen, dass sie weiterhin gastfreundlich sein sollen. Was natürlich im Norden von Jordanien etwas normaler ist, weil man natürlich auch Familienbeziehungen hat mit Familien von der anderen Seite.

    Zurheide: Wenn ich Sie zum Schluss jetzt frage, in Deutschland gibt es eine Diskussion darüber, 5000 Flüchtlinge aus Syrien sollen nach Deutschland kommen, und da heißt es dann manchmal, wir können das kaum schultern. Wenn Sie solche Sätze hören, was geht Ihnen dann durch den Kopf angesichts der Lage, die Sie tagtäglich sehen?

    Kleinschmidt: Sie müssen sich mal vorstellen, dass also die Zahl der Flüchtlinge, wenn man sie im Vergleich zum Beispiel zu der Bevölkerung der USA nimmt, das wäre, als ob die USA 75 Millionen Flüchtlinge aufnehmen müssten. Also das ist das jordanische Verhältnis. Als solches sind natürlich 5000 eine kleine Zahl, und mehr muss getan werden und kann getan werden von Ländern in Europa. Deswegen fordern wir zu mehr Solidarität auf, nicht nur in Deutschland, aber auch anderswo in der Welt.

    Zurheide: Das war Kilian Kleinschmidt, der "Bürgermeister" der 120.000-Einwohner-Stadt Zaatari, der für die UN dort versucht, das zu tun, was man den Menschen antun kann, das man ihnen helfen kann. Herr Kleinschmidt, ich bedanke mich für das Gespräch heute Morgen, auf Wiederhören!

    Kleinschmidt: Auf Wiederhören!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.