Donnerstag, 25. April 2024

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Lager in Nordsyrien
Europa tut sich schwer mit den IS-Rückkehrern

In Lagern wie Al Hol und Roj im Nordosten Syriens sitzen derzeit auch Hunderte ehemalige IS-Kämpfer aus europäischen Ländern, sowie deren Angehörige. Die Lebensbedingungen sind schlecht, Nichtregierungsorganisationen drängen auf rasche Rückführungen, doch die EU-Länder zögern.

Von Burkhard Birke | 09.05.2021
Das Lager Roy im Nordosten Syriens, Foto aus dem Jahr 2019
Über 200 Deutsche sollen sind noch in den Lagern im Nordosten Syriens befinden, Foto des Lagers Roy aus dem Jahr 2019 (picture alliance/AP Photo/Maya Alleruzzo)
Wie Guantanamo – nur schlimmer, denn in Guantanamo gab es weder Kinder noch Frauen. Marc Lopez spricht von den Lagern Al Hol und Roj im Nordosten Syriens. Al Hol war für 10 000 Personen ausgelegt, heute halten sich dort mehr als 70.000 Menschen auf, in Roj sind nach Angaben der für die Lager zuständigen kurdischen Selbstverwaltung 13.000 Personen untergebracht: Flüchtlinge, aber auch ehemalige Kämpfer des so genannten Islamischen Staats, ihre Frauen und Kinder. Maya Foa, Direktorin der britischen Nichtregierungsorganisation "Reprieve", war kürzlich vor Ort:
"Die Bedingungen in den Lagern sind sehr schlecht. Es gibt kaum Zugang zu medizinischer Versorgung, die Kinder bekommen nicht ausreichend Nahrung, es gibt kaum schulische Bildungsangebote. 517 Menschen, die meisten davon Kinder, sind 2019 allein in einem der Lager gestorben. Das unterstreicht die Gefahr für Familien dort."
Zu den Gefährdeten gehören auch die Schwiegertochter und vier Enkelkinder von Marc Lopez. Der pensionierte Franzose ist einer der Sprecher des "Collectif des Familles Unies". Darin haben sich in Frankreich 130 Familien zusammengeschlossen, deren Angehörige nach Syrien ausgereist waren – einige, um für den Islamischen Staat zu kämpfen, andere, um ihre Männer zu begleiten.
Ziel des Collectifs ist es, ihre Familienangehörigen, vor allem die minderjährigen Kinder, zurückzuholen. Seit dem militärischen Sieg der SDF, der Syrisch Demokratischen Kräfte, gegen den so genannten Islamischen Staat vor drei Jahren werden diese von der kurdischen Selbstverwaltung gegen ihren Willen in überfüllten Lagern gehalten und streng überwacht.
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Auch in anderen Ländern wie Deutschland, Dänemark oder Kanada haben sich Familien organisiert, mit dem Ziel, ihre Angehörigen aus Nordostsyrien zurückzuholen. Alexandra Bain von FAVE, Families against violent Extremism, Familien gegen gewalttätigen Extremismus, aus Kanada:
"Wir haben mit den Familien von zehn ausgereisten kanadischen Frauen, vier Männern und 19 Kindern zusammengearbeitet. Wir wollen natürlich auch anderen Frauen mit Kindern helfen. Wir verlangen die Rückführung aller Kanadier. Die Kurden haben nicht die Kapazitäten, sie vor Gericht zu stellen, sie dort zu lassen widerspricht allen humanitären Gesetzen und wir möchten, dass sie so schnell wie möglich nach Hause kommen."
Die Bemühungen waren bislang von sehr mäßigem Erfolg gekrönt. Nur zwei Kleinkinder konnten nach Kanada zurückgeholt werden.

Deutschland hat in Syrien keine konsularische Präsenz mehr

In Deutschland schalteten einige Familien einen Anwalt ein. Sie waren der Meinung, die Bundesrepublik sei verpflichtet, ihre Bürgerinnen und Bürger zurückzuholen. Anwalt Dirk Schoenian klagte das Recht auf Rückholung für einige der Betroffenen erfolgreich ein.
"Menschenrechte sind nicht teilbar. Auch wenn deutsche Staatsangehörige verdächtigt sind, Straftaten im Ausland begangen zu haben oder sich an solchen beteiligt zu haben, bleiben sie Grundrechtsträger. Deutsche Staatsbürger haben einen grundsätzlichen Rechtsanspruch auf konsularische Hilfe durch den deutschen Staat, jedenfalls dann, wenn Leib und Leben unmittelbar bedroht sind. In diesen Fällen besteht für die Bundesregierung nach meiner Auffassung kein Ermessensspielraum mehr."
Was allerdings, wenn – wie das Auswärtige Amt vor Gericht und gegenüber dem Deutschlandfunk bekräftigte – die Bundesregierung keine konsularische Präsenz mehr in Syrien hat? Bis heute laufen Berufungsverfahren gegen die gerichtlich angeordneten Rückholungen. Die Bundesregierung hat zwischen August 2019 und Dezember letzten Jahres in drei verschiedenen Aktionen insgesamt vier Frauen und 19 Kinder nach Deutschland gebracht: Extrem wenig, denn:
"Man geht davon aus, dass sich etwa 30 Männer, 50 Frauen und 150 Kinder in den kurdisch verwalteten Lagern und Gefängnissen im Nordosten Syriens noch befinden."
Sagt Sofia Koller von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Für das Gros der europäischen und kanadischen Staatsbürger zeichnet sich keine Lösung ab, auch wenn Belgien zuletzt gelobt hat, ähnlich wie Finnland, Kinder zurückholen zu wollen.

Andere Länder haben längst reagiert

Dabei gibt es auch Beispiele für rasche, unbürokratische Rückführungen: Usbekistan, Bosnien, Kosovo und die USA waren praktisch die ersten, die sämtliche ihrer Staatsbürger aus Nordostsyrien in die Heimat zurückgeholt und – je nach Fall - auch entsprechende juristische Schritte gegen die Betroffenen eingeleitet haben. Thomas Renard vom belgischen Think Tank "Egmont Institute" befasst sich seit Jahren mit der Problematik europäischer Staatsbürger, die zum Dschihad nach Syrien ausgereist waren, und in ihren Heimatländern nun nicht mehr willkommen sind.
"Alle europäischen Staaten haben bislang weitgehend die Appelle ignoriert, ihre Bürger zurückzuholen, vor allem die Männer, aber auch die Frauen. Für die Rückholung der Kinder ist man zwar offener, aber die Kurden wollen die Kinder nicht von ihren Eltern trennen. Hinzu kommen logistische, diplomatische und administrative Probleme für die Rückholung dieser Menschen. Das hat dazu geführt, dass in den letzten beiden Jahren nur eine ganz geringe Zahl Frauen und Kinder in ihre Heimatländer zurückgeholt wurden."
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Die Lage in Camp Al Hol, aber auch in dem angeblich etwas besser ausgestatteten Camp Roj wird unterdessen immer dramatischer. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht sprach das Kinderhilfswerk UNICEF von insgesamt 22.000 Kindern, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern wie Al Hol leben. Die meisten dieser Kinder stammen aus Syrien und dem Irak. Mehr als ein Drittel von ihnen sind jedoch Kinder von ausländischen IS-Kämpfern, sagt Sonia Khush, Regionalleiterin der Kinderschutzorganisation Save the Children.
"In Nordostsyrien gibt es mehr als 11.000 Ausländer, darunter etwa 8000 Kinder. Die meisten dieser Kinder sind nicht einmal fünf Jahre alt. Diese Kinder hängen in Syrien fest; sie sind Opfer des Konfliktes und sollten entsprechend behandelt werden. Ich betrachte diese Kinder als das erste Opfer des Islamischen Staates, weil sie enorm unter den Entscheidungen der IS Leute gelitten haben. Diese Kinder brauchen spezielle Betreuung, um sich zu erholen und zu einem normalen Leben zurückzukehren, das sie in überfüllten Lagern wie Al Hol und Roj nicht finden können."

Ein Zehntel mit europäischer Staatsbürgerschaft

Von den erwähnten 11.000 Ausländern besitzt etwa ein Zehntel eine europäische Staatsbürgerschaft, so schätzt Thomas Renard vom Egmont Institute – unter ihnen befinden sich ca. 680 Kinder. Die Männer sitzen meist in kurdischen oder irakischen Gefängnissen.
Lange blieben die Lager in Nordostsyrien von der Corona-Pandemie weitgehend verschont. Doch seit Anfang April spitzt sich die Lage dramatisch zu. Sonia Khush von Save the Children:
"Sowohl in Al Hol als auch in Roj gibt es Fälle von Covid. Besonders alarmierend ist dabei, dass binnen eines Monats die Zahlen in Roj von 0 auf 81 hochgeschnellt sind. Die Gesundheitsversorgung in Syrien liegt am Boden. Das bedeutet, es gibt keine adäquate Versorgung für Corona-Patienten."
Auch außerhalb der Lager wütet die Pandemie immer schlimmer. Die gesamte Region Rojava ist betroffen.
"Die Lage ist katastrophal. Es fehlt an allem: Angefangen bei FFP2 Masken bis hin zu Impfstoff. Der Notfallmediziner Michael Wilkes vor Ort, der hat auch betont, falls nicht bald internationale Unterstützung eintrifft, sind die Folgen fatal fürs Personal, aber auch für die Bevölkerung."

IS-Gefangene als Verhandlungsmasse?

Khaled Davrisch ist Vertreter von Rojava in Deutschland, sozusagen Emissär der kurdischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien. Die Kurden, die eine Schlüsselrolle beim Sieg über den so genannten Islamischen Staat gespielt haben, streben nach Anerkennung. Sehen sie die in Lagern wie Al Hol und Roj gehaltenen IS-Gefangenen als eine Art Verhandlungsmasse, um kurdische Interessen endlich international platzieren zu können? Khaled Davrich:
"Wir sind bereit und offen für Gespräche, diplomatische Gespräche, was die Frauen und Kinder angeht zur Rückführung in ihre jeweiligen Länder. Wir haben gesehen, dass der usbekische Staat mehr als 93 Frauen und Kinder abgeholt hat. Da ist man halt immer bereit. Es kommt immer darauf an, was die Länder tatsächlich auch von sich hergeben. Es kann ja nicht sein, dass die anderen Länder alles relativ problemlos erledigen können, nur halt die Europäer sich hier tatsächlich schwermachen, mit der Begründung: Es gibt keine Ansprechpartner vor Ort."
Mit zu engen Kontakten zur kurdischen Selbstverwaltung würden die europäischen Regierungen ganz offensichtlich den türkischen NATO-Partner vor den Kopf zu stoßen. Das Argument fehlender konsularischer Vertretung hat – neben anderen – stets auch bei den von Anwalt Dirk Schoenian angestoßenen Gerichtsprozessen zur Rückholung deutscher Staatsbürger eine Rolle gespielt.
"Zu Anfang war es das Argument, man verfüge über keine diplomatische bzw. konsularische Vertretung mehr vor Ort. Dann war es das Argument, dass man zur Autonomieverwaltung keinen direkten Draht habe und sich deswegen vor Ort verschiedener Nicht-Regierungsorganisationen bedienen müsse und das eben nicht verlässlich sichergestellt werden konnte. Und dann war es das Argument, dass man bezüglich der minderjährigen Kinder, die in Syrien geboren worden sind, und das betrifft praktisch so gut wie alle Frauen, die vor Ort in einem der Lager interniert sind, dass man dort DNA Abgleiche durchführen müsse, weil man ja schließlich nicht wisse, dass dies tatsächlich die Kinder dieser Frauen seien. Und jetzt ist es natürlich, wie zu erwarten war, die Corona-Krise."
Syrien / al-Hawl Camp /// Frauen im al-Hawl Camp betteln am Zaun nach Brennmitteln, die sie zum Kochen benutzten. Das al-Hawl Camp, hier die Abteilung für Frauen und Kinder aus überwiegend europäischen und russischen Gebieten, liegt zwischen al-Hasska und der irakischen Grenze. Hier sind etwa 72.000 Menschen untergebracht, die vormals in den syrischen Gebieten des sogenannten "Islamischen Staates" lebten.
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Und tatsächlich teilt das Auswärtige Amt in einer Stellungnahme auf Anfrage des Deutschlandfunks mit:
"Wir arbeiten derzeit mit Hochdruck daran, die Ausreise deutscher Kinder aus Nordost-Syrien zu ermöglichen. Wir haben jedoch weiterhin keine konsularische Präsenz in Syrien und damit auch keinen konsularischen Zugang in Nordost-Syrien. Es gilt deshalb unverändert, dass wir für die Unterstützung und insbesondere die Rückholung der Betroffenen auf die Mitwirkung einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure angewiesen sind. In den Fällen erwachsener mutmaßlicher IS-Anhängerinnen und -Anhänger können sich weitere schwierige Fragen stellen. Hierzu zählen auch Strafverfolgungsansprüche gegen IS-Anhänger, die unter Umständen vor Ort bestehen."
Argumente, die für Dirk Schoenian nur vorgeschoben sind, um sich der Pflicht zur Rückholung der eigenen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu entziehen. Sofia Koller, Expertin für Konfliktforschung und Terrorismusbekämpfung bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, DGAP, sieht das ähnlich.
"Ich denke aber, dass das hauptsächlich politische Argumente sind, denn kurz vor Weihnachten im letzten Jahr hat die Bundesregierung drei deutsche Frauen, deren fünf Kinder und sieben Waisen erfolgreich zurückgeholt in einer Aktion mit den Finnen. Und dabei wurde wohl auch in Kauf genommen, dass gegen einige der Frauen strafrechtlich ermittelt wurde, aber eben noch kein Haftbefehl vorlag. Das heißt, die Rückführung ist praktisch möglich, auch wenn die Aktion sicherlich schwierig war und lange vorbereitet wurde, aber die bisherige Argumentation wirkt dadurch für mich wenig glaubhaft."

Rückkehrter als Sicherheitsrisiko?

Die Familien der betroffenen Frauen und Kinder sind wegen des Hin und Hers verzweifelt, wie die Schwester einer Betroffenen erzählt:
"Zum einen wurde angeführt, dass die kurdische Regierung dort die Inhaftierten selbst vor Gericht stellen möchte, für alle über 18-Jährigen. Der zweite Grund, der kam jetzt relativ neu dazu: Die waren vorher im Camp Al Hol, jetzt sind sie in einem Annex von Camp Roj und die Lage in Al Hol war wesentlich schlimmer, da gab es einfach sehr große humanitäre Misslagen und darauf aufbauend, dass sie jetzt in dem Annex sind, herrsche keine Gefahr mehr für Leib und Leben."
Genau das Argument der Gefahr für Leib und Seele hatte nämlich zuvor dazu geführt, dass das Oberverwaltungsgericht Berlin die Bundesregierung auch zur Rückholung der Erwachsenen verurteilt hatte. Die Berufungsprozesse laufen noch. Doch nicht nur die Bundesregierung, auch die meisten anderen europäischen Staaten setzen auf eine Art Verzögerungstaktik – auch aus Angst sich tickende Zeitbomben, den Terrorismus ins Land zu holen? Anthony Dworking von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations:
"Die meisten Staaten glauben, dass die Männer, aber auch die Frauen ein Sicherheitsrisiko darstellen könnten. Einige bleiben radikalisiert und ihren Einstellungen treu, die sie überhaupt zum Islamischen Staat geführt haben. Und die europäischen Staaten wissen nicht, wie sie mit solchen Heimkehrern umgehen sollen. Einige könnten sicher verurteilt und ins Gefängnis gesteckt werden, bei anderen könnte das mangels Beweisen schwer werden."

Könnte Europa ein Sondertribunal vor Ort mitfinanzieren?

Zwischen 5000 und knapp 6000 Europäer sind – je nach Schätzung - im Laufe der Jahre nach Syrien in den Kampf für den sogenannten Islamischen Staat gezogen. Aus Frankreich kamen allein cirka 2000, aus Deutschland angeblich 1070. Ein Drittel von ihnen ist vermutlich im Kampf gefallen, ein weiteres Drittel ist im Laufe der Jahre zurückgekehrt, der Rest auf der Flucht oder in Lagern und Gefängnissen in Nordsyrien und im Irak. Einer von diesen Kämpfern war der Sohn von Marc Lopez. Gemeinsam mit zehn weiteren Franzosen wurde er 2019 von Syrien in den Irak gebracht und dort in einem fünfzehnminütigen Eilverfahren zum Tode verurteilt. Derzeit wartet er im Gefängnis auf die Berufung im Verfahren.
"Wir glauben, dass Gefangene unabhängig ihrer Vergehen Anspruch auf einen fairen Prozess, eine Verteidigung haben. In Deutschland sind unlängst Syrer für Verbrechen in Syrien verurteilt worden. Wir verlangen nicht mehr und nicht weniger als dieses Prinzip auch auf die europäischen Bürger anzuwenden."
Blick in eine Ausstellung mit - hier nicht gut zu erkennenden - Fotos von Folteropfern in Syrien, die von einem forensischen Fotografen mit dem Decknamen Caeser an die Öffentlichkeit gebracht wurden, aufgenommen am 8. Juli 2020 in der privaten North University in Sarmada in Idlib
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Denn oft war und ist als Argument – auch von offizieller Seite zu hören – die Verbrechen sollten dort geahndet werden, wo sie begangen wurden, vor allem da die Beweisführung fernab vom Ort des Geschehens schwierig würde.
Khaled Davrisch von der kurdischen Selbstverwaltung in Nordsyrien: "Wir sagen immer wieder: Wir sind für ein Sondertribunal, was gemeinsam mit uns errichtet werden könnte. Wichtig ist, dass man überhaupt erst einmal über ein Sondertribunal Gespräche sucht, dass man die Selbstverwaltung mit in die Gespräche einbezieht. Es ist ja halt wichtig für uns, weil wir sagen: Die Taten wurden ja nicht auf europäischem Boden begangen, sondern bei uns hier. Die Bevölkerung hat darunter gelitten. Dafür muss es auch eine internationale Anerkennung geben und das ist halt wichtig und das müssen auch die Europäer und die Länder begreifen."
Der Vorschlag eines auch von Europa mitfinanzierten Tribunals steckt auch deshalb in einer Sackgasse, weil es durchaus unterschiedliche Rechtsauffassungen gibt und im Irak die Todesstrafe gilt.

Über zehn Prozent der bisherigen Rückkehrer gelten in Deutschland als Gefährder

Unterdessen sind viele ehemalige IS-Kämpfer ohnehin schon zurückgekehrt. Sofia Koller von der DGAP:
"Von den 350 Rückkehrenden haben die Sicherheitsbehörden in Deutschland 48 als Gefährder eingestuft und 64 Personen als relevante Personen eingestuft. Das ist immerhin etwa 40 Prozent. Und zum Beispiel liegen auch gegen acht Frauen, die in Syrien oder im Irak sind, Haftbefehle vor, aber auf der anderen Seite gibt es viele Rückkehrende, die schon desillusioniert sind, die sich bereits vom IS distanziert haben – das teilweise auch schon vor ihrer Rückkehr. Und mit vielen Rückkehrenden arbeiten bereits Ausstiegsprogramme in ganz Deutschland, die helfen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren."
Nicht alle Staaten stellen die Reintegration in den Vordergrund, obwohl die Strafrückfälligkeit nach Studien des Egmont Institutes in Brüssel bei nur etwa fünf Prozent liegt. Frankreich, Belgien und die Niederlande verfolgen alle Rückkehrer strafrechtlich. Großbritannien geht einen Zwischenweg, hat allerdings zahlreichen zum Dschihad Ausgereisten die Staatsbürgerschaft aberkannt – dabei verstöße es gegen die Menschenrechte, wenn Bürger dann staatenlos werden, betont Maya Foa von "Reprieve". Die Organisation hat kürzlich Fälle britischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger untersucht.
"Die von uns untersuchten Frauen und Kinder waren in zwei Dritteln aller Fälle Opfer von Menschenhandel. Statt die Menschen einzusperren, sollten wir sie unterstützen und als Opfer schützen."
In der Tat wurden viele, oft minderjährige Frauen, mit IS-Kämpfern gegen ihren Willen verheiratet und zur Ausreise nach Syrien gezwungen. Kann oder muss man sie zur Rechenschaft ziehen? Sollte man bei der Rückholung unterscheiden zwischen Männern, Frauen und Kindern? Sofia Koller von der DGAP sagt: nein. Sie fordert:
"Konkret sollte die Bundesregierung schnellst möglich alle verbleibenden 150 deutschen Kindern zurück nach Deutschland holen und auch andere europäische Regierungen bei ähnlichen Bemühungen unterstützen. Zweitens dürfen die rückkehrenden Frauen eben nicht nur als Mütter dieser Kinder betrachtet werden, das heißt die deutschen Behörden müssen genau wie bei männlichen IS-Anhängern unabhängig von der Rolle als Mutter ermitteln und eben, wenn möglich, auch Anklage erheben. Und drittens muss die Bundesregierung aber auch die kontrollierte Rückführung, Strafverfolgung und Reintegration aller verbleibenden deutschen Staatsbürger organisieren, weil letztlich zeigen wir nur durch die Rückführung, dass wir wirklich auch glaubwürdig auch für internationales Recht eintreten und eben auch sicherheitspolitisch Verantwortung für unsere Staatsbürger, die sich ja immerhin in Deutschland radikalisiert haben, übernehmen."