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Laizismus in Frankreich
Die "Kopftuch-Affäre" geht weiter

30 Jahre ist es her, dass Schülerinnen in der französischen Stadt Creil mit Kopftuch zum Unterricht kamen. Der Vorfall hatte im laizistischen Frankreich Aufruhr und landesweite Diskussionen zur Folge. Drei Jahrzehnte und zahlreiche Gesetze später hat sich die damals angestoßene Debatte radikalisiert.

Von Suzan Krause |
Verschleierte muslimische Frauen bei einem Einkaufsbummel auf der Pariser Champs-Élysées
Verschleierte muslimische Frauen bei einem Einkaufsbummel auf der Pariser Champs-Élysées (imago / Sven Simon)
Anfang Oktober 1989 entdecken Zuschauer in den TV-Nachrichten des öffentlichen Senders France 2 eine ihnen bislang fremde Realität, in Gestalt von drei Schülerinnen einer Mittelschule in Creil. Sie tragen Kopftuch, das nur das Gesicht freilässt, wie Online-Archivbilder zeigen. Da erklärt die 14-jährige Fatima Achahboun, Tochter marokkanischer Einwanderer: Ihr Kopftuch sei ein Glaubensbekenntnis.
"Ich fürchte nur Gott, niemanden sonst. Das Kopftuch werde ich mein Leben lang tragen."
Nach wochenlangen Verhandlungen zwischen Schule und Eltern der drei Mädchen, in die sich, auf Bitte der französischen Regierung, sogar Marokkos König Hassan II. einschaltet, akzeptieren die Schülerinnen einen Kompromiss: Kein Kopftuch im Klassenzimmer, überall sonst wird es toleriert. Da wird Fatimas Glaubensbekenntnis von manchem Franzosen längst als anti-laizistische Kampfansage interpretiert. Der Vorfall in Creil sorgt landauf, landab für viel Medienecho: Allein die Presse widmet dem Thema in nur drei Monaten über 500 Artikel. Vom Ton, der angeschlagen wird, zeugt ein Beitrag in der Illustrierten "Paris Match": Da prangt ein ganzseitiges Foto der Familie Achahboun. Daneben steht, Zitat, "Diese Einwandererfamilie inkarniert den muslimischen Fundamentalismus, der Angst erregt."
Die "Kopftuch-Affäre" markiert einen Wendepunkt: Erstmals wird Frankreich bewusst, dass viele nordafrikanische Einwanderer hier Wurzeln geschlagen, Familien gegründet haben – im Land bleiben werden, erklärt der Historiker Ismaïl Ferhat.
"In Frankreich, stärker als andernorts, werden die Gastarbeiter mit muslimischer Kultur auf einen Schlag nicht mehr als Gastarbeiter, sondern als Muslime wahrgenommen. Nun steht nicht mehr ihre jeweilige Staatsangehörigkeit im Vordergrund – sondern ihre religiöse Zugehörigkeit. Und jetzt werden die Praktiken, Eigenheiten, die Kleidung dieser muslimischen Minderheit hinterfragt."
Mit Gesetzen und Verboten gegen das Kopftuch
Ferhat hat mit Kollegen in einem neuen Buch den Ereignissen vor dreißig Jahren nachgeforscht. Um zu verstehen, warum drei Kopftuchtragende Mädchen so viel Aufruhr stiften konnten. Eine ihrer Hypothesen: Die "Kopftuch-Affäre" bot den Verfechtern des republikanischen Laizitäts-Prinzips ein neues Feindbild. Denn 1984 war der jahrzehntelange Zwist zwischen katholischer Kirche und Staat begraben worden: Damals zwangen Massenproteste die Regierung dazu, das Vorhaben aufzugeben, die katholischen Privatschulen unter staatliche Obhut zu stellen.
"Es gibt einen dritten Grund, der ansatzweise die Härte der damaligen "Kopftuch-Debatte" erklären könnte. 1989 wurde das gesetzlich verankerte Laizitäts-Prinzip mit dem neu aufgekommenen Thema Frauenrechte verknüpft. Die Fusion dieser beiden Themen macht es fast unmöglich, jemals eine Lösung zu finden."
Nach weiteren Vorfällen hat Frankreich das "Kopftuch-Thema" gesetzlich geregelt: Seit 2004 dürfen Schüler keine deutlich sichtbaren religiösen Symbole mehr tragen. 2010 wurde, per "Anti-Burka-Gesetz", so der Volksmund, die Vollverschleierung im öffentlichen Raum untersagt. Doch regelmäßig für Schlagzeilen sorgt es, wenn eine Mutter mit Kopftuch einen Schulausflug begleitet, wenn eine Muslimin im Ganzkörper-Badeanzug Burkini im Gemeindebad erscheint. Seit drei Jahrzehnten hält die Debatte an. Das hat bei Frankreichs Muslimen Spuren hinterlassen, hält François Kraus vom renommierten Meinungsforschungsinstitut IFOP fest:
"Seit nunmehr dreißig Jahren unterwerfen sich mehr und mehr Muslime orthodox ausgelegten Vorgaben des Islam zu Kleidung, Essen, Ehe. 1989 hingegen war die Mehrheit der Muslime im Land säkularisiert: Sie hatte sich von religiösen Geboten und Moralvorstellungen befreit."
Die Fronten sind verhärtet
Die "Kopftuch-Affäre" war 1989 Anlass für die allererste IFOP-Erhebung unter den Muslimen Frankreichs. Damals erklärten 16 Prozent der Befragten, freitags die Moschee zu besuchen. Heute sind es mehr als doppelt so viele, so eine kürzlich durchgeführte Befragung. 1989 gestand jeder Dritte, ab und zu Alkohol zu trinken. Jetzt ist es nur noch jeder Fünfte. Und: Bei einer IFOP-Umfrage von 2011 meinten 60 Prozent der Muslime im Land, das "Anti-Burka-Gesetz" sei eine gute Sache. Heute sagen dies nur noch 31 Prozent, so Meinungsforscher Kraus.
"Mittlerweile sieht man, dass viele Muslime das Laizitäts-Prinzip viel kritischer, strenger betrachten als früher. Vor allem jungen Muslimen in Brennpunktvierteln erscheint die Laizitäts-Politik wie ein Instrument für den Kampf gegen den Islam. Ein Werkzeug zur Stigmatisierung der Muslime Frankreichs, das es ihnen unmöglich macht, nach ihren religiösen Vorgaben zu leben."
Der Streit ums Kopftuch ist keineswegs ein rein französisches Phänomen, sondern ein weltweites. In Frankreich jedoch wirken die Fronten verhärteter als in manch anderem Land. Umso mehr, als seit Januar 2015, dem Anschlag auf die Pariser Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" und einen jüdischen Supermarkt, das Land mehrfach von blutigen islamistischen Attentaten erschüttert wurde. Zuletzt vergangene Woche in der Pariser Polizeipräfektur.
Von überall werde immer wieder Öl ins Feuer gekippt, sagt Karim Amellal. Amellal schreibt Bücher und unterrichtet an der Pariser Elite-Politikhochschule Sciences Po. Vor allem aber erarbeitet er im Auftrag von Staatspräsident Macron Präventivmaßnahmen gegen Radikalisierung, religiöser und anderer Natur.
"Immer mehr Franzosen, verführt von rechtsextremen Rädelsführern und gewissen Medien, machen sich ein immer radikaleres Bild vom Islam. Da geht es nicht um Religionskritik, die völlig legitim wäre. Da geht es um Figuren wie den rechtspopulistischen Journalisten Eric Zemmour, der kürzlich bei einer Veranstaltung der Rechtsextremen ausrief: ‚Die Muslime sind unsere Feinde!‘"
"Der politische Raum radikalisiert sich immer mehr"
Zemmours Rede wurde von einem TV-Infokanal in voller Länge ausgestrahlt, bis heute hat sich die Redaktion dafür kaum entschuldigt. Das entsetzt nicht nur Karim Amellal.
"Auf der Gegenseite, bei den Muslimen, sagt sich mancher: 'Wenn ihr so über uns denkt, ein solches Bild vom Islam hegt, dann reagieren wir, indem wir uns auf unsere community zurückziehen. Oder indem wir uns immer offener dazu bekennen, Muslim zu sein'. Dreißig Jahre nach der ‚Kopftuch-Affäre‘ ist so ein politischer Raum entstanden, der sich immer mehr radikalisiert, vor allem aber polarisiert."
Einen scharfen Kontrast dazu bietet die neue hochgelobte Serie des Pay-TV-Senders Canal+. Sie hat den Titel: "Les Sauvages" - "Die Wilden". Der Held heißt Idder Chaouch, Franzose mit algerischen Wurzeln. Und im Film Frankreichs neuer Staatspräsident. Eine Vorstellung, die vor drei Jahrzehnten noch als völlig utopisch galt. Vor allem in Creil. Fatima Achahboun, 1989 eine der drei verschleierten Schülerinnen, trägt weiterhin Kopftuch. Mit den Medien allerdings will sie nichts mehr zu tun haben.