Bettina Klein: Konflikte zwischen Volksgruppen, zwischen Vertretern, verschiedene Sprachen. Sie werden manchmal von Europäern mit Kopfschütteln bedacht, wie etwas vorzivilisatorisch ist. Doch hier ganz in der Nähe und keine lange Autofahrt von diesem Funkhaus entfernt, sorgt ein solcher Streit in einem hoch entwickelten Land für eine Staatskrise, die sich seit Monaten hinzieht und dem Rücktrittsgesuch des Ministerpräsidenten ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Man könnte vielleicht auch sagen, der belgische Ministerpräsident Yves Leterme hat die Büchse der Pandora weit geöffnet, als er sich mit einer kleinen Splitterpartei verband, die die Auflösung Belgiens zum Ziel hatte. Nun ist guter Rat doppelt teuer. Der Streit dreht sich im Kern nach wie vor um die Verteilung von Macht und Autonomie, zwischen Flamen und Wallonien. Neben Flamen und Wallonien gibt es in Belgien bekanntlich auch eine Deutschsprachige Gemeinschaft und deren Ministerpräsident ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen, Karl-Heinz Lambertz!
Karl-Heinz Lambertz: Guten Morgen!
Klein: Fühlen Sie sich ein wenig in der Position des lachenden Dritten oder trifft die Krise in Belgien Sie genauso schwer wie die anderen?
Lambertz: Na, zum Lachen gibt es ja dann nun wahrlich wenig. Und als lachender Dritte fühlt sich die deutschsprachige Minderheit in Belgien nie und so benimmt sie sich auch nicht. Wir gehören ja erst seit 1920 zu diesem Staat, der ein Vielvölkerstaat ist. Und die Krise, die wir jetzt erleben, hat natürlich auch für uns eine ganze Reihe von Auswirkungen, insbesondere auf die Rahmenbedingungen des Zusammenlebens der Gemeinschaften und Regionen im belgischen Bundesstaat.
Klein: Welche Konsequenzen betreffen Sie besonders?
Lambertz: Als allererst sind wir betroffen von der Tatsache, dass wir augenblicklich keinen handlungsfähigen Partner auf der Bundesebene haben und ein kleines Bundesland, genau wie die größeren in Belgien, braucht natürlich auch diese Zusammenarbeit, wenn sie ihre Zukunft gestalten wollen. Darüber hinaus sind aber jetzt auch die Rahmenwerte und Eckdaten des belgischen Föderalismus wieder zur Disposition. Es gibt ja da das eigentliche Streitthema. Und solange da nicht ein neuer Kompromiss, ein neues Gleichgewicht auf den Tisch gelegt worden ist, ist das gesamte politische Handeln natürlich von einiger Ungewissheit bestimmt.
Klein: Wenn ein Politiker wie Leterme es nicht schafft, der selbst eine flämische Mutter und einen wallonischen Vater hat, so fragen jetzt viele, wer soll es dann schaffen. Woran ist er ihrer Meinung nach erneut gescheitert?
Lambertz: Ich glaube, dass das Problem jetzt weniger von der familiären Herkunft abgelenkt werden kann oder von individuellem Handeln, sondern es ist ganz einfach so gewesen, dass jetzt an diesem Wochenende die Voraussetzungen insgesamt nicht erfüllt waren, um eine Hürde zu nehmen, die sich die Politik in Belgien selbst gestellt hat. Man hat sich ja vorgenommen, bei der Regierungsbildung im März diesen Jahres für den 15. Juli eine Lösung für eine weitere Föderalismusreform auf den Tisch zu legen. Das hat man nicht geschafft. Daran haben alle beteiligten Parteien natürlich mit Verantwortung zu tragen und deshalb sah sich Herr Leterme am Montagabend gezwungen, dem König seinen Rücktritt vorzuschlagen, den dieser ja noch nicht angenommen hat.
Klein: Inwiefern ist Leterme Opfer geworden, sage ich jetzt mal, der kleinen Splitterpartei, ich habe es angedeutet, mit der er sich verbunden hat und deren Ziel ja offenbar die Abschaffung des einheitlichen Belgiens ist?
Lambertz: Ja, die ganze Problematik kann man nicht nur auf dieses Problem zurückführen. Es ist seit Bestehen Belgiens so, dass zwischen Flamen und Wallonien ziemlich große Meinungsverschiedenheiten bestehen darüber, wie der belgische Bundesstaat aussehen soll. Aber die Tatsache, dass sich die Partei des Premierministers mit einer Partei verbündet hat in einer Kartellstruktur, die ganz offen die Auflösung Belgiens als langzeitiges Ziel verfolgt, hat natürlich die ganze Sache nicht vereinfacht. Da hat er seine eigenen Handlungsspielräume sicherlich noch zusätzlich eingeengt über das hinaus, was eh schon sich aus der Gesamtkonstellation ergibt, und das macht die Sache natürlich sehr schwierig seit jetzt einem Jahr. In Belgien gibt es ja keine Bundesparteien, was sehr wichtig ist, wenn man das ganze Geschehen verstehen will. Und wenn jemand sich dann in einem Kompromiss auf den anderen hinzubewegt, läuft natürlich Gefahr, von der eigenen öffentlichen Meinung und von den politischen Mitbewerbern unter Beschuss genommen zu werden. Und das ist natürlich ganz besonders krass in dem Fall der Konstellation, unter der Herr Leterme angetreten ist.
Klein: Wenn Sie die öffentliche Meinung ansprechen, wie vergiftet ist das Klima in Belgien nach den vergangenen Monaten?
Lambertz: Ja, ich glaube, dass man von vergiftet jetzt nicht unbedingt sprechen kann. Man kann immer noch ruhig aus dem belgischen Brunnen Wasser oder besser vielleicht noch ein gutes belgisches Bier trinken. Aber es ist so, dass die Konflikte zwischen den beiden großen Volksgruppen sich in den letzten zehn Jahren erneut verstärkt haben, weil eben die flämische Seite mehr Autonomie und mehr finanzielle Eigenverantwortung für die Gliedstaaten will, während die französischen Partner das nicht so sehr möchten und auch weil um die Region Brüssel herum und auch die dort bestehende Sprachengrenze erneut Konflikte aufgetaucht sind. Das ist ein sehr klassisches Problem in Belgien. Man hat das in der Vergangenheit immer wieder erlebt, hat auch jeweils Lösungen gefunden. Jetzt sind die Lösungen so besonders schwierig zu finden, weil wir ja im kommenden Juni gemeinsam mit den Europawahlen die Regional- und Gemeinschaftswahlen, wenn Sie wollen, die Landtagswahlen, haben. Und wer sich jetzt natürlich da bewegt, der denkt natürlich auch schon an diesen Wahltermin.
Klein: Skizzieren Sie vielleicht mal kurz, Herr Lambertz, wie jetzt die nächsten kleinen Schritte, die konstruktiv wären, aussehen könnten?
Lambertz: Ja, die Vorhersehbarkeit der Zukunft ist ja nicht so ganz evident, sonst hätte ich das schon gestern Abend das auch dem belgischen König gesagt, dem ich da berichten durfte aus der Sicht der deutschsprachigen Minderheit.
Klein: Was würden Sie vorschlagen?
Lambertz: Die Situation ist sicherlich die, dass der Kompromiss, der größere Kompromiss, den wir brauchen, um ein neues Gleichgewicht zu finden, dass wir den sicherlich nicht vor diesen eben angesprochenen Wahlen des kommenden Jahres finden können. Wir brauchen auch eine handlungsfähige Regierung, die die wirtschaftspolitischen, die sozialpolitischen und die außenpolitischen Herausforderungen zu bewältigen vermag. Und wir brauchen sicherlich einen Prozess des Weiterverhandelns über Föderalismusreform und die Fragen, die jetzt da in den letzten Tagen so im Vordergrund standen, da wird man jetzt eine originelle Lösung finden, einfallen lassen müssen. Und es scheint ja etwas in die Richtung zu gehen, dass man jetzt nicht nur auf Bundesebene verhandeln will, sondern auch die einzelnen Gliedstaaten enger an diesen Gesprächen direkt beteiligen möchte. Da müssen wir aber noch einige Tage warten. Ich nehme an, dass der König jetzt in den kommenden Tagen eine Entscheidung trifft über das unmittelbare weitere Vorgehen. Da hat er ja mehrere Alternativen. Er kann den Rücktritt ablehnen. Er kann jemand anders in den Ring schicken. Neuwahlen wird er sicherlich nicht veranlassen, denn das würde das Problem überhaupt nicht lösen, sondern nur noch verschärfen. Und dann werden wir eine Lösung irgendwann in den nächsten Wochen, denke ich, erreichen, wo dann bis zum 7. Juni nächsten Jahres in Belgien vernünftig weiterregiert werden.
Klein: Um eine Hängepartie über ein ganzes Jahr für Belgien zu vermeiden, das heißt, da ist schon ziemlicher Handlungsbedarf vorhanden?
Lambertz: Ja, es ist sicherlich ein Handlungsbedarf da, denn die Hängepartie würde ja dann auch schon zwei Jahre gedauert haben, weil es ja eigentlich schon im Juni letzten Jahres losgegangen ist. Aber auch die Hängepartie betrifft ja auch dann nur einen Teil, nämlich die Föderalismusreform. Und wenn ich richtig informiert bin, ist Belgien nicht das einzige Land, wo noch Föderalismusreform anhängig ist. Wenn ich mir die Föderalismusreform II in der Bundesrepublik anschaue und die Debatten rundherum, dann sehe ich ja auch noch keine Lösung. Diese Probleme sind immer etwas langwieriger. Aber sind natürlich in Belgien besonders politikbestimmend. Und das macht die ganze Sache natürlich etwas schwieriger, genauso wie die Tatsache, dass in Belgien dann alle Dinge direkt auch ein Bi-Polarisierung zwischen Flamen und Wallonen herbeiführen, was der ganzen Sache natürlich eine zusätzliche Schärfe gibt.
Klein: In Deutschland, haben Sie vollkommen recht, Föderalismusreform ist bei uns noch anhängig, aber nach der Wiedervereinigung dreht sich jetzt eigentlich nichts mehr um die Frage einer Spaltung Deutschlands. Ich frage Sie mal, wie viel Hoffnung haben Sie, dass es bei einem einheitlichen Belgien bleibt?
Lambertz: Ich bin ziemlich sicher, dass der belgische Staat auch noch in den nächsten Jahren da sein wird und fortbestehen kann. Er hat natürlich eine völlig andere Voraussetzung in seiner Entstehungsgeschichte, als andere Staaten, insbesondere die Bundesrepublik Deutschland oder Österreich oder die Schweiz, um andere Bundesstaaten in Europa zu zitieren. Aber er hat eben seine eigene Geschichte und seine eigene Problematik. Und da spielt der Konflikt zwischen den Volksgruppen eine ganz große Rolle. Das ist übrigens in Gesamteuropa eine durchaus aktuelle Situation. Schauen Sie sich hier eine ganze Reihe Staaten an, insbesondere unter denen, die jetzt neu hinzugekommen sind in die Europäische Union, und Sie werden feststellen, an vielen Ecken Europas gibt es dererlei Konflikte. Und Belgien hat es eben bisher geschafft, wenn ich das noch hinzufügen darf, diese Dinge friedlich zu lösen.
Klein: Herr Lambertz, man kann an einigen Ecken Europas schon einen Trend hin zu mehr Eigenstaatlichkeit wahrnehmen. Wäre das vielleicht auch ein Befreiungsschlag für Belgien, dass man sagt, lasst uns einfach getrennte Wege gehen?
Lambertz: Das glaube ich jetzt nicht, dass der Zerfall Belgiens wirklich die Lösung wäre, weder nach dem Modell der ehemaligen Tschechoslowakei noch nach dem jetzt ja konkreten Kosovo-Beispiel. Nein, in Belgien hat man sehr viele Gründe, sich zusammenzuraufen, den Föderalismus noch zu vertiefen, auszubauen und dann ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Bestandteilen in einem belgischen Staat dann zu finden.
Klein: Worin bestünde die größte Gefahr eines zerfallenden Belgiens Ihrer Meinung nach?
Lambertz: Ich glaube, dass die Kosten eines Zerfalls bedeutend höher sind als der Nutzen und auch als Gründungsland der Europäischen Union ist das nicht das Signal, was von Belgien ausgehen soll. Nein, die regionale Autonomie, die in Belgien sehr stark ist, kann sich durchaus in angepassten bundesschaftlichen Formen verwirklichen. Und das wiederum ist auch ein Zeichen für ganz Europa, denn regionale Identitäten werden überall stärker in Europa, sowohl im Europa der Europäischen Union als auch im Europa des Europarates. Zwischen dieser regionalen Ebene, der staatlichen neben der europäischen Ebene, brauchen wir ein neu gestaltetes Mehrebenensystem. Und da ist Belgien durchaus ein interessantes Laboratorium.
Klein: Karl-Heinz Lambertz war das, der Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien. Danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Lambertz!
Karl-Heinz Lambertz: Guten Morgen!
Klein: Fühlen Sie sich ein wenig in der Position des lachenden Dritten oder trifft die Krise in Belgien Sie genauso schwer wie die anderen?
Lambertz: Na, zum Lachen gibt es ja dann nun wahrlich wenig. Und als lachender Dritte fühlt sich die deutschsprachige Minderheit in Belgien nie und so benimmt sie sich auch nicht. Wir gehören ja erst seit 1920 zu diesem Staat, der ein Vielvölkerstaat ist. Und die Krise, die wir jetzt erleben, hat natürlich auch für uns eine ganze Reihe von Auswirkungen, insbesondere auf die Rahmenbedingungen des Zusammenlebens der Gemeinschaften und Regionen im belgischen Bundesstaat.
Klein: Welche Konsequenzen betreffen Sie besonders?
Lambertz: Als allererst sind wir betroffen von der Tatsache, dass wir augenblicklich keinen handlungsfähigen Partner auf der Bundesebene haben und ein kleines Bundesland, genau wie die größeren in Belgien, braucht natürlich auch diese Zusammenarbeit, wenn sie ihre Zukunft gestalten wollen. Darüber hinaus sind aber jetzt auch die Rahmenwerte und Eckdaten des belgischen Föderalismus wieder zur Disposition. Es gibt ja da das eigentliche Streitthema. Und solange da nicht ein neuer Kompromiss, ein neues Gleichgewicht auf den Tisch gelegt worden ist, ist das gesamte politische Handeln natürlich von einiger Ungewissheit bestimmt.
Klein: Wenn ein Politiker wie Leterme es nicht schafft, der selbst eine flämische Mutter und einen wallonischen Vater hat, so fragen jetzt viele, wer soll es dann schaffen. Woran ist er ihrer Meinung nach erneut gescheitert?
Lambertz: Ich glaube, dass das Problem jetzt weniger von der familiären Herkunft abgelenkt werden kann oder von individuellem Handeln, sondern es ist ganz einfach so gewesen, dass jetzt an diesem Wochenende die Voraussetzungen insgesamt nicht erfüllt waren, um eine Hürde zu nehmen, die sich die Politik in Belgien selbst gestellt hat. Man hat sich ja vorgenommen, bei der Regierungsbildung im März diesen Jahres für den 15. Juli eine Lösung für eine weitere Föderalismusreform auf den Tisch zu legen. Das hat man nicht geschafft. Daran haben alle beteiligten Parteien natürlich mit Verantwortung zu tragen und deshalb sah sich Herr Leterme am Montagabend gezwungen, dem König seinen Rücktritt vorzuschlagen, den dieser ja noch nicht angenommen hat.
Klein: Inwiefern ist Leterme Opfer geworden, sage ich jetzt mal, der kleinen Splitterpartei, ich habe es angedeutet, mit der er sich verbunden hat und deren Ziel ja offenbar die Abschaffung des einheitlichen Belgiens ist?
Lambertz: Ja, die ganze Problematik kann man nicht nur auf dieses Problem zurückführen. Es ist seit Bestehen Belgiens so, dass zwischen Flamen und Wallonien ziemlich große Meinungsverschiedenheiten bestehen darüber, wie der belgische Bundesstaat aussehen soll. Aber die Tatsache, dass sich die Partei des Premierministers mit einer Partei verbündet hat in einer Kartellstruktur, die ganz offen die Auflösung Belgiens als langzeitiges Ziel verfolgt, hat natürlich die ganze Sache nicht vereinfacht. Da hat er seine eigenen Handlungsspielräume sicherlich noch zusätzlich eingeengt über das hinaus, was eh schon sich aus der Gesamtkonstellation ergibt, und das macht die Sache natürlich sehr schwierig seit jetzt einem Jahr. In Belgien gibt es ja keine Bundesparteien, was sehr wichtig ist, wenn man das ganze Geschehen verstehen will. Und wenn jemand sich dann in einem Kompromiss auf den anderen hinzubewegt, läuft natürlich Gefahr, von der eigenen öffentlichen Meinung und von den politischen Mitbewerbern unter Beschuss genommen zu werden. Und das ist natürlich ganz besonders krass in dem Fall der Konstellation, unter der Herr Leterme angetreten ist.
Klein: Wenn Sie die öffentliche Meinung ansprechen, wie vergiftet ist das Klima in Belgien nach den vergangenen Monaten?
Lambertz: Ja, ich glaube, dass man von vergiftet jetzt nicht unbedingt sprechen kann. Man kann immer noch ruhig aus dem belgischen Brunnen Wasser oder besser vielleicht noch ein gutes belgisches Bier trinken. Aber es ist so, dass die Konflikte zwischen den beiden großen Volksgruppen sich in den letzten zehn Jahren erneut verstärkt haben, weil eben die flämische Seite mehr Autonomie und mehr finanzielle Eigenverantwortung für die Gliedstaaten will, während die französischen Partner das nicht so sehr möchten und auch weil um die Region Brüssel herum und auch die dort bestehende Sprachengrenze erneut Konflikte aufgetaucht sind. Das ist ein sehr klassisches Problem in Belgien. Man hat das in der Vergangenheit immer wieder erlebt, hat auch jeweils Lösungen gefunden. Jetzt sind die Lösungen so besonders schwierig zu finden, weil wir ja im kommenden Juni gemeinsam mit den Europawahlen die Regional- und Gemeinschaftswahlen, wenn Sie wollen, die Landtagswahlen, haben. Und wer sich jetzt natürlich da bewegt, der denkt natürlich auch schon an diesen Wahltermin.
Klein: Skizzieren Sie vielleicht mal kurz, Herr Lambertz, wie jetzt die nächsten kleinen Schritte, die konstruktiv wären, aussehen könnten?
Lambertz: Ja, die Vorhersehbarkeit der Zukunft ist ja nicht so ganz evident, sonst hätte ich das schon gestern Abend das auch dem belgischen König gesagt, dem ich da berichten durfte aus der Sicht der deutschsprachigen Minderheit.
Klein: Was würden Sie vorschlagen?
Lambertz: Die Situation ist sicherlich die, dass der Kompromiss, der größere Kompromiss, den wir brauchen, um ein neues Gleichgewicht zu finden, dass wir den sicherlich nicht vor diesen eben angesprochenen Wahlen des kommenden Jahres finden können. Wir brauchen auch eine handlungsfähige Regierung, die die wirtschaftspolitischen, die sozialpolitischen und die außenpolitischen Herausforderungen zu bewältigen vermag. Und wir brauchen sicherlich einen Prozess des Weiterverhandelns über Föderalismusreform und die Fragen, die jetzt da in den letzten Tagen so im Vordergrund standen, da wird man jetzt eine originelle Lösung finden, einfallen lassen müssen. Und es scheint ja etwas in die Richtung zu gehen, dass man jetzt nicht nur auf Bundesebene verhandeln will, sondern auch die einzelnen Gliedstaaten enger an diesen Gesprächen direkt beteiligen möchte. Da müssen wir aber noch einige Tage warten. Ich nehme an, dass der König jetzt in den kommenden Tagen eine Entscheidung trifft über das unmittelbare weitere Vorgehen. Da hat er ja mehrere Alternativen. Er kann den Rücktritt ablehnen. Er kann jemand anders in den Ring schicken. Neuwahlen wird er sicherlich nicht veranlassen, denn das würde das Problem überhaupt nicht lösen, sondern nur noch verschärfen. Und dann werden wir eine Lösung irgendwann in den nächsten Wochen, denke ich, erreichen, wo dann bis zum 7. Juni nächsten Jahres in Belgien vernünftig weiterregiert werden.
Klein: Um eine Hängepartie über ein ganzes Jahr für Belgien zu vermeiden, das heißt, da ist schon ziemlicher Handlungsbedarf vorhanden?
Lambertz: Ja, es ist sicherlich ein Handlungsbedarf da, denn die Hängepartie würde ja dann auch schon zwei Jahre gedauert haben, weil es ja eigentlich schon im Juni letzten Jahres losgegangen ist. Aber auch die Hängepartie betrifft ja auch dann nur einen Teil, nämlich die Föderalismusreform. Und wenn ich richtig informiert bin, ist Belgien nicht das einzige Land, wo noch Föderalismusreform anhängig ist. Wenn ich mir die Föderalismusreform II in der Bundesrepublik anschaue und die Debatten rundherum, dann sehe ich ja auch noch keine Lösung. Diese Probleme sind immer etwas langwieriger. Aber sind natürlich in Belgien besonders politikbestimmend. Und das macht die ganze Sache natürlich etwas schwieriger, genauso wie die Tatsache, dass in Belgien dann alle Dinge direkt auch ein Bi-Polarisierung zwischen Flamen und Wallonen herbeiführen, was der ganzen Sache natürlich eine zusätzliche Schärfe gibt.
Klein: In Deutschland, haben Sie vollkommen recht, Föderalismusreform ist bei uns noch anhängig, aber nach der Wiedervereinigung dreht sich jetzt eigentlich nichts mehr um die Frage einer Spaltung Deutschlands. Ich frage Sie mal, wie viel Hoffnung haben Sie, dass es bei einem einheitlichen Belgien bleibt?
Lambertz: Ich bin ziemlich sicher, dass der belgische Staat auch noch in den nächsten Jahren da sein wird und fortbestehen kann. Er hat natürlich eine völlig andere Voraussetzung in seiner Entstehungsgeschichte, als andere Staaten, insbesondere die Bundesrepublik Deutschland oder Österreich oder die Schweiz, um andere Bundesstaaten in Europa zu zitieren. Aber er hat eben seine eigene Geschichte und seine eigene Problematik. Und da spielt der Konflikt zwischen den Volksgruppen eine ganz große Rolle. Das ist übrigens in Gesamteuropa eine durchaus aktuelle Situation. Schauen Sie sich hier eine ganze Reihe Staaten an, insbesondere unter denen, die jetzt neu hinzugekommen sind in die Europäische Union, und Sie werden feststellen, an vielen Ecken Europas gibt es dererlei Konflikte. Und Belgien hat es eben bisher geschafft, wenn ich das noch hinzufügen darf, diese Dinge friedlich zu lösen.
Klein: Herr Lambertz, man kann an einigen Ecken Europas schon einen Trend hin zu mehr Eigenstaatlichkeit wahrnehmen. Wäre das vielleicht auch ein Befreiungsschlag für Belgien, dass man sagt, lasst uns einfach getrennte Wege gehen?
Lambertz: Das glaube ich jetzt nicht, dass der Zerfall Belgiens wirklich die Lösung wäre, weder nach dem Modell der ehemaligen Tschechoslowakei noch nach dem jetzt ja konkreten Kosovo-Beispiel. Nein, in Belgien hat man sehr viele Gründe, sich zusammenzuraufen, den Föderalismus noch zu vertiefen, auszubauen und dann ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Bestandteilen in einem belgischen Staat dann zu finden.
Klein: Worin bestünde die größte Gefahr eines zerfallenden Belgiens Ihrer Meinung nach?
Lambertz: Ich glaube, dass die Kosten eines Zerfalls bedeutend höher sind als der Nutzen und auch als Gründungsland der Europäischen Union ist das nicht das Signal, was von Belgien ausgehen soll. Nein, die regionale Autonomie, die in Belgien sehr stark ist, kann sich durchaus in angepassten bundesschaftlichen Formen verwirklichen. Und das wiederum ist auch ein Zeichen für ganz Europa, denn regionale Identitäten werden überall stärker in Europa, sowohl im Europa der Europäischen Union als auch im Europa des Europarates. Zwischen dieser regionalen Ebene, der staatlichen neben der europäischen Ebene, brauchen wir ein neu gestaltetes Mehrebenensystem. Und da ist Belgien durchaus ein interessantes Laboratorium.
Klein: Karl-Heinz Lambertz war das, der Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien. Danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Lambertz!