Müller: Wenn wir uns einmal konzentrieren auf Kabinettsszenen, vielleicht auch auf informelle Runden, war Helmut Schmidt da ganz der Chef?
Lambsdorff: Ja, das war er, aber war ein Chef, der in den Sachen, die verhandelt wurden, ausgezeichnet Bescheid wusste. Er hat seine Akten nicht nur lesen lassen, sondern selbst gelesen, und man musste sich schon sehr gut vorbereiten, wenn man für Fragen gewappnet sein wollte, die der Bundeskanzler, also der Regierungschef stellte, vor allem dann, wenn man sich auf Gebieten zu Wort meldete, was ja im Kabinett zulässig und meiner Meinung nach auch wünschenswert ist, wenn man sich im Kabinett zu Wort meldete zu Fachgebieten anderer Kollegen, also auch da seine Meinung sagte. Da musste man schon aufpassen, dass man Bescheid wusste und sich nicht blamiert hat.
Müller: Wusste er auch über Wirtschaft besser Bescheid als Sie?
Lambsdorff: Darüber streite ich nicht. Ich glaube, wir wissen beide über Wirtschaft ganz ordentlich Bescheid, und wer nun da besser oder schlechter Bescheid weiß, das ist nicht erheblich.
Müller: Nun gilt er ja heutzutage in der Retrospektive nicht nur aufgrund seiner Amtszeit, sondern auch das, was er nachher gemacht hat, als Publizist, auch Herausgeber der 'Zeit', als großer ökonomischer Fachmann. Warum hat er denn damals als Ökonom beziehungsweise auf Bundeskanzler mit Blick auf die wirtschaftspolitische Situation in Deutschland versagt?
Lambsdorff: Weil seine Partei ihn nicht das machen ließ, was er für richtig gehalten hat und er für richtig halten sollte und wollte. Das war bei der SPD nicht durchzusetzen, und vor allem hat er die Entscheidung getroffen auf dem berühmten Münchener Parteitag der SPD, dass ihm die Sicherheitspolitik, sprich der NATO-Doppelbeschluss wichtiger war als die Wirtschaftspolitik. Er opferte praktisch wirtschaftspolitisch vernünftige Grundsätze seiner Partei oder er opferte sie wegen des Protestes seiner Partei und um die Zustimmung zur Sicherheitspolitik zu erhalten. Das endete, wie wir alle wissen, nachher mit dem Kölner Parteitag, auf dem für die Sicherheitspolitik des Bundeskanzlers dann gerade noch etwa 4 Prozent der Delegierten stimmten.
Müller: Könnte man da zynisch, spitz formulieren, das heißt, die Macht und der Machterhalt für die Partei war ihm dann doch wichtiger als die Inhalte?
Lambsdorff: Nein, genau das Gegenteil. Die Sicherheitspolitik war ihm so wichtig, und das war ja auch richtig, denn der NATO-Doppelbeschluss war eine essentielle Frage und das Festhalten am NATO-Doppelbeschluss hat letztlich ganz wesentlich zur deutschen Wiedervereinigung beigetragen. Also das war ihm wichtiger als andere Politikfelder, und irgendwo sah er sich gezwungen, nachzugeben, um die Zustimmung seiner Partei zum NATO-Doppelbeschluss und seiner Sicherheitspolitik, die er richtigerweise für unerlässlich hielt, zu erreichen.
Müller: Aber eben nicht im Bereich der Wirtschaftspolitik.
Lambsdorff: Nein, im Bereich der Wirtschaftspolitik war ihm sicherlich klar, dass das, was der SPD-Parteitag beschloss – es wurde damals vom Gruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeuge gesprochen -, das war ihm völlig klar, dass mit einer solchen Art von Politik kein Staat zu machen ist, und Sie sehen es ja in dem, was er heute schreibt. Wenn Sie heute seine Aufsätze in der Zeit lesen über die Situation Deutschlands, gerade über die wirtschafts- und finanzpolitische Situation, über die Haltung der Gewerkschaften, dann können Sie genau sehen, welche Politik Helmut Schmidt für richtig hält und mit Sicherheit auch damals für richtig gehalten hat, hätte er sie denn durchsetzen können.
Müller: Also wenn wir auf die heutige Situation reflektieren, Sie haben heute Schwierigkeiten, Unterschiede zu finden. Damals haben Sie sie gehabt.
Lambsdorff: Ich habe nicht viele Schwierigkeiten, im Augenblick Unterschiede zu finden. Damals habe ich sie natürlich gehabt, es ergab sich ja auch aus dem Papier, das ich ihm September 1982 dann vorgelegt habe. Er vertrat die Position, die er nicht anders vertreten konnte, und mit blieb nichts anderes übrig als zu sagen, so geht es nicht weiter.
Müller: Wenn man in den Archiven blättert und liest die tragenden Kommentare der führenden Zeitungen nach damals, die Wende, der Machtwechsel, 1982/1983, da wurde die FDP im Vorfeld ja häufig als Königsmacher apostrophiert. Bei der sozialliberalen Koalition wurde sie dann als Königsmörder gebrandmarkt. Können Sie damit umgehen?
Lambsdorff: Nun, das war die Tendenz, die damals weit verbreitet war, zu der Helmut Schmidt natürlich auch beigetragen hat. Das Wort vom Wegharken der FDP nach den Wahlen 1982, also der hessischen und der bayrischen Landtagswahl, das stammt ja von ihm, und ich habe das verstanden. Natürlich wehrt man sich dagegen und versucht, dem Partner, der kein Partner mehr war, die Rechnung heimzuzahlen. Das gehört alles zum politischen Spiel dazu. Am Ende hat sich gezeigt, dass diese Wende des Jahres 1982 notwendig und richtig war, und wenn ich so das eine oder andere lese und höre, was Helmut Schmidt schreibt und sagt, kommt bei mir der Eindruck, das hat er auch damals im Wesentlichen schon gewusst, aber er konnte da nicht mehr anders.
Müller: Bleiben wir doch mal dabei. Sie haben ja damals, gelinde gesagt, nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass rot-gelbe Koalition gescheitert ist. Hat Ihnen das Helmut Schmidt persönlich verziehen?
Lambsdorff: Natürlich hat er es. Inzwischen begegnen wir uns völlig normal, vernünftig, und wir reden vernünftig miteinander. Ich habe einen hohen Respekt vor ihm, vor seiner Leistung als Bundeskanzler, auch was sein übriges Leben anbetrifft - es gibt ja nicht nur die Tätigkeit als Kanzler -, das ist wirklich eine Erfolgsgeschichte, wo man nur den Hut ziehen kann, und wir haben keinerlei Schwierigkeiten im Umgang miteinander, wenn wir uns heute sehen oder wenn wir heute miteinander korrespondieren. Er hat mir auch in bestimmten Dingen gelegentlich geholfen. Also das ist alles in Ordnung.
Müller: War es denn damals ein angenehmer, menschlicher Umgang mit dem Kanzler im Kabinett?
Lambsdorff: Ja, das war es durchaus. Der Kanzler wusste ganz genau, dass der kleinere Koalitionspartner vielleicht ein bisschen rücksichtsvoller behandelt werden musste als die eigenen Parteigenossen. Das ging dann auch so, und, wie gesagt, wenn man ihm den Eindruck vermittelte, dass man informiert war, dass man seine Arbeit tat, dann war der Umgang mit ihm kein Problem.
Müller: Letzte Frage, ist Helmut Schmidt in jeder Phase – wir haben eben über die inhaltlichen Differenzen aber eben auch über die Gemeinsamkeiten gesprochen – überzeugter Sozialdemokrat gewesen?
Lambsdorff: Ich glaube das wohl, aber er ist ein Sozialdemokrat, der sich jedenfalls die Freiheit nimmt, von Beschlüssen, von Ansichten der Mehrheit seiner Partei auch abzuweichen. Aber er ist aus dem Erlebnis nach dem Kriege, aus seiner engen damaligen Verbindung zu den damaligen Gewerkschaften und natürlich der engen Einbindung an viele alte Freunde, gerade der Hamburger SPD, ja, er war und ist immer ein überzeugter Sozialdemokrat gewesen. Aber es gibt eben auch solche und solche bei den Sozialdemokraten. Es gibt Helmut Schmidt, mit dem man zusammenarbeiten konnte und kann. Es gibt andere, mit denen man das schwer kann.
Müller: Vielen Dank für das Gespräch.