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Lammert: Grass misst mit zweierlei Maß

Bundestagspräsident Norbert Lammert hat Unverständnis über den Umgang von Günter Grass mit seiner Lebensgeschichte geäußert. "Für mich ist der Punkt, dass er hier für sich eine Nachsicht reklamiert, die er anderen gegenüber geradezu prinzipiell verweigert hat", sagte der CDU-Politiker zum späten Eingeständnis des Literaturnobelpreisträgers, dass er als junger Mann Mitglied der Waffen-SS war.

Moderation: Friedbert Meurer |
    Friedbert Meurer: War alles wirklich nur ein PR-Coup, um sein neues Buch besser zu vermarkten? Nicht wenige Kritiker unterstellen ja genau das Günter Grass, dessen neues Buch "Beim Häuten der Zwiebel" jetzt erschienen ist. Grass hat zugegeben, vor Ende des Zweiten Weltkrieges mit 17 Jahren Mitglied bei der Waffen-SS gewesen zu sein, aber jetzt erst rückte er mit der Wahrheit heraus. Gestern Abend bezog er in der ARD im Interview mit Ulrich Wickert Stellung.

    Über das Interview von Günter Grass gestern Abend in der ARD möchte ich mich unterhalten mit Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU). Guten Morgen, Herr Lammert!

    Lammert: Guten Morgen, Herr Meurer!

    Meurer: Was war denn Ihr Eindruck von Günter Grass gestern Abend bei dem Interview?

    Lammert: Er machte schon einen, ich will nicht sagen, angeschlagenen Eindruck, aber er war offenkundig von der öffentlichen Diskussion sichtlich beeindruckt. Die außergewöhnlich wenig temperamentvolle, ruhige, bedächtige, gelegentlich fast demütige Art der Argumentation war schon eine etwas außergewöhnliche Grass-Erfahrung.

    Meurer: So kennen Sie Günter Grass also nicht?

    Lammert: Nein. Er ist ja nun dafür bekannt, dass er gerade in Fragen politischer Moral eine sehr dezidierte Auffassung mit einer doch in der Regel alttestamentarischen Strenge zu vertreten pflegt. Fast konnte man den Eindruck haben, als sei er erleichtert, dass er als moralischer Scharfrichter in eigener Sache offenkundig ausfällt.

    Meurer: Leuchtet Ihnen, Herr Lammert, die Begründung ein, die Grass dafür gegeben hat, warum er jahrzehntelang nicht gesagt hat, dass er bei der Waffen-SS war?

    Lammert: Das kann ich jedenfalls nachvollziehen. Es ist ohnehin ja sehr schwer, über individuelle Lebenssituationen in einer Weise zu urteilen, die nicht nur dem Augenschein, den schlichten Daten und Sachverhalten gerecht wird, sondern der jeweils betroffenen Person. Das, was mich nicht stört ist, dass Grass wie viele andere junge Leute auch damals in die von ihm ja auch eingeräumte Verbindung mit dem Regime geraten ist, dass er früh begeistert war von einer Ideologie, die ihn offenkundig überrumpelt hat. Und ich kann auch nachvollziehen, dass es ihm nicht möglich war, über diese Art von Verbindung in den letzten Kriegsmonaten zu sprechen.

    Meurer: Wieso nicht?

    Lammert: Was ich nicht begreife ist, dass er anderen gegenüber, die jedenfalls nach den objektiven Daten sich in einer ähnlichen Situation befunden haben, mit einem so unnachsichtigen moralischen Urteil aufgetreten ist und für sich selber nun offenkundig andere Konditionen reklamiert.

    Meurer: Also Sie glauben, Grass wusste ganz genau, wenn er dieses eine Detail noch hinzufügt mit der Waffen-SS - er hat ja immer gesagt, wie sehr an die NS-Ideologie geglaubt hat -, dieses eine Detail hätte ihm schwer geschadet?

    Lammert: Das mag so sein, muss aber nicht so sein. Das ist nachträglich immer ganz schwer zu beurteilen. Ob er aus schlichtem Kalkül das für sich behalten hat, das halte ich für eine etwas wiederum vorschnelle Behauptung. Aber noch mal: Für mich ist der Punkt, dass er hier für sich eine Nachsicht reklamiert, die er anderen gegenüber geradezu prinzipiell verweigert hat.

    Meurer: Hat er dann die Nachsicht jetzt verdient?

    Lammert: Er hat jedenfalls keinen Anspruch darauf. Ich persönlich plädiere sehr dafür, unabhängig aber vielleicht gerade jetzt aus dem konkreten Anlass, in der Beurteilung von Sachverhalten, mit denen man selber glücklicherweise nicht konfrontiert war, vorsichtiger umzugehen, als das gelegentlich passiert. Günter Grass selbst ist geradezu die Personalisierung dieser Neigung gewesen. Er ist immer wieder in vergleichbaren Situationen mit einem scharfen, unnachsichtigen, geradezu unbarmherzigen moralischen Urteil gegenüber anderen aufgetreten- Und ich finde, dass das hoffentlich die Lektion ist, die er selber und auch andere aus dieser Situation für die Zukunft ziehen, dass eine solche Neigung zur Unnachsichtigkeit weder den historischen Erfahrungen, noch der jeweils individuellen Lebenssituation gerecht wird.

    Meurer: Kann dann, Herr Lammert, die Debatte über den Fall Grass hinaus dazu beitragen, die viel zitierte Schuld der Väter, der Großväter in einem milderen Licht erscheinen zu lassen? Manche werden das vielleicht jetzt sogar befürchten.

    Lammert: Noch mal: Es geht weder darum, nun ein besonders prominentes Beispiel für eine jahrzehntelang verdrängte Verstrickung zum Anlass einer prinzipiellen Verharmlosung oder Verniedlichung der damaligen Verhältnisse und auch persönlicher Verirrungen oder Verstrickungen zu nehmen, aber umgekehrt muss die Übertreibung noch kritischer als in der Vergangenheit behandelt werden, für die Grass selber immer wieder gestanden hat, nämlich aus einer scheinbar abgehobenen Position eines unbeteiligt über allen anderen Niederungen schwebenden aufgeklärten Geistes Zensuren und moralische Urteile zu erteilen, die in vielen Fällen dieser jeweiligen individuellen Lebenssituation nicht gerecht werden und den außergewöhnlich komplizierten historischen Verhältnissen eben auch nicht.

    Meurer: Sie selbst werden ja, Herr Lammert, zu den 68ern gezählt, haben das damals mitbekommen, auch die Auseinandersetzung mit der Generation 1933 bis 1945. Sind Sie speziell von Günter Grass enttäuscht jetzt?

    Lammert: Ich zögere, die Frage mit Ja oder mit Nein zu beantworten. Mich hat Günter Grass als Autor sehr beeindruckt, und daran wird sich auch nach diesen eigenen späten Enthüllungen der letzten Tage nichts ändern. Dass herausragende Autoren und Schriftsteller - übrigens auch Philosophen - sich nicht zugleich durch überragendes politisches Urteilsvermögen auszeichnen müssen, ist eine Erfahrung, die man bei Günter Grass nicht zum ersten Mal macht. Seine Einlassung etwa zur deutschen Einheit war nicht nur für mich, sondern übrigens auch für viele Sozialdemokraten, die er politisch ja immer besonders aktiv unterstützt hat, damals in einer Weise politisch außerirdisch, dass die Vorstellungen, dass es sich hier um eine auch herausgehobene politische Autorität handele, sicher sehr viel früher erschüttert worden sind als durch die Vorlage seiner Autobiografie.

    Meurer: Der Fall Günter Grass. Das war Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Herr Lammert, besten Dank und auf Wiederhören.

    Lammert: Auf Wiederhören!