Samstag, 30. September 2023

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Lammert kritisiert EFSF-Abstimmungverfahren in Slowakei

Das slowakische Parlament hat im zweiten Anlauf für den erweiterten Euro-Rettungsschirm gestimmt. Der Vorgang sei zwar rechtlich korrekt, aber offensichtlich von taktischem Kalkül geprägt, kritisiert Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU). Für das Ansehen und die Autorität politischer Entscheidungen sei dies nicht hilfreich.

Norbert Lammert im Gespräch mit Christoph Heinemann | 14.10.2011

    Christoph Heinemann: EFSF heißt Europäische Finanzstabilitätfazilität. Die Slowaken sorgten gestern dafür, dass diese vier Buchstaben nicht in der europäischen Rundablage verschwinden werden, sondern dass Europa im Ringen mit Finanzspekulanten und Schuldenbergen nun die Muskeln spielen lassen will, Ausgang offen. Klar ist, dass sich so etwas nicht mehr wiederholen soll. Deshalb denkt die Bundesregierung über eine Institution innerhalb der Europäischen Union nach, eine kleine Euro-Regierung mit eigenem Fahrplan, Frühwarnsystem und so weiter. Wie gesagt, das alles unter den Argusaugen der europäischen Parlamentarier, die vermuten, dass hier die Parlamente ausgehebelt werden könnten. – Am Telefon ist Norbert Lammert, der Präsident des Deutschen Bundestages. Guten Morgen.

    Norbert Lammert: Guten Morgen, Herr Heinemann.

    Heinemann: Herr Lammert, die Slowaken haben gestern Ja gesagt, aber erst im zweiten Anlauf. Ist diese Zustimmung unter dem parlamentarischen Gesichtspunkt ein Ja zweiter Klasse?

    Lammert: Na ja, rechtlich ist der Beschluss natürlich in vollem Umfang wirksam und gültig, aber er hat zweifellos den Schönheitsfehler eines offensichtlich von taktischen Kalkülen geprägten Abstimmungsverhaltens, das die interessierte Öffentlichkeit zweifellos ein wenig strapaziert.

    Heinemann: Taktisches Kalkül, sagen Sie. Welche Folgen hat es für die Demokratie, wenn so lange abgestimmt wird, bis das Ergebnis bestimmten Leuten passt?

    Lammert: Nun, eine solche Möglichkeit hätte offensichtlich auch in der Slowakei nicht bestanden, sondern man hat hier von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, dass bei der Ratifizierung internationaler Verträge, die auch in der Slowakei der Zustimmung bedürfen, um überhaupt rechtswirksam werden zu können, zwei Abstimmungen möglich sind. Insofern ist der Vorgang nach dem, was ich gelesen und gehört habe, wohl nicht zu beanstanden. Aber es muss natürlich Irritationen erzeugen, wenn innerhalb von zwei Tagen ein und dasselbe Parlament in ein und derselben Zusammensetzung über ein und denselben Sachverhalt zweimal in unterschiedlicher Weise votiert und die einzige Veränderung, die in der Zwischenzeit stattfindet, die Vereinbarung von Neuwahlen ist. Deswegen noch mal: Rechtlich ist das offenkundig korrekt, aber es hilft dem Ansehen, der Glaubwürdigkeit, der Autorität von politischen Entscheidungen nicht, wenn sich in einer so offensichtlichen Weise der Vorrang taktischer Kalküle vermittelt.

    Heinemann: Das hat Geschmäckle, würde man im Südwesten sagen?

    Lammert: Beispielsweise.

    Heinemann: Sie haben kürzlich Schweden besucht, wo über die Einführung des Euro lebhaft diskutiert wird. Der Frontverlauf ist eindeutig: Das Volk sagt Nein, die Regierung sagt Ja. Wie gefährlich ist dieser Spagat für die Demokratie?

    Lammert: Er ist nicht gefährlich und er ist im Übrigen ja auch nicht so ungewöhnlich, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag. Wir sollten nicht ganz vergessen, dass es in der jüngeren deutschen Geschichte eine Reihe von durchaus bedeutenden Entscheidungen gegeben hat, die zu dem Zeitpunkt, als sie von Regierung und zur Rechtswirksamkeit von Parlamenten, vom Deutschen Bundestag getroffen wurden, sich keineswegs einer mehrheitlichen Zustimmung in der deutschen Bevölkerung erfreut haben. Also diese Differenz zwischen einer politischen Überzeugung in den dafür gewählten politischen Organen auf der einen Seite und einer Skepsis der Öffentlichkeit gegenüber den gleichen Sachverhalten ist eine Erfahrung, die erstens nicht neu ist und zweitens auch sicher nicht exklusiv sich nur in den neuen Mitgliedsstaaten in Mittel- und Osteuropa beobachten lässt.

    Heinemann: Aber es ist für die Bürger doch ein Frustrationserlebnis, oder besteht da nicht die Gefahr, dass aus den Geführten dann auch Verführte werden können?

    Lammert: Eine solche Gefahr mag wohl bestehen. Deswegen kommt es umso mehr auf die Überzeugungskraft von Regierungen, Parlamenten, politischen Parteien an, diese Lücke zu schließen, und auch das kann man am deutschen Beispiel ganz gut verdeutlichen. Als in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in der Gründungsphase dieser zweiten deutschen Demokratie die Soziale Marktwirtschaft eingeführt wurde, war das keineswegs der erkennbare Mehrheitswille der deutschen Bevölkerung, es gab eine tiefe Skepsis gegenüber der Zweckmäßigkeit von Wettbewerbsmechanismen bei einer ausgeprägten Mangellage. Als die Wehrpflicht eingeführt wurde, gab es eine starke Mehrheit der Bevölkerung gegen diesen Beschluss des Deutschen Bundestages. Als die Bundesrepublik NATO-Mitglied wurde, war das keineswegs die erkennbare breite Überzeugung der deutschen Bevölkerung. Auch die Römischen Verträge und die sich daraus ergebende Entwicklung der europäischen Integration ist immer wieder mit starken öffentlichen Vorbehalten versehen worden, von der Einführung des Euro gar nicht zu reden. Aber in all diesen Fällen ist es gelungen, im Laufe der Zeit die Öffentlichkeit von der Richtigkeit dieser Richtungsentscheidungen zu überzeugen. Wir haben dazu ja auch heute einen erstaunlich breiten Konsens im Deutschen Bundestag, der sich von der üblichen Rollenverteilung, die Koalition ist dafür und folgerichtig die Opposition dagegen, in einer bemerkenswerten Weise löst.

    Heinemann: Vermissen Sie gegenwärtig Überzeugungskraft?

    Lammert: Nein! Das wäre eine unfaire Kommentierung angesichts einer außergewöhnlich komplizierten Problemlage. Ich weise häufig bei Veranstaltungen, bei Gesprächen darauf hin, dass es ein bisschen viel verlangt ist von der Politik, ausgerechnet zu einem Thema eine eindeutige, klare, unmissverständliche, für jedermann nachvollziehbare und scheinbar auch unbestreitbare Position zu erwarten, wenn sich gleichzeitig zu genau diesem gleichen Thema alle Experten innerhalb und außerhalb Deutschlands in einem so vielfältigen Chor so extrem unterschiedlich äußern, dass es ein bisschen viel verlangt ist, dass gegenüber einer solchen vollständig aufgesplitterten Expertenmeinung die Politik die scheinbar einzig richtige Position und dann bitte schön auch geschlossen vertreten soll.

    Heinemann: Aber dann sollte doch wenigstens das parlamentarische Verfahren nachvollziehbar sein. Beim EFSF haben wir jetzt die Regelung, dass der Finanzminister nur die Zustimmung des Haushaltsausschusses einholen soll, und diese Informationen über den sogenannten Hebel, mit dem also das Volumen gestreckt werden soll, mit Fondsgeldern aufgestockt werden soll, die kommen nur teilweise, scheibchenweise an die Öffentlichkeit.

    Lammert: Nein, das ist glücklicherweise ein bisschen anders. Im Gegenteil: Wir haben jetzt gerade im Zusammenhang mit der Verabschiedung und der Zustimmung zu diesem EFSF, also diesem europäischen Stabilisierungssystem, eine bislang beispiellose parlamentarische Mitwirkung etabliert. In Zukunft müssen eben nicht nur alle neuen Grundsatzentscheidungen, ob beispielsweise ein Land überhaupt aufgenommen werden soll in diesen Mechanismus, also Hilfestellung erhalten soll, oder ob es nach der Aufnahme eines Landes gegebenenfalls Korrekturen der Vereinbarungen geben muss, unter denen die Aufnahme beschlossen worden ist, vom Plenum des Deutschen Bundestages beschlossen werden, bevor die Regierung überhaupt rechtswirksame Vereinbarungen eingehen kann. Und was den Umgang mit den Instrumenten – das war wahrscheinlich der Kern Ihrer Frage -, den Umgang mit den neuen Instrumenten dieses Systems angeht, bedarf wiederum die Geschäftsordnung, die sich dann der Fonds selber gibt, um überhaupt operativ wirksam werden zu können, der Zustimmung des Bundestages über die Mitwirkung des Haushaltsausschusses, und selbst für die denkbaren Situationen, in denen eine kurzfristige Entscheidung notwendig sein mag, die nicht ein sofortiges und schnelles Zusammentreten des Deutschen Bundestages ermöglicht, ist die parlamentarische Mitwirkung in Zukunft sichergestellt, indem auch dann wieder ein vom Bundestag gewähltes Gremium von Abgeordneten an diesen Entscheidungen mitwirken muss.

    Heinemann: Also der Hebel wird vom Deutschen Bundestag sanktioniert werden müssen?

    Lammert: Ja! Jedenfalls wird es ein solches Instrument nicht geben können, ohne dass der Deutsche Bundestag dem seine Zustimmung erteilt hat.

    Heinemann: Herr Lammert, für das Wochenende hat die Organisation Occupy Wallstreet Aktionen angekündigt, auch das spanische Protestforum Democracia real Ya, also echte Demokratie jetzt. Deren Schlachtruf lautet, "lo llaman democracia no lo", "Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine". Braut sich Revolutionäres zusammen?

    Lammert: Es empfiehlt sich eine besondere Zurückhaltung in der Beurteilung von innenpolitischen Entwicklungen in anderen Ländern. Dass es hier eine sehr aufgewühlte Stimmungslage gerade in der jungen Generation in Spanien gibt, ist nicht zu übersehen, und es ist im Übrigen auch nachvollziehbar. Die Arbeitsmarktsituation, auch die Ausbildungssituation in Spanien ist leider um vieles schwieriger und komplizierter, als das in Deutschland der Fall ist, und dass da die Ungeduld wächst, die Kritik auch an der politischen Entwicklung, das ist jedenfalls nachvollziehbar. Und was im Übrigen die ja nicht nur in Spanien, sondern inzwischen auch in New York feststellbare ausdrückliche Protestwelle gegenüber manchen wieder oder unverändert problematischen Geschäftsmodellen von Investmentbanks und Finanzinstitutionen betrifft, da kann ich nur sagen, dafür habe ich volles Verständnis. Wir brauchen hier eine gründliche Neufestlegung von Grenzen, die nicht nur die Transparenz erhöhen, sondern in manchen Fällen auch schlicht die Unzulässigkeit von Geschäften gesetzlich notfalls festlegen, die uns in der Vergangenheit in schwer beherrschbare Turbulenzen geführt haben.

    Heinemann: Norbert Lammert, der Präsident des Deutschen Bundestages. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Lammert: Einen schönen Tag, Herr Heinemann.

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