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Landflucht
Die Einsamkeit der Bauern

Es sieht nach einer einfachen Rechnung aus: Abertausende Menschen sind aus Dörfern und Kleinstädten weggezogen und verlassen das "flache Land"; abertausende Flüchtlinge sind gekommen und werden übers Land verteilt. Die Prozesse von Gehen und Kommen richten sich aber nicht nach der Mathematik, sondern nach wirtschaftlichen und soziokulturellen Bedingungen.

Von Christian Forberg | 03.03.2016
    Die Holztür eines leer stehenden Hauses
    Die Holztür eines leer stehenden Hauses. (picture-alliance/ ZB - Peter Endig)
    Für Sachsen-Anhalt galt der Bevölkerungszuwachs nicht, ebenso wenig für ländliche Räume insgesamt. Das Gefälle zwischen Wachstumsregionen wie Berlin-Potsdam, Jena-Erfurt oder Leipzig und Dresden einerseits und der überwiegenden Zahl der Schrumpfregionen andererseits werde immer größer, stellte das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung fest. Bereits vor Jahren hatte sein Direktor Dr. Reiner Klingholz lakonisch festgehalten: "Das Land hat mehr Anhänger als Bewohner." Hat sich daran etwas geändert?
    "Nein, überhaupt nicht, denn wir wissen ja, dass mittlerweile sehr viele Menschen solche Zeitschriften wie ‚Landlust‘ gerne lesen, aber das tun sie im Allgemeinen auf dem Sofa in der Stadt. Das heißt, wir haben einen etwas verklärten Eindruck vom Land: eben das heile, heile Leben auf dem Land."
    Die meisten Menschen wachsen inzwischen mit diesem Bild auf, mit dieser Bilderbuch-Welt, wo reetgedeckte Häuschen hinter Blumen verschwinden und der Bauer die Schubkarre über den Hof voller glücklicher Tiere schiebt. Kein Zweifel, das gibt es. Aber es betrifft nur wenige jener zwei Prozent aller in Deutschland Beschäftigten, die auf dem Land arbeiten. Das Land sei abgehängt, konstatiert Reiner Klingholz.
    Weniger Arbeitsplätze, weniger Menschen
    "Wenn man dazuzählt, dass auch die Zahl der Arbeitsplätze dort nicht gerade zugenommen hat, dass neue Arbeitsplätze zwangsläufig in den Zentren entstehen, weil dort die kritische Masse an Unternehmen, an Forschungseinrichtungen und klugen Köpfen vorhanden sind, die neue Jobs erfinden – dann muss man sagen: Das Land dürfte auch weiter Bevölkerung verlieren, und zwar im Westen wie im Osten. Da kann man relativ wenig dran ändern."
    Was aber auch heißt: Versuchen kann man es. Sachsen-Anhalt hat im vergangenen Jahrzehnt viel unternommen, um Vorreiter bei Solar und "Green Energy", bei Windkraft und High-Tech zu werden. Die Entwicklung der globalen Märkte hat das ehrgeizige Vorhaben großteils ausgebremst. Und die Landwirtschaft? Auch hier sieht es nicht gut aus: Fast ein Drittel der Fachkräfte wird in den kommenden fünf Jahren in Rente gehen, sagt die Soziologin Bettina Wiener. Und das sei erst der Anfang.
    "Das heißt, selbst wenn die Landwirtschaft, wie in den letzten Jahrzehnten zu beobachten, weniger Arbeitskräfte braucht, ist die Lücke, die momentan durch Renteneintritte entsteht und weiter entstehen wird, so groß, dass wir gar nicht mehr in der Lage sind, diese Lücke zu schließen."
    Etwa 1000 Fachkräfte fehlen, allein um den schwierigen Status quo aufrechtzuerhalten, ergab eine Fachkräfte-Studie, die das Hallenser Zentrum für Sozialforschung erstellte; Bettina Wiener ist dessen Geschäftsführerin. Die Landwirtschaft ist inzwischen so hoch technisiert, dass rund drei Viertel der Beschäftigten einen Fach- oder Hochschulabschluss brauchen. Doch dafür gibt es zu wenig geeigneten Nachwuchs.
    "Es gibt kaum noch junge Leute in ländlichen Regionen, die überhaupt diese Arbeit, diese Berufe kennen. Wenn sie dann umgekehrt versuchen, junge Leute aus der Stadt für diesen Beruf zu gewinnen, dann stecken da wirklich Vorstellungen dahinter, die entsprechen nicht dem wahren Bild."
    Lange Zeit habe man versucht, das Problem durch Absenken der Anforderungen an junge Leute zu lösen, sagt die Soziologin Susanne Winge, die die Studie geleitet hat.
    "Eine ganz auffällige Erfahrung ist, dass die Arbeitsagentur zum Beispiel ausweist, welche Jugendlichen die Ausbildung in der Landwirtschaft machen, und sie benennen dort vor allem auch Hauptschüler. Das ist eigentlich nicht die Schülergruppe, die nach der Entwicklung dieses Berufes heute dort gebraucht wird. Viele der Hauptschüler schaffen dann die Ausbildung nicht."
    Alternative: Fachkräfte aus Russland und Bulgarien
    Um Lösungen zu finden, schlossen sich die Soziologen mit dem IAMO, dem Hallenser Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsgesellschaften sowie der Agrargenossenschaft Barnstädt nahe Halle zusammen und initiierten ein vom Bund gefördertes Forschungsprojekt namens "Alfa Agrar". Eine Frage lautete: Könnte man Fachkräfte aus Russland und Bulgarien gewinnen? Ja, sagt Bettina Wiener.
    "Es gibt Menschen, die hierherkommen wollen. Nicht in großen Zahlen, aber Sachsen-Anhalt ist auch klein. Also wenn man sich Russland und Sachsen-Anhalt anschaut – da wäre schon der eine oder andere, der für uns reichen würde. Und wir sind jetzt dabei zu schauen: Was bauchen Unternehmen, um integrationssensibel zu arbeiten und diese Menschen hier so aufzunehmen, dass sie Interesse haben, über längere Zeit in den Betrieben zu arbeiten, sich vielleicht sogar in der Region anzusiedeln und dann hierzubleiben."
    Bei den Bulgaren könnte das leichter gelingen: Als EU-Bürger haben sie freie Arbeitsplatzwahl. Zudem gibt es in Sachsen-Anhalt bereits zwei bulgarische Vereine. 50 junge Spezialisten pro Jahr zu gewinnen, dürfte realistisch sein, ergaben Untersuchungen der Agrarforscher am IAMO unter Leitung von Professor Martin Petrick. Er schränkt ein, dass die Landwirtschaft in Osteuropa ein noch größeres Imageproblem als hierzulande habe,
    "dass sich viele Migrationswillige in Osteuropa vorstellen, in gutbezahlte Schreibtischjobs zu kommen, und auf Grund der genannten Umstände für viele gerade die Landwirtschaft in Westeuropa zunächst nicht auf dem Schirm ist als möglicher Aufnahmesektor. Ich denke, dieses Bild zu verändern, könnte dazu beitragen, dass wir tatsächlich Osteuropa in größerem Maße auch als Fachkräfte in der deutschen Landwirtschaft sehen. Das ist ein Trend, der bereits ansatzweise zu beobachten ist, auch in Ostdeutschland."
    Voraussetzungen sind, dass sie bereits in den Herkunftsländern zugesichert bekommen: Sie machen hier diese Ausbildung, und dann können Sie bei uns diesen oder jenen Beruf ergreifen. Wir unterstützen Sie beim Erwerb der Sprache und schaffen ein geeignetes soziales Umfeld.
    All das haben die allermeisten der Abertausend Flüchtlinge nicht. Sie können auch nicht auf viele, bereits integrierte Landsleute hoffen, wie vor Jahren zum Beispiel die Bosnier, sagt Professorin Birte Nienaber, Geografin in der Migrationsforschung an der Uni Luxemburg.
    "Als die bosnischen Flüchtlinge in den 90er Jahren kamen, trafen sie vielerorts auf Familienangehörige, die als Gastarbeiter gekommen waren. Zum Teil waren sie selbst schon als Gastarbeiter in Deutschland, sind dann wieder zurück ins damalige Jugoslawien und sind dann während der Balkankriege zurück nach Deutschland gekommen. Das heißt, sie sprachen zum Teil Deutsch, sie kannten sich in Deutschland aus, sie hatten familiäre, freundschaftliche Beziehungen – das ist halt ein großer Unterschied zu den jetzigen Flüchtlingsbewegungen."
    Es dauert fünf Jahre, im Beruf anzukommen
    Umso mehr müsse man sich um sie mühen, will man wenigstens einige von ihnen als Arbeitskräfte haben, sagt Martin Petrick.
    "Für die Flüchtlinge gilt sicherlich noch mehr als für Hochschul-Absolventen aus Osteuropa, dass eine starke Vorselektion erforderlich sein wird im Hinblick auf die Ausbildungseignung, auf die Bereitschaft, in der Landwirtschaft zu arbeiten, und dann erhebliche Investitionen erforderlich sein werden, um diese Menschen in den Stand zu versetzen, tatsächlich als Fachkräfte zu arbeiten."
    Im internationalen Vergleich dauere es fünf Jahre, im Beruf anzukommen - nicht eingerechnet Sprachunterricht und nachzuholende Schulbildung, sagt Dr. Andreas Siegert. Der Soziologe ist Mitautor eines Handbuches namens "anKommen-willKommen". Es wurde am Hallenser Sozialforschungsinstitut erstellt, ist ein Ergebnis der Zusammenarbeit mit der Stadt Hettstedt. Die kleine Industriestadt im Mansfeldischen, eng mit Kupfer und Aluminium verbunden, fürchtet wie so viele Kleinstädte im ländlichen Raum die Überalterung, den Niedergang.
    "Das Durchschnittsalter im Raum Hettstedt liegt zwischen 54 und 55 Jahren. Da können wir nicht davon ausgehen, dass die Geburtenrate die Sterberate übersteigen wird in absehbarer Zeit."
    Da planmäßiger Zuzug nur in geringem Maße zu erwarten ist, will man sich um jene kümmern, die unangemeldet angekommen sind, sagt Andreas Siegert. Als Erkenntnis floss ins Handbuch:
    "Da, wo eine Haltung ist aus dem öffentlichen Raum - im Fall Hettstedt ist es der Bürgermeister und seine Stadtverwaltung, die sagen: Wir heißen diese Menschen willkommen, und wir befähigen alle, diese Menschen zu integrieren. Wo ein strukturiertes Vorgehen, ein Plan dahinter ist, wie man das macht, haben wir keine Akzeptanzprobleme festgestellt. Vor allem ist es gelungen, Menschen, die nichts wollen außer Unruhe stiften und von außerhalb kommen, nur ihre Ideologie oder Menschenfeindlichkeit in den öffentlichen Raum tragen, dass diese Menschen ferngehalten werden konnten, auch durch eine Bevölkerung, die gemerkt hat: Das sind Menschen wie du und ich."
    Anwerben, prüfen, ansiedeln
    In Hettstedt möchten sie noch weiter gehen, möchten nicht nur Menschen zugeteilt bekommen, sondern selbst auf die Suche gehen und anwerben, prüfen und ansiedeln.
    "Hier könnten wir uns vorstellen, dass andere Verwaltungsverfahren gefunden werden, die solche interessierten Kommunen unterstützen und ihnen die nötigen Entscheidungsspielräume auch gewähren und das Geld dazu geben. Dazu gehört auch eine Ressourcenausstattung."
    Bislang geschah das vor allem in zentral gesteuerten Projekten, um den ländlichen Raum nicht vollends aufzugeben. Mit eher bescheidenem Erfolg. Reiner Klingholz nennt das Mühen "Projektitis" und engagiert sich für einen auf ländliche Räume gerichteten Zukunftsfond.
    "Die Kreativität vor Ort sorgt immer dafür, dass sich die Leute ernst genommen fühlen. Gerade im Osten Deutschlands beklagen wir ja immer einen Mangel der Zivilgesellschaft. Aber die können wir nicht schaffen, wenn man die Leute nicht bei ihren Ideen abholt und sagt: Jetzt macht mal. Guckt, wie’s klappt - es wird nicht alles klappen. Aber das, was klappt, müsst ihr dann weiterbetreiben und in die Breite tragen. Dafür braucht es eine meist niedrigschwellige Förderung und keine großen Förderprojekte."
    Das Bundesinnenministerium schob das Modellvorhaben "Daseinsvorsorge 2030" an. Das hört sich an, als sollte für den ländlichen Raum Ostdeutschlands Wegweisendes geschaffen werden, was nüchtern betrachtet kaum der Fall ist: Es ist bereits seit fünf Jahren beendet. Unter den sechs Kleinprojekten war aber zumindest eines, das in eine neue Richtung weist. In der Uckermark wurde ein "kombiBUS" eingerichtet, der Menschen und Güter zusammen transportieren kann – was strenggenommen nicht sein darf. Es fanden sich aber Menschen, die das wollten, und denen es gelang, Gesetze anders zu interpretierten.
    Noch im Gange ist das Modellvorhaben "Land(auf)schwung" des Landwirtschaftsministeriums. Es entstand gemeinsam mit dem Thünen-Institut für ländliche Räume in Braunschweig, das den Projektverlauf durch Dr. Patrick Küpper wissenschaftlich begleitet.
    "Da wurden 39 Regionen in ganz Deutschland ausgewählt und dann in einem beschränkten Wettbewerb um die besten Konzepte 13 Regionen ausgewählt, die jetzt dabei sind und Geld bekommen, ihre Vorstellungen umzusetzen. Akteure vor Ort sollen selber entscheiden, welche Ziele sie verfolgen wollen und wie sie das Geld ausgeben möchten."
    In ländlichen Regionen fehlt es an schnellen Datenverbindungen
    In Sachsen-Anhalt erreichte die Altmark die Runde der letzten Dreizehn. Um Stendal und Salzwedel herum will man endlich schnelle Datenverbindungen per Breitband installieren und zum "Smart Country" werden.
    Das zweite Vorhaben bezieht sich auf leerstehende Immobilien: 600 meist größere Objekte stehen bereits leer; bei zwei, sagt Patrick Küpper, sorgt man sich im Rahmen des Projektes um eine neue Nutzung.
    "Das eine – da geht es um Senioren-WGs, die man einrichten möchte in einem historischen Gebäude, insbesondere für demenzkranke Senioren, die dort auch betreut werden. Und das zweite Projekt – da geht es um eine leerstehende Fabrikhalle, wo es eine Bürgergenossenschaft geben soll, die diese Halle herrichtet und als Multi-Funktions-Halle nutzen soll."
    Vielleicht auch für die Zusammenarbeit mit anerkannten Flüchtlingen, die in der Altmark leben wollen. Wenn nicht gleich Arbeit, wäre doch Wohnraum genug vorhanden: Bis 2025 rechnet der Landkreis mit weiteren 10 000 leerstehenden Wohnungen.