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Langzeitstudie zu Ganztagsschulen
Viel freiwillige Angebote, wenig gezielte kognitive Förderung

Zwei Drittel aller Schulen in Deutschland haben auf Ganztagsbetrieb umgestellt - aber in einer reduzierten, international so nicht üblichen Form. Ist der deutsche Sonderweg ein Erfolgsmodell? Ein Team von Wissenschaftlern untersucht das seit 2005. Die jetzt vorgestellten Ergebnisse sind durchwachsen.

Von Manfred Götzke | 08.11.2019
Schüler beim Mittagsessen in der Schulkantine/Schulmensa an einer Ganztagsschule.
Zum Ganztagsbetrieb gehört auch eine Schulkantine und die Gelegenheit zu einem preiswerten und gesunden Mittagessen (Imago / Michael Gottschalk)
In einem sind sich die Bildungswissenschaftler, die sich nun seit 15 Jahren mit der Erforschung der Ganztagsschule befassen, einig: Der Ausbau des Ganztags gehört zu den größten Leistungen der Bildungspolitik in den letzten 20 Jahren. Das ist ja schon mal was, sagt Ludwig Stecher von der Uni Gießen, einer der Hauptautoren der Studie:
"Die wichtigsten Befunde sind, dass wir ein gutes Stück Weg gegangen sind, dass wir viele Erfolge sehen, vor allem was den quantitativen Ausbau betrifft. Viele Schulen haben auch die pädagogische Qualität erhöht. Allerdings haben wir hier einige ambivalente Befunde."
Ganztagsschule ist meist freiwilliges, offenes Angebot
Fast 70 Prozent der deutschen Schulen bieten heute Ganztag. Bevor der Bund den Ausbau Mitte der 2000er Jahre mit Milliarden gefördert hat, waren es nur etwa zehn Prozent. Mehr als 40 Prozent aller Schülerinnen und Schüler gehen auch hin. Dass es nicht mehr sind, liegt auch daran, dass der überwiegende Anteil der Ganztagsschulen – etwa 85 Prozent - ein freiwilliges, offenes Angebot sind. Tendenz eher steigend, so Ludwig Stecher:
"Eine Erwartung war, dass die offene Ganztagsschule eine Art Durchgangsstadium hin zu einer teil- oder vollgebundenen wird. Die Daten unterstützen das nicht."
Medien- und Digitalisierungskurse überraschenderweise rückläufig
Auch deshalb ist nicht immer klar, was drin ist, wenn Ganztagsschule draufsteht. Es reicht von Betreuung durch Eltern, über Musik- und Sport bis hin zu individueller Förderung oder Physik- und Medien-Kursen. Wobei letztere in den vergangenen Jahren entgegen vieler Erwartungen zurückgegangen sind. Stecher:
"Wir sehen, dass in bestimmten Bereichen, die Diversität zurück gefahren wurde. Vor allem im Bereich Neue Medien. Dabei finden wir, dass gerade neue Medien, Digitalisierung etwas ist, das die Ganztagsschule zu bearbeiten hat. Gerade diese Angebote wurden zurück gefahren in den vergangenen Jahren."
Was nach Schule klingt, ist unbeliebt
Der Grund: Angebote, Kurse, die nach Schule klingen, werden von den Schülern eher selten wahrgenommen, sagt Eckard Klieme, Bildungsforscher am Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation*. Die Schulen haben darauf schlicht reagiert:
"Wir stellen generell fest, dass die Bereitschaft von Eltern und Schülern, Angebote wahrzunehmen, sehr begrenzt ist. Das fokussiert sich sehr auf Sport und musische Aktivitäten und vielleicht ein bisschen Hausaufgabenbetreuung, und das war’s im Wesentlichen. Eines der Kernprobleme unserer Studie über all die Jahre hinweg ist, dass wir immer wieder feststellen, dass gezielte Förderangebote, wo es auch darum geht, Schwächen auszugleichen, dass die gar nicht wahrgenommen werden."
Hoffnung auf mehr Chancengerechtigkeit nicht erfüllt
Die Ganztagsschule hat es nicht geschafft, eine kontinuierliche Linie von Förderung zu etablieren, sagt Klieme:

"Und das ist das große Problem bis heute. Das, was sich viele erhoffen, eine gezielte kognitive Förderung, beim Lesen, bei Naturwissenschaften, bei Medienkompetenzen. Das sehen wir eben gerade nicht."
Das ist schade bis ärgerlich. Denn die Forscher können belegen: Wenn es solche Förderangebote gibt – und die Kinder auch hingehen, dann wirken sie. Besonders deutlich haben die Bildungsforscher das bei der Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern festmachen können. Die große Hoffnung vieler Bildungspolitiker und Wissenschaftler, dass die Ganztagsschule die Chancengerechtigkeit verbessert, hat sich auch nicht erfüllt. Zwar profitieren Kinder aus bildungsfernen Familien durchaus, wenn sie Nachmittags in der Schule sind. Doch gerade die gehen seltener hin als andere. Klieme:
"Wir konnten zeigen, dass in der Primarstufe Kinder aus bildungsfernen Schichten eher weniger an den Angeboten teilnehmen. Auf der Habenseite konnten wir zeigen, dass Kinder mit Migrationshintergrund sagen, sie haben sehr viel davon im Hinblick auf den Lernnutzen. Wir haben sie gefragt, verbessern sich deine Noten, kommst besser klar in der Schule – und gerade die Kinder bejahen das."
Experten trotzdem gegen Ganztagsschulpflicht
Daraus eine Ganztagsschulpflicht abzuleiten halten die beiden Ganztagsschulexperten aber für verfehlt. Deutschland sei bislang gut damit gefahren, die Entscheidung über den Ganztag den Eltern selbst zu überlassen. Überhaupt, sagt Eckard Klieme, würde viel zu oft über nur über die leistungsschwächeren Schüler geredet, die die Ganztagsförderung bräuchten. So werde individuelle Förderung zum Makel:
"Wenn die Schule Förderung macht, systematische Förderung, dann wird das immer als Makel interpretiert. Wir müssen genau wegkommen von der Idee, der eine braucht Bildung, der andere hat sie schon. Alle brauchen Bildung, alle brauchen gute Schule. Und alle müssen da gefördert und herausgefordert werden, wo sie sind. Und das muss das Prinzip von Schule – und auch von Ganztagsschule sein."
*Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle haben wir in der Online-Fassung den alten durch den neuen Namen der Forschungseinrichtung ersetzt.