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Lars Gustafsson: "Der optische Telegraf"
Sprachphilosophische Experimente

Der schwedische Autor Lars Gustafsson war nicht nur Romancier, sondern auch als Lyriker und Essayist. Zwei Jahre nach seinem Tod ist nun das Bändchen „Der optische Telegraf“ erschienen. Darin dreht sich alles um die mannigfaltigen Möglichkeiten des Kommunizierens schlechthin.

Von Martin Krumbholz | 16.11.2018
    Buchcover: Lars Gustafsson: "Der optische Telegraf. Bedeuten und Verstehen"
    Winkelmasten als Metapher für Sprache (Buchcover: Secession Verlag, Foto: imago stock&people /blickwinkel G.Franz)
    Ist Lars Gustafssons "Der optische Telegraf" ein gelungenes Buch? Wenn wir Lars Gustafsson und sein Buch "Der optische Telegraf" richtig verstehen, handelt es sich im Fall der Bejahung dieser Frage um eine "atheoretische Aussage", die weder wahr noch falsch ist; das gilt aber auch für ihre Verneinung. Eine atheoretische Aussage ist eine Aussage, die sich nicht dadurch verifizieren oder falsifizieren lässt, dass ihr Gegenteil zutrifft oder nicht zutrifft. Das gilt für jede Wertaussage, aber auch – und hier leuchtet es vielleicht unmittelbarer ein – für jede Metapher. Gustafsson zitiert folgende Zeile des schwedischen Lyrikers und Nobelpreisträgers Tomas Tranströmer:
    "Dezember. Schweden ist ein an Land gezogenes, abgetakeltes Schiff."
    Diese Aussage lasse sich zwar nicht verifizieren, aber auch nicht durch ihre Negation widerlegen. Es wäre demnach nicht sinnvoll, zu behaupten:
    "Im Dezember ist Schweden kein an Land gezogenes, abgetakeltes Schiff."
    Metaphern, ein Sinnbild für Kommunikation
    Was will Lars Gustafsson uns damit sagen? Nicht etwa, dass metaphorische Aussagen an sich bedeutungslos wären. Sondern im Gegenteil, dass der positivistische Bedeutungsbegriff zu begrenzt sei, um alles zu erfassen, was mit Sprache möglich ist. Auch der titelgebende optische Telegraf ist so gesehen eine Metapher: für die potenziell unbegrenzten Möglichkeiten der Kommunikation.
    Der im 19. Jahrhundert sehr verbreitete optische Telegraf ist ein Vorläufer des elektronischen Telegrafen: ein Nachrichtensystem, basierend auf Signalstationen mit Winkelmasten, mit deren Hilfe die Entfernung zwischen Berlin und Koblenz in sage und schreibe zwei Minuten überbrückt werden konnte. Doch zurück zum spannenden Feld der atheoretischen Aussagen, das der Schriftsteller Lars Gustafsson in seiner Eigenschaft als Philosoph und Linguist mit besonderem Eifer beackert. Er konfrontiert uns mit folgendem Satz:
    "Es kann niemals recht sein, Kinder lebendig zu kochen."
    Utilitarismus ist ein Verteilungsprinzip
    Nun, dieser Satz mag unmittelbar einleuchten, eigentlich müsste man darüber gar nicht nachdenken. Und doch werde sein Wahrheitsgehalt, so Gustafsson, von einer bestimmten Warte aus bestritten; zum Beispiel von Politikern und auch Theoretikern, die den Atombombenabwurf auf Hiroshima für gerechtfertigt hielten oder halten. Nehmen wir einen vergleichbaren Fall, den Gustafsson nicht erwähnt: in dem Theaterstück "Terror" von Ferdinand von Schirach soll der Zuschauer darüber entscheiden, ob der Bundeswehrpilot richtig handelt, der ein von Terroristen gekapertes, mit Passagieren besetztes Flugzeug abschießt, um zu verhindern, dass es in ein voll besetztes Stadion stürzt. In diesem fiktiven Beispiel wird, wie im historischen Fall von Hiroshima, eine Menge hypothetischen Leidens gegen eine andere Menge abgewogen. Man nennt dieses Verfahren utilitaristisch:
    "Der Utilitarismus, ein ethisches Prinzip, das zurzeit weniger populär ist als in den 1980er Jahren, ist keine ethische Theorie. Er ist ein Verteilungsprinzip, das vorschlägt, dass ein Wert, wenn er quantifizierbar ist, so verteilt werden soll, dass die größtmögliche Menge dieses Wertes der größtmöglichen Anzahl Personen zugutekommt."
    Ein utilitaristischer Gedankengang hat zum Abwurf der Atombomben auf Japan geführt. Wenn jedoch das Kochen von Kindern unter keinen Umständen richtig sein kann, muss das utilitaristische Argument abgewiesen werden, schlägt Gustafsson vor. Denn es gebe offenbar ethische Werte, deren ontologischer Status demjenigen der natürlichen Zahlen oder anderer Invarianten ähnele. Und dieser Überlegung werden die meisten Leser sicherlich zustimmen.
    Eine Tatsache, unendlich viele Gegenteile
    Nun ist "Der optische Telegraf" offensichtlich kein Buch, das Lesefutterknechten gewidmet ist. Es wendet sich an Leserinnen mit einem gewissen Vergnügen an sprachphilosophischen Experimenten; ganz leicht zu lesen ist das Büchlein tatsächlich nicht. Im Kapitel über "alternative Erzählungen" – und was könnte im Trump-Zeitalter aktueller sein – geht es um die kontrafaktischen Wenn-nicht-dann-nicht-Aussagen. Ja, man könne eine Geschichte modifizieren und umschreiben, aber die Voraussetzungen jeder Geschichte ließen sich sozusagen ins Unendliche verlängern. Nehmen wir das Beispiel des kleinen Hundes, der sich verläuft, in den Swimmingpool des Nachbarn fällt und ertrinkt. Der Hundebesitzer wird nun sagen: Hätte ich bloß nicht… Was er sich nicht klarmacht, ist die Tatsache, dass die Menge der Bedingungen, um das traurige Ereignis zu verhindern, unendlich ist:
    "Wenn der Hund zu Hause geblieben wäre, dann… Aber das gilt auch für den Fall, dass der Hund niemals geboren worden wäre, dann hätte er niemals ertrinken können. Und wenn unser Planet beim ursprünglichen Entstehungsprozess des Sonnensystems einen anderen Abstand zur Sonne gehabt hätte, wären keine Tiere entstanden, die hätten ertrinken können."
    Diese nüchternen Überlegungen mögen ein wenig herzlos klingen; doch es geht weniger darum, dem Hundefreund seinen verständlichen Kummer zu verübeln, als um die letzten Endes auch tröstliche Tatsache, dass man eine Geschichte zwar modifizieren kann, aber ausschließlich dadurch, dass man eine ganz andere Geschichte erzählt. Derart ermutigt, wagen wir nun abschließend die Aussage: Lars Gustafssons "Der optische Telegraf" ist ein gelungenes Buch.
    Lars Gustafsson: "Der optische Telegraf. Bedeuten und Verstehen"
    Secession Verlag, Berlin. 127 Seiten, 20,00 Euro.