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László Darvasi: "Wintermorgen"
Frostige Novellen über menschliche Abgründe

Der ungarische Schriftsteller László Darvasi hat die literarische Form der Novelle früh für sich entdeckt. In den Geschichten in seinem neuen Band "Wintermorgen" verschmelzen oft Schönheit und Schrecken miteinander.

Von Tabea Soergel | 21.12.2016
    Porträt des ungarischen Schriftstellers Laszlo Darvasi.
    Porträt des ungarischen Schriftstellers Laszlo Darvasi. (imago/gezett)
    "Er hob die Schubkarre an und zog los. Wie genau er jeden Schritt, jeden Hundelaut, das hässliche, beleidigte Rauschen der Robinien, das höhnische Pfeifen des Zuges kannte. Diese Dunkelheit war sein Zuhause. Und das Quietschen der Schubkarre bohrte sich in sie hinein wie der Korkenzieher in den Flaschenhals."
    Ein junger Mann schiebt eine leere Schubkarre durch die Nacht. Er wird darin seinen betrunkenen Vater aus der Kneipe nach Hause bringen. Doch bevor sie das Elternhaus erreichen, lädt er ihn ab und tritt ihn blutig – woran sich der Vater am nächsten Tag wie üblich nicht erinnern kann. Gewalt ist allgegenwärtig in László Darvasis Novellensammlung "Wintermorgen": Sei es in Form handfester, körperlicher Eruptionen bis hin zu Totschlag und Mord, sei es als psychische Grausamkeit oder als unterschwellige Bedrohung durch ein feindseliges Kollektiv.
    Gefahren lauern überall
    Als Leser kann man sich nie sicher sein, von wem die größte Gefahr ausgeht: Von der Umwelt? Oder doch von den Protagonisten selbst? Wehrlos sind sie ihrem paranoiden Weltbild ausgeliefert, das sie regelmäßig zu brutalen Kurzschlusshandlungen gegen ihre Mitmenschen treibt. Manchmal ist es aber auch ein Autounfall, der das Leben der Protagonisten in Stücke reißt, so wie in der Novelle "Trommeln für die Patienten":
    "Als er sich in den Trümmern umsah, kam er zu dem Schluss, dass kein einziges Mitglied der Kapelle den Unfall überlebt hatte. Der Wind blies wie an der Küste. Das Licht kam gleich einer riesigen Braut. Über ihm ächzten die Bäume und bogen sich. Wenn alle sterben, dann ist das wie das Meer. Die Gerüche von Blut und verbranntem Metall mischten sich in der Luft. Nicht weit entfernt lag ein Gehöft, seine Mauern leuchteten weiß, daneben gelbe Heufeime. Die Wolken schwammen dahin, als hätten sie nichts bemerkt. Was bemerken Wolken schon. Tambourmajor, Tubaspieler, Hornist, der Chauffeur, alle waren tot, aus einer Tasche gefallene Lottoscheine lagen herum."
    Der überlebende Trommler schlägt sich zur Psychiatrie durch, in der seine Kapelle auftreten sollte, und gibt das Konzert alleine. Darvasis Kunst besteht darin, auch groteske Situationen wie diese vollkommen natürlich und glaubwürdig darzustellen – selbst wenn sie ins Surreale oder Fantastische kippen.
    Dies verdankt sich zum einen der schlichten, alltäglichen Handlung der Geschichten, in die das unerhörte Ereignis hereinbricht. Schauplatz sind häufig öde, bäuerliche Landstriche. Zum anderen werden plastische Details mit gut platzierten Leerstellen kombiniert. So stellt sich eine traumartig-schwebende Atmosphäre ein. Alles scheint jederzeit möglich: die furchtbarste Tat – oder ein Wunder. Wobei hier Schönheit und Schrecken oft miteinander verschmelzen. In der Novelle "Wo wohnt die Erde?" beschließt ein Mädchen, ein unzertrennliches Liebespaar aus der Nachbarschaft zu erschlagen. Zum Äußersten bereit, folgt es ihm mit einem Ziegelstein in der Hand. Bis es sieht, wie der Mann die Frau misshandelt.
    "Neben ihr plumpste der Ziegel zu Boden. Sie rieb sich die Handfläche, nahm die Kopfhörer, suchte Linkin Park – Numb. Ruhe durchströmte sie, als hätte sie warme, gezuckerte Milch getrunken. Sie war glücklich. Es war nicht mal schlimm, dass der Fernseher plärrte."
    László Darvasi beherrscht viele Tonlagen. Lakonisch beschreibt er ein Milieu, in dem nicht nur Alkoholismus, Elend und Verrohung gedeihen, sondern auch der Fatalismus. Die häufig monströsen Konsequenzen eines existenziellen Ohnmachtsgefühls, das vermeintliche Opfer schlagartig zu Tätern macht, stellt er in aller Drastik dar. Die frostige Atmosphäre seiner Novellen erinnert dabei oft an den titelgebenden Wintermorgen. Sie lässt beunruhigende Einzelheiten messerscharf hervortreten, erhöht andererseits aber auch die Empfänglichkeit für zwischenmenschliche Wärme. Denn auch Momente der Liebe gibt es in Darvasis Texten, genauso wie feinen Humor – und große Melancholie.
    Klare und einfache Sprache
    Sprachlich ist seine Prosa einfach und klar gehalten, und gerade dadurch entwickeln einzelne Sätze, einzelne Bilder eine beeindruckende poetische Wucht. Den Leser erheben sie in die höchsten Höhen, aus denen er einen ungehinderten Blick in die tiefsten menschlichen Abgründe hat. In der Geschichte "Mein kleiner Bruder und ich" hören zwei Jungen nachts Geräusche aus dem Elternschlafzimmer, die dem Kleineren Angst machen. Der Größere beruhigt ihn geduldig – und schiebt ihn, als er endlich eingeschlafen ist, über den Rand des Stockbetts.
    "Mein kleiner Bruder stürzt, fällt hinab, wie das weggeworfene Kleid eines Engels. Seine Knochen krachen so fern, dass die Stimme von Mutter nur einen Moment lang bebt, sie lässt einen Takt aus, dann macht sie weiter, weil man weitermachen muss, man muss es versuchen."
    László Darvasi: "Wintermorgen", Novellen, aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer, Suhrkamp, 348 Seiten, 24 Euro