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László Krasznahorkai: "Baron Wenckheims Rückkehr"
Sprache der Verzweiflung

László Krasznahorkai, laut Susan Sontag der "derzeitige ungarische Meister der Apokalypse", wird weltweit gelesen und verehrt. Seine Spezialität sind düstere, surreal anmutende Geschichten. Auch in seinem neuen Roman, der in einer ungarischen Kleinstadt spielt, ereignen sich unergründliche Dinge.

Von Tabea Soergel | 18.04.2019
Der ungarische Schriftsteller László Krasznahorkai bei einer Lesung in Zagreb
Seit 2015 Preisträger des Man Booker International Prize: László Krasznahorkai (Imago / Davorx Visnjic)
In einer ungarischen Kleinstadt bleibt die Zeit stehen. Menschen und Tiere erstarren in ihren Bewegungen, selbst Regentropfen verharren reglos in der Luft, während sich eine Wagenkolonne durch die Straßen schiebt und mitten in der Stadt haltmacht.
"Das innerste Wesen dessen, der auf dem Hauptplatz ausgestiegen war und sich mit totem Blick und eisiger Gelangweiltheit umgesehen hatte und dann rasch, wie in Eile, wieder eingestiegen war, da ihn diese Stadt und ihre Geschichten nicht interessierten, war böse – böse, krank und allmächtig."
Ist es Gott, der die Stadt heimsucht? Ist es der Teufel? Sind es beide in Personalunion? Die Antwort bleibt László Krasznahorkai schuldig. Das Zentrum seines Romans bildet eine heruntergekommene Kleinstadt in der Puszta, deren Einwohner alle Hoffnungen aufgegeben haben. Erst als die titelgebende Rückkehr des berühmtesten Sohns der Stadt bekannt wird, ändert sich die Stimmung. Der gesamte Ort verfällt in kollektive Hysterie und erwartet den alten, vermeintlich reichen Baron wie einen Messias. Schauplatz, Handlungselemente und Atmosphäre erinnern an Krasznahorkais Roman "Melancholie des Widerstands", den Béla Tarr unter dem Titel "Werckmeisters Harmonien" verfilmt hat: Dort versetzt die Ankunft eines Wanderzirkus', der einen toten Riesenwal ausstellt, ein ungarisches Städtchen in den Ausnahmezustand. Die Beschreibungen in Krasznahorkais neuem Roman schwanken zwischen absurder Komik und bitterbösem Humor, wenn etwa eine Planungssitzung im Rathaus geschildert wird:
"Und jetzt, er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, bitte ich um Bemerkungen, bitte um Gedanken, um Ideen, sprühen Sie Funken, meine Herren, denn hier geht’s um unsere Stadt, worauf sich für eine unendlich scheinende Minute Stille über die Gesellschaft senkte, die der rechts vom Bürgermeister sitzende oppositionelle Vizebürgermeister brach, indem er sagte, dass er mit dem erwähnten Vorschlag weitgehend einverstanden sei und sich ihm nur anschließen könne, aber, sagte er lauter, man müsste überlegen, was mit den schrecklichen Müllhaufen und Obdachlosen und vor allem Bettlerkindern, welche die Straßen bedeckten, geschehen soll, worauf der Bürgermeister laut wurde, ach was denn, Herr Vizebürgermeister, ich habe um Glanzideen gebeten, Selbstverständlichkeiten will ich nicht hören."
Eine Kleinstadt im Ausnahmezustand
Wenn nicht wie hier ein allwissender Erzähler die Vorgänge in der Kleinstadt oder die umständliche Reise des Barons schildert, legt ein vielstimmiger Chor Zeugnis ab. Figuren und Perspektiven wechseln dabei beständig, von Absatz zu Absatz, manchmal lösen sie sich auch unmerklich innerhalb eines Satzes ab. So entsteht ein Mosaik aus Erlebnissen und Wahrheitsvarianten, deren Widersprüche, Sprünge und Lücken eine große Dynamik erzeugen. Die Haltung des Erzählers zu seinem moralisch meist nicht ganz einwandfreien Personal ist dabei ironisch-distanziert. In manchen Momenten wird sein Blick aber auch zärtlich und mitfühlend, wenn er etwa bildreich den Schlaf von Obdachlosen in einem Lagerraum beschreibt:
"Sie flogen wie die Vögel, weit oben, über den Wolken, mit ausgebreiteten Armen, sich glücklich den weichen Luftströmungen überlassend, und hier oben hörte das Oben auf, und hier oben hörte das Unten auf, sie schwebten ungehindert in einem besonderen himmlischen Raum, jeder für sich, nur die gedunsenen Wolkendaunendecken unter ihren Armen, nur das reine, leere Blau über ihren Armen und ringsum Stille."
Aus der unübersichtlichen Figurenschar treten drei Protagonisten hervor, denen man wirklich nahekommt. Zum einen Baron Wenckheim selbst, in Wahrheit völlig verarmt, spielsüchtig und lebensmüde, der nur nach Ungarn zurückkehrt, um ein letztes Mal seine Jugendliebe zu sehen. Außerdem ebenjene Jugendliebe, Marika, eine scheue ältere Frau, die gegen ihren Willen zur lokalen Berühmtheit aufsteigt. Und dann ist da noch, in einem parallelen Handlungsstrang, der Professor in einer Waldhütte, der in völliger Isolation das Denken überwinden will. Seine Monologe über die Grenzen der Wahrnehmung und die Triebkraft der Angst spiegeln subtil die Entwicklungen in der Kleinstadt. Der Baron und Marika bewegen sich indes in quälender Langsamkeit aufeinander zu. Ihre Wiederbegegnung verläuft schließlich anders als erwartet:
"Er griff in die Innentasche seines Jacketts und zog dort das Foto aus seinem Umschlag und reichte es ihr, da bitte, schauen Sie, wie wunderschön sie ist, und Marika neigte den Kopf und schaute sich das Foto an, schaute lange, dann konnte sie nicht mehr und lief in die Küche hinaus, sie hatte nur noch die Kraft, über die Schulter hinweg zu rufen, ach Gott, ich habe Ihnen keinen Zucker zum Kaffee gegeben, verzeihen Sie, dann lehnte sie sich gegen die Anrichte und versuchte, ihrer aufgewühlten Gefühle Herr zu werden, hatte denn der Baron den Verstand verloren, sie hatte ja schon einiges gehört, seine Krankheit so, und seine Krankheit anders, aber dass er sie nicht erkannte, das war doch einfach nicht möglich."
Die Abwesenheit Gottes
Als der Baron seinen Irrtum erkennt, ist es zu spät für ihn und Marika. Die Kleinstadt kehrt sich von ihm ab, als ob sie vom Glauben abfiele, und die Folgen haben tatsächlich alttestamentarische Ausmaße. Von alldem erzählt Krasznahorkai in markantem Stil: Er vereint elaborierte Hochsprache und derben Alltagsjargon, Humor und existenzielle Wucht. In seinen ausufernden, hintersinnig gebrochenen Schachtelsätzen erinnert das an Thomas Bernhard, in seiner aus Verzweiflung gespeisten Kraft an Samuel Beckett. Die Übersetzerin Christina Viragh hat diesen spezifischen Duktus versiert ins Deutsche übertragen, wenn zum Beispiel der Professor die Abwesenheit Gottes reflektiert:
"Wir müssen es akzeptieren, hielt er im winzigen Gebäude der Station von Bicere fest, denn wir sind überzeugt, dass es in einem endlichen Universum Götter oder Gott nicht gibt, und so gerate auch ich, wenn ich das sage, auf dünnes Eis, aber anders kann ich nicht aufbrechen, auch wenn ich auf dem Eis schön auf den Arsch fallen werde, wenigstens aber endlich sagen darf, dass es in der Wirklichkeit keinerlei Gott gibt."
Jene philosophischen Passagen über Gott und die Welt gehören in ihrer intellektuellen Verstiegenheit zu den anstrengendsten Teilen des Buchs, aber auch zu den anrührendsten – denn einziger Zuhörer des Professors ist ausgerechnet ein Straßenhund. Der Autor schert sich merklich nicht um die Konsumierbarkeit seines Romans. So verschwinden auch weit vor dem Ende die Protagonisten wieder aus der Geschichte. Kurz darauf beginnen sich in der Kleinstadt übernatürliche Phänomene und grausame Verbrechen zu mehren, alles scheint auf die Apokalypse zuzusteuern. Und auch der Autokonvoi taucht wieder auf, dessen Erscheinen die Zeit stillstehen lässt. Beeindruckend an diesem Buch ist nicht zuletzt seine Konsequenz: Es geht zu Ende, wie es zu Ende gehen muss. Die Stimmung ist manchmal fast unerträglich düster. Wer sich aber darauf einlässt, kann einen Roman entdecken, der virtuos ewige Fragen mit banal-brutalen Kleinstadtdetails kombiniert, Sprachgewalt mit leichtfüßigem Witz, Schroffheit mit Poesie, Realismus mit Metaphysik – einen Roman also, der trotz seiner Verortung im Hier und Jetzt zeitlos wirkt und unserer Wirklichkeit dabei doch erschreckend nah.
Lászlo Krasznahorkai: "Baron Wenckheims Rückkehr"
Aus dem Ungarischen von Christina Viragh
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
496 Seiten, 25 Euro