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Lateinamerika
#NiUnaMenos - im Kampf gegen Frauenmorde

Mehr als zwölf Frauen werden täglich in Lateinamerika getötet, weil sie Frauen sind. Gegen diese "Femizide" hat sich in Chile eine Protestbewegung formiert. Denn die Frauenmorde sind nur der extreme Auswuchs eines tiefer sitzenden gesellschaftlichen Problems.

Von Sophia Boddenberg | 21.06.2017
    Das Protestmotto "#NiUnaMenos" projiziert auf dem chilenischen Präsidentenpalast
    Unter dem Motto "#NiUnaMenos" formiert sich der Protest gegen Frauengewalt (AFP / Claudio Reyes)
    Tausende Menschen demonstrieren in den Straßen von Santiago de Chile: Frauen, Männer, Familien mit Kindern. Einige Frauen zeigen ihre Brüste, andere haben sich mit Kunstblut beschmiert, viele halten Fotos von ermordeten Frauen hoch. Eine junge Frau ist als Jesus verkleidet und trägt ein großes Kreuz auf dem Rücken, auf dem steht: "Wenn Jesus eine Frau gewesen wäre, hätten sie ihn erst vergewaltigt und dann gekreuzigt." Auch Doris Gonzales läuft bei dem Protest mit, eine kleine Frau Ende 30. Sie ist politische Aktivistin. Für sie ist der Kampf gegen Frauengewalt Teil einer größeren Bewegung:
    "Wir wollen zeigen, dass dieses System nicht mehr so weiter gehen kann. Die explizite und implizite Gewalt in diesem neoliberalen System kann so nicht weitergehen. Wir haben uns dazu entschieden, auf die Straße zu gehen und uns der sozialen Bewegung anzuschließen, die unser Land gerade erlebt und die immer größer wird."
    Unter dem Hashtag #NiUnaMenos – zu Deutsch: Nicht eine weniger – vernetzen sich seit Monaten nicht nur in Chile, sondern in ganz Lateinamerika Menschen zum Protest gegen Frauenmorde. Sie nennen sie femicidios - Femizide. Der Begriff Femizid bezeichnet den Mord an Frauen oder Mädchen aufgrund ihres Geschlechts. Am häufigsten kommt der Femizid innerhalb von Paarbeziehungen vor. Aber der Begriff soll darauf aufmerksam machen, dass es nicht um ein privates, sondern um ein gesellschaftliches Problem geht.
    Nicht nur Frauen protestieren in Santiago, sondern auch viele Männer. Felipe Zuñiga ist einer der männlichen Demonstranten. Seine fünfjährige Tochter sitzt auf seinen Schultern und streichelt seinen Kopf, während er spricht.
    "Sie ist meine Tochter, sie hat ein Recht darauf, in einem sicheren Land zu leben, wo kein Risiko besteht, dass sie auf die Straße geht und jemand sie ermordet oder sexuell belästigt. Deshalb bin ich beim Protest. Denn das ist ihr Recht. Und auch mein Recht als Vater, um sie zu beschützen."
    Viele lateinamerikanische Länder haben spezielle Gesetze erlassen
    Viele Frauen halten schwarz-gelbe Schilder hoch. "El machismo mata" – Machismus tötet – steht darauf oder "No más femicidios" – Schluss mit den Femiziden. Die Schilder kommen vom chilenischen Netzwerk gegen Frauengewalt. Lorena Astudillo ist Koordinatorin des Netzwerks. Sie sitzt in ihrem Büro im Casa de la Mujer – Haus der Frau. Es ist das älteste Haus der chilenischen Frauenbewegung. Frauen, die Gewalt erleben, bekommen hier Hilfe. Das Netzwerk gegen Frauengewalt hat den Begriff Femizid geprägt. Chile ist eines von 16 Ländern Lateinamerikas, die ein Gesetz zum Femizid verabschiedet haben. Aber Lorena Astudillo geht das chilenische Gesetz nicht weit genug.
    "Das Gesetz ist schlecht, weil unser Land sich auf die Familie konzentriert. Der Femizid wird wie der Mord einer Frau durch ihren Partner verstanden. Nichts weiter. Die Machtbeziehungen, die dahinter existieren, sind egal. Für sie gibt es so etwas nicht. Die Gesetzgebung in Chile sagt das, sie ignoriert komplett das Basiskonzept des Femizids. So werden viele Femizide unsichtbar gemacht und erscheinen einfach wie ein weiterer Mord."
    Lorena Astudillo hat lange schwarze Haare, trägt eine ausgewaschene Jeans und ein buntes Oberteil. Sie ist 42 Jahre alt und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Femiziden. Sie ist Anwältin, aber vor allem Feministin und Aktivistin.
    Zwei Feministinnen protestieren im März 2017 in Buenos Aires gegen Gewalt an Frauen
    Von den 25 Ländern mit den höchsten Femizidraten weltweit befinden sich 14 in Lateinamerika und der Karibik. (imago/ZUMA Press)
    "Darum geht es bei unserem Kampf heute, dass verstanden wird, dass der Femizid der maximale Ausdruck der männlichen Gewalt gegen Frauen ist. Das sind keine Einzelfälle. Die Gewalt gegen Frauen sehen wir jeden Tag in unterschiedlichen Ausdrücken und der Femizid ist die Spitze des Eisbergs dieser Gewalt"
    Von den 25 Ländern mit den höchsten Femizidraten weltweit befinden sich 14 in Lateinamerika und der Karibik. Jährlich sind es über 2000 Frauen, die dort ermordet werden. Und: Die Zahl der Femizide in Lateinamerika hat in den letzten Jahren sogar zugenommen – das ergab eine Studie der Frauenorganisation der Vereinten Nationen UN Women. Außerdem gibt es eine hohe Zahl versuchter Morde, was oft vergessen wird, sagt Lorena Astudillo.
    Angehörige demonstrieren am 25.11.2003 mit Pappfiguren als Symbole für die getöteten Frauen in Ciudad Juarez. Die mexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez erlangte international Berühmtheit - zwischen 993 und 2007 wurden hier 393 Frauen ermordet. "Welthauptstadt der Frauenmorde" ist deshalb das Image, das der Stadt weltweit anhängt.
    Demonstration gegen Frauenmorde in Mexiko (picture alliance / dpa / epa Guadalupe Perez)
    "Die Zahl der versuchten Femizide ist stark angestiegen. Aber das bleibt unsichtbar. Das sind Frauen, die für den Rest ihres Lebens mit den schlimmen Folgen leben müssen und es gibt keinen politischen Rahmen, um das sichtbar zu machen. Der schlimmste Fall in letzter Zeit war der von Navila Rifo, eine Frau, der in Cohaique die Augen ausgekratzt wurden."
    Navila Rifo war nachts von ihrem betrunkenen Partner angegriffen worden, mit dem sie vier Kinder hat. Er schlug mit einem Betonblock auf ihren Schädel ein und kratzte ihr mit dem Autoschlüssel die Augen aus. Sie ist jetzt für immer blind.
    Ein neues Bewusstsein schaffen
    Was muss ich in Zukunft verändern, um die Femizide zu verhindern? Die größte Verantwortung tragen Erziehung und Bildung, unterstreicht die Anwältin und Aktivistin Lorena Astudillo.
    "Uns Mädchen geben sie Puppen zum Spielen, ein Stück Plastik und sagen uns, dass es Gefühle hat und dass wir auf es aufpassen müssen wenn wir es liegen lassen, sind wir böse. Und die Jungen bekommen Autos und Fahrräder und ihnen wird gratuliert, wenn sie sich das Knie brechen oder den Kopf aufschlagen. Sie sind für das Risiko da und wir für die Fürsorge. Zuerst müssen wir die Bildung und Erziehung ändern. Sie sollten nicht dazu da sein, uns in Rollen zu pressen, sondern uns die Freiheit geben, einfach zu sein, wer wir sind."
    Gewalt gegen Frauen gibt es nicht nur in Lateinamerika. Auch in Deutschland werden Frauen aufgrund ihres Geschlechts ermordet, aber bis heute gibt es keine bundesweite Statistik und auch keine offizielle Definition des Femizids.