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Lateinamerikas Literaten der nächsten Jahre

In ihrer Anthologie stellt Michi Strausfeld 36 Autoren aus Lateinamerika vor. Aufgewachsen mit der nordamerikanischen Konsumgesellschaft, haben sie teilweise Terror und Junta erlebt. Auch wenn in ihren Ländern die traditionellen Familienstrukturen überlebt haben, wehren sich gerade die Autorinnen, gegen die Darstellung des Familienglücks im katholischen Sinn.

Von Margrit Klingler-Clavijo |
    "Ich wollte wissen, was heute geschrieben wird. Denn der Kontinent hat sich dramatisch und auch wunderbar verändert in den letzten vierzig Jahren, seitdem Gabriel García Márquez uns mit seinen Romanen fasziniert hat, sind einige Jahrzehnte verstrichen, und da muss man doch mal schauen, was machen denn jetzt die Enkel, denn das sind ja schon die Enkel und nicht die Söhne. So habe ich mich auf die Suche begeben, von der Bronx, wenn man so will, bis nach Patagonien. Und was ich dann gefunden habe, war einfach eine so phantastische Fülle von wunderbaren, neuen Erzählern und Erzählerinnen, dass ich absolut fasziniert war."

    Soweit Michi Strausfeld, der in Anbetracht der Vielzahl guter, ja herausragender Erzählungen die Auswahl nicht leicht fiel, sodass sie sich ganz pragmatisch an das Geburtsdatum hielt und auf die zwischen 1960 und 1970 geborenen Autoren konzentrierte.

    In der Anthologie sind die großen Literaturländer Lateinamerikas wie Argentinien, Mexiko und Kolumbien stärker vertreten, als die Kleineren wie Ekuador, Bolivien, Chile, Kuba oder die Dominikanische Republik. Völlig außen vor bleibt die Literatur des größten Landes des Kontinents: das portugiesischsprachige Brasilien. War vor ein oder zwei Generationen das literarische Schreiben noch das Privileg der gut situierten Ober- und Mittelschicht, so kommen heute die in Megastädten wie Santiago de Chile, Bogotá oder Lima aufgewachsenen Erzähler auch aus der unteren Mittelschicht und aus den Elendsvierteln der Peripherie. Einige Autoren leben in den USA oder Europa.

    Neben den bereits bekannten und ins Deutsche übersetzten Autoren wie beispielsweise Karla Suárez, Daniel Alarcón, Jorge Franco, Juan Manuel Vásquez finden sich junge, weitgehend unbekannte Autoren, darunter viele Frauen. Das soziale Umfeld dieser Autoren beschreibt Michi Strausfeld wie folgt:

    "Sie sind aufgewachsen unter dem Einfluss der nordamerikanischen Konsumgesellschaft, sie kennen Terror nicht nur aus Filmen, sondern aus der sie umgebenden Wirklichkeit, und sie sind sehr jung. Sie haben sehr viele Filme gesehen und sie haben sich ihren Literaturkanon aus der Weltliteratur zusammengestellt, natürlich besonders dominant ist der angloamerikanische Einfluss. Dass alles führt zu einem Mix an Themen, an Stilen, die überraschend sind. Man lehnt sich auf, man rebelliert gegen die sozialen Umstände, in denen man lebt. Man will eine gerechtere Gesellschaft und fordert das ein. Natürlich, viele Länder haben traumatische Erlebnisse hinter sich, seien es die Diktaturen in Chile, Uruguay, Argentinien, sei es der Terror von dem leuchtenden Pfad - Sendero Luminoso - mit immerhin 70.000 Toten in Peru, die Drogenkriminalität in Kolumbien und jetzt Mexiko. Die Leute nehmen Bezug auf die sie umgebende Wirklichkeit und versuchen, das irgendwie zu verarbeiten, ohne darüber die Suche nach dem kleinen persönlichen Glück zu vergessen."

    Gibt es deshalb so viele verquere Liebesgeschichten? Das Ehepaar, das sich auf einen schönen Abend zu zweit freut, der dann aber wegen belangloser Missverständnisse zum Fiasko zu werden droht. Der verschmähte Liebhaber, der aus Rache den Hund seiner Ex-Freundin quält. Eine alleinstehende Frau, die sich an ihrem vierzigsten Geburtstag mit ihren Kollegen im Karnevalstreiben vergnügt, wobei ihr die Hinfälligkeit des Lebens bewusst wird. Ein Ehepaar, das heftig über einen alten Computer streitet, dem Symbol einer unüberwindbaren Entfremdung. Aus all diesen Geschichten über die Liebe wird deutlich, dass sich auch jenseits des Atlantiks traditionelle Familienstrukturen überlebt haben.

    "Das alte Familienglück, was man mit einer katholischen Gesellschaft verbindet, die Frau bleibt zuhause und führt das Regiment indirekt wie es etwa bei García Márquez der Fall ist, das sind alles alte Zöpfe, damit wollen die jungen Autorinnen und Autoren eigentlich nichts mehr zu tun haben."

    Ganz gleich ob Schriftsteller, Maler oder Fotograf, Künstler reagieren auf das soziale und politische Umfeld und versuchen, es mit den Mitteln der Kunst zu beeinflussen. Dabei gehen sie, wie der junge Maler aus Daniel Alarcóns Erzählung "Peru, Lima, den 28. Juni 1979" von ihren subjektiven Erfahrungen aus:

    "Ich habe Limas turbulente Jugend und ihr unbändiges Wachstum miterlebt. An der Universität studierte ich Philosophie und wechselte dann zur Kunst, studierte Malerei. Ich malte wütend rot-schwarze Gemälde mit von Terror gezeichneten Gesichtern, die unter breiten Streifen kühner Farbe versteckt waren. Eines meiner Bilder, das ich an der Hochschule ausstellte, erregte einige Aufmerksamkeit: Das Porträt eines Mannes mit aufgerissenen Augen und einem zu einer Grimasse zusammengekniffenen Mund, einem Hammer in der rechten Hand und drauf und dran, sich einen Pflock in den linken Handteller zu schlagen. Blaue und braune geometrische Formen vor rotem Hintergrund.
    Mein Vater."

    Jorge Franco erzählt vom Drogenhandel und der Gewalt in seiner Heimatstadt Medellín, indem er sich auf Cervantes Don Quijote bezieht. Aus dem Klassiker der spanischen Literatur pflegte der eigenwillige Großvater seinem Enkel vorzulesen, bis zu seiner Entführung. Die Suche nach dem Großvater beschreibt der verstörte Enkel wie folgt:

    "Jeden Tag ging ich in das Kabuff, wo er seine Skulpturen aus Alteisen gebastelt hatte; dort stand noch immer der deprimierte Don Quijote und wartete auf seinen Helm, als wäre es das Einzige, was fehlte, um den Kampf gegen den verrückt gewordenen Riesen aufzunehmen. Ich verbrachte mehrere Abende damit, Absätze und einzelne Sätze zu lesen, im Grunde auf der Suche nach einer Spur, die mir helfen würde, Großvater zu finden und ihn nach Hause zurückzuholen."
    Michi Strausfeld:

    "Was gibt es in Kuba jedes Jahr? Acht, zehn, zwölf Hurrikane, die verwüsten und alles durcheinanderwirbeln. So ein Hurrikan wird hier beschrieben. Dass das zusammenfällt mit einer persönlichen Problematik der Protagonistin, die eigentlich aus ihrer Enge raus will und sozusagen den Hurrikan dazu benutzen will, das ist noch eine zusätzliche Volte, wenn man so will. Die Art, wie sie auch stilistisch die Naturgewalt mit der privaten Problematik in eine knappe Erzählung bringt, herausragend."

    In diesen Worten beschreibt die Herausgeberin Ena Lucía Portelas Erzählung "Hurrikan", über die man nur in Superlativen reden kann: ästhetisch überzeugend, einzigartig in der Verknüpfung von sozialer Problematik und Naturgewalt, gleichsam die gelungene literarische Umsetzung des Grundgedankens der Anthologie "Schiffe aus Feuer", den Michi Strausfeld wie folgt erklärt:

    "Man sieht ja auf dem Titelbild drei kleine Schiffchen und da lodert ein kleines Feuer. Die Idee ist, die Autoren sind alle individuell, sie fahren in ihren Schiffchen auf dem großen Wasser, aber sie haben Zündstoff, und jederzeit kann es hoch gehen."

    Michi Strausfeld Hg.: Schiffe aus Feuer. 36 Geschichten aus Lateinamerika,
    S. Fischer Verlag, Frankfurt