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Lautenschläger: "Früherkennung verpflichtend machen"

Die hessische Sozialministerin Silke Lautenschläger dringt nach den Fällen von Kindesvernachlässigungen in Deutschland auf die schnelle Einführung von Pflichtuntersuchungen. Sie gehe davon aus, dass es noch in diesem Jahr zu gemeinsamen Lösungen von Bund und Ländern kommen werde.

Moderation: Doris Simon |
    Doris Simon: Vernachlässigung, das habe es immer gegeben, so wie auch Kindesmissbrauch, das heißt es beim Deutschen Kinderschutzbund. Allerdings seien die Deutschen durch die tragischen Fälle wie den des kleinen Kevin in Bremen aufmerksamer geworden und benachrichtigten schneller Polizei und Jugendamt. Silke Lautenschläger ist hessische Sozialministerin, und sie fordert schon seit langem, dass Früherkennungsuntersuchungen bei Kindern Pflicht sein müssen. Sie ist jetzt am Telefon. Frau Lautenschläger, werden die neuen Fälle von Kinderverwahrlosung der Diskussion um Pflichtuntersuchungen jetzt Nachdruck verleihen?

    Silke Lautenschläger: Ich denke, wir haben in der Union die Diskussion eigentlich abgeschlossen, und im Moment hat der Bundesrat das beschlossen, und jetzt geht es nur noch darum, wie es umgesetzt wird, aber es gehört natürlich als ein Baustein nur dazu, denn das Hingucken, das Aufmerksamsein, das Ansprechpartner-zur-Verfügung-Stellen ist genauso wichtig, und deswegen geht es nach wie vor um einen umfangreichen Maßnahmenkatalog.

    Simon: Die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen glaubt ja nach wie vor, dass Pflichtuntersuchungen Eltern solcher Kinder abschrecken. Sie will stattdessen mehr Hilfsangebote. Werden Sie sie umstimmen können?

    Lautenschläger: Für uns gehört beides zusammen. Ich denke, unser Unterschied ist da sowieso nur in Nuancen. Uns geht es beiden darum, dass wir Eltern die Möglichkeit schaffen, zum Arzt zu gehen, auch Vertrauensverhältnisse aufzubauen. Wir schaffen genauso in Hessen Familienhebammenausbildungen und vieles mehr in diesem Bereich, und ich denke, wir werden gemeinsam dort ein ganzes Stück weiterkommen, wenn wir sowohl die Früherkennung verpflichtend machen als auch alle anderen Maßnahmen unternehmen, um einfach das Netz für die Kinder zu verbessern.

    Simon: Wann wird das denn der Fall sein und wie organisieren Sie das?

    Lautenschläger: Mit Bund und Ländern wird es mit Sicherheit dazu Gespräche geben. Alles andere, wenn das zu lange dauert, werden wir selbstverständlich weiter unsere Maßnahmen vorantreiben, von Aufklärungsarbeit bis eben die Kurse für Familienhebammen und alles, was dort ansteht, und wenn es sein muss, auch eine etwas niedriger geregelte dann landesgesetzliche Regelung, aber ich gehe eigentlich davon aus, dass wir gemeinsam dort zu Lösungen kommen.

    Simon: Noch in diesem Jahr?

    Lautenschläger: Da bin ich sicher.

    Simon: Früher war ja das Credo der Union, dass sich der Staat aus Familie und Erziehung raushalten soll. Jetzt fordern Sie, hat Ende November, wie gesagt, der CDU-Bundesparteitag Pflichtuntersuchungen für Kinder gefordert, der Bundesrat. Kindergartenbesuch ist selbstverständlich, auch die Ganztagsschule ist längst kein Tabu mehr. Hat sich die Union von ihrem alten Familienbild verabschiedet?

    Lautenschläger: Wir wollen, dass Eltern Wahlmöglichkeiten haben. Dazu gehört genauso die Ganztagsbetreuung als auch die Betreuung zu Hause in der Familie, aber wir sehen natürlich auch, dass sich die Welt so verändert hat, dass immer mehr Frauen Beruf und Familie vereinbaren wollen. Das darf kein Ausschlussgrund sein, und insofern wollen wir alle Angebote dort machen, auch unterstützende Hilfeleistung, aber selbstverständlich bleibt es dabei, dass die Eltern entscheiden.

    Simon: Das heißt kein Wandel im Familienbild oder doch?

    Lautenschläger: Es hat sich sicher insoweit geändert, dass eben die jungen Frauen alle wesentlich stärker berufstätig sind, in der Ausbildung stehen, und trotzdem, und das wollen wir ja auch, beides wollen, Kinder und Familie. Die Familie ist nicht mehr automatisch die Großfamilie. Das ist etwas, was selbstverständlich eine Partei zur Kenntnis nimmt, aber das heißt auch nach wie vor, dass wir darauf Wert legen, dass die Eltern dort die Entscheidung treffen.

    Simon: Das klingt aber fast so ein bisschen, als ob auch der wirtschaftliche Druck, die Frauen wollen, sollen arbeiten, da eine wichtige Rolle gespielt habe.

    Lautenschläger: Ich finde es eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Wenn junge Frauen sich entscheiden, dass sie den Beruf ausüben wollen, dann hat das nichts mit wirtschaftlichem Druck zu tun, sondern auch mit einer Entscheidung, die zwei Partner miteinander treffen, und dann sollen die genauso die Möglichkeit haben, sich für Familie und Kinder zu entscheiden. Dort ist der Weg vom Elterngeld bis eben auch der [Ausbau] von Ganztagsbetreungsangeboten einer der wichtigen Schritte. Den haben wir in Hessen schon seit einigen Jahren vollzogen. Es heißt aber immer noch, dort nachzuholen, weil es gibt noch nicht überall genügend Angebote.

    Simon: Was halten Sie von SPD-Vorstellungen wie etwa gesetzlich geregelte Betreuung ab dem ersten Lebensjahr?

    Lautenschläger: Aus meiner Sicht müssen wir alle vor Ort dafür sorgen, dass wir genügend Betreuungsangebote haben. Gerade bei den unter Dreijährigen haben viele Länder nach wie vor Nachholbedarf. Wir sind bei den westlichen Flächenländern nur mit gut 11 Prozent Betreuungsangeboten auch immer noch ein Stück zurück, aber trotzdem an der Spitze der westlichen Flächenländer. Aber das heißt eben, wir müssen dort die Angebote schaffen, und wir sehen ja, wie schnell das in den letzten Jahren auch passiert. Wir stellen Mittel zur Verfügung. Ich glaube, wir müssen nicht sofort dort über die Verpflichtung ab dem ersten Lebensjahr sprechen. Wir müssen aber dafür sorgen, dass es genügend Plätze gibt, dass Eltern ihre Entscheidung treffen können.

    Simon: Frau Lautenschläger, eine heilige Kuh der CDU-Familienpolitik war ganz lange Jahre das Ehegattensplitting. Jetzt hat die Bundesfamilienministerin gesagt, sie wolle davon weg, Eltern mit Kindern sollen steuerlich besser gestellt werden als Ehepaare ohne Kinder. Was halten Sie von dem Vorstoß?

    Lautenschläger: Es wird ja nach wie vor über das Familiensplitting diskutiert. Das ist aber keine Abschaffung eines Ehegattensplittings. Das muss man sich angucken, das muss man rechnen, aber klar ist, das darf nicht dazu führen, dass gerade Familien mit Kindern dort benachteiligt werden oder diejenigen, die schon viele Kinder großgezogen haben, plötzlich nach der Zeit der Kindererziehung, ohne andere Vorsorge treffen zu können, benachteiligt werden. Deswegen, glaube ich, sind dort noch viele Dinge zu rechnen, aber dort sind ja auch Kommissionen für eingesetzt, und wenn die Ergebnisse vorlegen, werden wir es uns anschauen, aber es darf auf keinen Fall Verschlechterungen für die Familien geben.

    Simon: Das heißt aber, andersrum gefragt, dass Kinder demnächst mehr zählen sollten bei so einem Splitting, und das finden Sie gut?

    Lautenschläger: Wenn es finanzierbar ist, kann man sich das anschauen, aber wir haben schon viele Ergebnisse von solchen Befragungen gehabt, wo deutlich wurde, dass gerade Familien mit Kleinkindern, Normalverdienerfamilien auch sehr stark vom Ehegattensplitting heute profitieren, und die dürfen dort keine Nachteile bekommen.

    Simon: Was halten Sie von Überlegungen, das Kindergeld insgesamt zu reduzieren und in Betreuungsmaßnahmen umzuinvestieren?

    Lautenschläger: Das ist eine Diskussion, die kommt von Jahr zu Jahr wieder. Wir wissen umgekehrt, dass wir an vielen Stellen nach wie vor die Familien auch noch entlasten müssen, was wir gerade mit dem beitragsfreien letzten Kindergartenjahr in Hessen machen, wo wir wissen, dass es einfach für eine Familie viel Geld ist, ob sie 100 Euro mehr oder weniger im Monat zur Verfügung hat. Deswegen, denke ich, ist es unsere gemeinsame Aufgabe, Betreuungsplätze zur Verfügung zu stellen, aber den Familien nicht schon wieder damit zu drohen, an anderer Stelle Kürzungen vorzunehmen.

    Simon: Aber Ihnen als Kämpferin für die Pflichtuntersuchung sind ja sicher auch die Argumente aus den Jugendämtern bekannt, dass gerade die Familien, die ihre Kinder eben nicht so betreuen, wie man sich das wünscht, das Kindergeld einstecken und es den Kindern nicht zugute kommt.

    Lautenschläger: Deswegen reden wir ja mit solchen Familien, sowohl über die Ganztagsbetreuung. Es muss die aufsuchende Hilfe angeboten werden. Kinder, bei denen Eltern vernachlässigen oder selbst nicht mit zurechtkommen, dort sind dann auch Eltern bereit auf Angebote einzugehen. Wir haben ja nicht sofort verwahrloste Kinder, sondern sehr viele unterschiedliche Lagen der Familien, deswegen geht es uns ja auch darum, in den Schulen, in den Kindergärten Ganztagsbetreuung weiter auszubauen und zu gucken, dass es dann tatsächlich den Kindern zugute kommt, aber deswegen darf ich nicht der großen Mehrheit der Familien sofort mit Kürzungen drohen.