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Leben abseits der Norm

Albträume von Frauen werden in "Mary Mother of Frankenstein" in Bühnengeschehen umgesetzt. Beim Young Directors Project in Salzburg war die dritte große Regiearbeit des Belgiers Claude Schmitz zu sehen: ein dunkel-bilderreiches Literaturseminar.

Von Karin Fischer | 20.08.2010
    Schon die ersten Bilder entwickeln einen eigenartigen Sog: 20 Minuten lang wird, auf eine Leinwand projiziert, erst eine hochschwangere Frau gezeigt, dann die Geburt, in orange verwaschenen, verrauschten Bildern. Mit dem Frankenstein-Mythos im Hinterkopf lädt sich dieser Film gefährlich auf: Wird ein Monster den Geburtskanal verlassen oder ein Mensch?

    Die düstere Stimmung verstärkt sich im Lauf des Theaterabends, der viel im Dunkeln stattfindet und eine neue prekäre Familiengenealogie entwirft: Mary Shelley, die Mutter Frankensteins, erzählt vom Tod ihrer Mutter, von der Liebe ihres Vaters, vom Tod ihres Babys, das am 11. Tag stirbt. Die Szene spielt sehr im Ungefähren, einen Rahmen liefert der verregnete Sommeraufenthalt einer kleinen Reisegesellschaft 1816 am Genfer See, zu der Mary’s zukünftiger Mann und unter anderem Lord Byron gehören. Hier soll der "Frankenstein"-Roman entstanden sein, als die literarisch ambitionierte Truppe aus Langeweile beschloss, Schauergeschichten zu schreiben und sich gegenseitig vorzulesen.

    Mary Shelleys Tagebücher oder Gedichte Lord Byrons, vorgetragen in historischen Kostümen, ergeben, zusammen mit einer Klage des "Monsters", das sich eine Gefährtin wünscht und Bezügen auf das Drama "Der entfesselte Prometheus" von Percy Bysshe Shelley, einen vielstimmigen, auch reichlich morbiden Chor, der vor allem durch musikalische Qualitäten besticht:

    Man kann die Inszenierung von Claude Schmitz als literarisches Rätsel nehmen, als filmisch angehauchte, neogotische Schöpfungsgeschichte, leider manchmal auch als verquastes Kunsthandwerk. Der Ansatz jedenfalls ist hochinteressant: Die Erschaffung künstlichen Lebens wird als vorweggenommene Ersatz-Schöpfung einer im wirklichen Leben von Toten umgebenen Frau gedeutet. Die Puppe, die erst Mary Shelleys Mutter war, wird später an die Seite des "Monsters" gestellt. Was ist Leben, was stirbt in uns, wenn jemand anders stirbt, wem sind wir verpflichtet?

    Das schwarze Bett im Hintergrund wird zur Spalte, die Mary Shelley selbst wie ein Grab verschluckt. Gegen Schluss tritt Zeus selbst noch auf; auf der Videoleinwand sind inzwischen Ratten mit fluoreszierenden Ohren und Roboter in Menschengestalt zu sehen. Falls es das Ziel war, mit diesem Theaterstück die rasante Entwicklung der Gentechnologie und Biowissenschaft in den Blick zu nehmen, ist das gründlich misslungen. Eher schon funktioniert das Drama als dunkel-bilderreiches Literaturseminar.

    In diesem Jahr wird überdeutlich, was als Handicap der ambitionierten Reihe gesehen werden kann: Die Stücke, die zum Young Directors Project eingeladen werden, haben die Festspiele mit produziert. Man kennt die Handschrift eines Regisseurs, nicht aber schon das konkrete Produkt. Damit geht man ein Risiko ein, das selbst den risikofreudigen Sponsoren in Salzburg manchmal zu groß vorkommt. Im ersten Jahr des Projekts waren nur Produktionen zu sehen, die das Auswahlteam fertig gesehen hatte. Die Balance zwischen dem qualitätvoll Neuen und dem ganz Neuen sollte beim Young Directors Project wieder deutlich verschoben werden.

    Homepage der Salzburger Festspiele