Donnerstag, 02. Mai 2024

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Leben auf dem Menschen. Die Geschichte unserer Besiedler

"Nein", sagte meine Freundin Christine, "sei still! Das will ich nicht hören!" Unbeirrt fügte ich meiner Rede ein paar interessante Details hinzu. Am anderen Ende der Telefonleitung erhob sich ein Kreischen. "Hör auf!" schrie Christine. "Das ist ja ekelhaft!" Dabei stand ich erst am Anfang meiner Begeisterung. "Wußtest du, daß in der zerklüfteten Hautlandschaft unserer Stirn eine ganze Großstadtbevölkerung an Milben lebt? Jedes Niesen ein Jahrhundertbeben, jeder ausgedrückte Pickel ein Vulkanausbruch." Es klickte in der Hörermuschel. Aufgelegt. Manche Menschen sind eben nicht stark genug für die Wahrheit.

Florian Felix Weyh | 03.08.2000
    Dies ist eine Warnung vor einem gelungenen Buch. Der Biologe und Wissenschaftsjournalist Jörg Blech zog aus, der Welt die Augen zu öffnen: Das Ich, Fiktion eines absoluten Herrschertums, gibt es nicht. Wo wir in unserem Leib-Seele-Kontinuum ein großes Ganzes voraussetzen, wimmelt und wuselt es nur so von unbeherrschbaren Mikroorganismen. Die tun, was sie wollen, manchmal zu unserem Schaden, oft uns zu Nutzen. Unser Körper ist ein Kontinent, ja ein Universum, und selbst die edelste Krone der Schöpfung, unser kompliziertes Seelenleben, könnte sich als fremdgesteuert erweisen. Denn da gibt es das kugelige Bornavirus. Sächische Zuhörer liegen richtig, es heißt nach der Kleinstadt nahe Leizig, wo es im 19. Jahrhundert ein Pferdesterben auslöste. In der elektromikroskopischen Vergrößerung sieht es wie eine wunderschöne Schneeflocke aus, seine Wirkung auf den menschlichen Organismus ist, gelinde gesagt, seltsam. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, daß das Bornavirus traurig stimmt. Am Ende – so weit geht Jörg Blechs begeisternder Report natürlich nicht – stellt sich irgendwann die Hypothese von den denkenden Nervenzellen im Gehirn als typischer Irrtum eines narzistischen Weltbilds heraus. Warum nicht denkende Bakterien, je größer ihre Kolonie, desto heller der Geist? Dann würden die Lifestyle-Joghurts unserer Tage, mit denen man der Darmflora kräftig einheizt, wirklich Sinn ergeben: ein Schluck am Morgen, und die Klausur besteht sich von selbst. Was "probiotische Milchprodukte" wirklich angeht, kann man nur zum Geiz aufrufen. Täglich ein Becher, konstatiert Blech, "wäre so, als kippte man ein Glas Wasser in ein volles 25-Meter-Schwimmbecken." Woher kommen die Verdauungshelfer überhaupt? Ein strenggehütetes Geheimnis der Nahrungsmittelindustrie. Irgendwann hat sich mal jemand verplappert, seitdem weiß man: aus Windeln gesunder Babys. Hallo Probiotik-Fans, seid ihr noch da?

    "Leben kann niemals steril sein" lautet der Schlachtruf der Gnotobiologen, und das ungerührte Sprichwort "Dreck reinigt den Magen", wenn der Nachwuchs gerade mal wieder die heimischen Blumentöpfe leert (bitte nicht überdüngen!) hat einiges für sich. Bis 1979 galt der Magen als irdisches Fegefeuer: Kein Wesen, daß diese Säurehölle überlebte. Da entdeckte der australische Mediziner Robin Warren einen spiralförmigen Bewohner. Analog zum Höllenszenario könnte man ihn "Magenteufel" taufen, der Wissenschaftler nannte ihn Helicobacter pylori. Wie es so ist mit wissenschaftlichen Revolutionen: Niemand glaubte dem Pathologen und seinem jungen Assistenten Barry Marshall, das herrschende Paradigma ließ es nicht zu. Erst nach einem heroischen Selbstversuch Marshalls nahm die Fachzeitschrift "Lancet" den Artikel über die Entdeckung an: Magengeschwüre sind bakteriologisch bedingt und mit Antibiotika heilbar. Skandalöser noch als die Tatsache, daß beide Entdecker bis heute auf den Nobelpreis warten, ist das Faktum, daß zwei Drittel der niedergelassenen Ärzte diesen Quantensprung der Medizin ignorieren. Sie lassen die Patienten lieber leiden, weil chronische Magenkranke treue Kunde sind.

    All dies und noch viel mehr hält das vorzüglich recherchierte und mild ironische Sachbuch bereit. Zum Beispiel, daß die verordnete Sexualaskese im Trainingslager unserer Fußballnationalmannschaft durchaus ihre Berechtigung hat. Kniebeschwerden ziehen sich die Kicker nicht nur auf dem Rasen zu, sondern auch im Bett: bei ungeschütztem Sex. Chlamydia trachomatis heißt der blinde Passagier, der eine entzündliche Arthritis hervorruft. Wer die gnotobiologische Brille allerdings zu lange aufbehält, wird paranoid. Ungezieferwahn, in der Psychiatrie unbestritten, ist ein klinisches Phänomen. Darum gilt für "Leben auf dem Menschen" auch eine Gegenanzeige: Ersparen Sie die Lektüre Angehörigen mit Sagrotanleidenschaft und dem Hang, sich mehr als hundert Mal am Tag die Hände zu waschen. Wo der selige Kant als Wahlspruch sein "Sapere aude!" setzte – Wage zu denken! –, gilt bei Jörg Blech: Auch Wissenserwerb fordert Kaltblütigkeit. Als ich frohgemut einen kräftigen Schluck aus meiner Mineralwasserflasche nehmen wollte, schwamm obenauf eine kleine, mit bloßem Auge kaum wahrnehmbare Spinne. Sei‘s drum – und prosit!