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Bret Easton Ellis "The Shards"
Drogen, Poolpartys und ein Serienmörder

Nach 13 romanlosen Jahren erkundet der US-amerikanische Autor Bret Easton Ellis in seinem neuen Buch erneut die frühen 1980er-Jahre in Los Angeles. Aber „The Shards“ ist weit mehr als eine nostalgische Kopie seines Bestsellers "Unter Null".

Von Samuel Hamen | 15.01.2023
Bret Easton Ellis: „The Shards"
Die Geburt des Romans aus dem Format des Podcast: Bret Easton Ellis' „The Shards" (Foto: imago images / Future Image / Lavinia Fontana, Buchcover: Kiepenheuer & Witsch Verlag)
Am 21. März 2013 veröffentlicht Bret Easton Ellis einen Tweet, der die Leser des US-amerikanischen Schriftstellers in helle Aufregung versetzt:
"Neuer Roman: Robert Mallory ist ein Highschool-Schüler und Serienmörder in Los Angeles, 1981."
Aber auf die Ankündigung folgt erst einmal: nichts, weder eine Verlagsvorschau noch ein Cover oder Näheres zur Handlung. Das ist auf den ersten Blick nicht weiter verwunderlich. In einem Interview, das Ellis 2012 der Literaturzeitschrift "The Paris Review" gibt, verlautbart er, dass ihn die Romanform gerade nicht interessieren würde; möglicherweise ist er nach sechs veröffentlichten Romanen seit 1985 schlichtweg erschöpft. Zu dem Zeitpunkt wendet er sich auch vermehrt dem Schreiben von Drehbüchern zu. 2013 etwa erscheint der Erotik-Thriller "The Canyons" mit Lindsay Lohan, ein Film, den er als Autor begleitet hat und der das gängige motivische Repertoire von Ellis aufweist: Begierde an der Grenze zur Gewalt, Schönheit und Sexyness als Fassaden, hinter denen der blutrünstige Horror lauert.

Vom Tweet zum Podcast

Es dauerte dann mehr als sieben Jahre, bis der im Tweet erwähnte Highschool-Serienmörder erneut für Schlagzeilen sorgt. Im September 2020 stellt Ellis in seinem Podcast den Anfang eines Romans vor, der den Titel "The Shards" trägt, auf Deutsch: die Scherben oder die Bruchstücke. Der englische Originaltitel wurde auch für die deutsche Ausgabe beibehalten. Gut dreißig Minuten liest Ellis eine Passage vor, die leicht redigiert und gekürzt auch die Buchfassung eröffnet:
"Vor vielen Jahren wurde mir klar: Ein Buch, ein Roman ist ein Traum, der auf die gleiche Weise niedergeschrieben werden will, wie wir uns in jemanden verlieben – der Traum wird unwiderstehlich, du kannst nichts dagegen tun, irgendwann gibst du auf und beugst dich, selbst wenn dir kein Instinkt zur Flucht rät, weil es letztlich ein gefährliches Spiel sein könnte – jemand wird verletzt werden."
Die Geburt des Romans aus dem Format des Podcasts: In insgesamt 27 Folgen liest Ellis zwischen September 2020 und September 2021 das Manuskript seinen zahlenden Abonnenten vor. Seine Behauptung, es sei ein Memoir, wird atmosphärisch durch Ellis’ angenehm sonore Stimme gestützt. Dadurch wird die Fiktion körperlich authentifiziert.
"Über dieses Buch, diesen speziellen Traum und darüber, diese Version der Geschichte zu erzählen – diejenige, die Sie in diesem Augenblick lesen, die Sie gerade begonnen haben –, dachte ich zuletzt vor fast zwanzig Jahren nach; damals dachte ich, ich hätte das Zeug zu enthüllen, was mir und einigen Freunden zu Beginn unseres Abschlussjahres 1981 auf der Buckley School widerfahren war. Wir waren Teenager, nur dem Anschein nach mondäne Kinder, die in Wahrheit nichts darüber wussten, wie die Welt wirklich funktionierte – über die Erfahrung verfügten wir wohl, nur ihre Bedeutung kannten wir nicht. Jedenfalls nicht, bis etwas geschah, was uns in einen Zustand erhabener Erkenntnis versetzte."

Das letzte Jahr der Highschool

Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive einer Figur namens Bret Easton. Als 56-Jähriger erinnert er sich an das "Trauma meines letzten Highschooljahrs" an der erwähnten Buckley-Privatschule.
"Vielleicht öffnete die zwanglos hedonistische Welt der Erwachsenen, der wir so eifrig entgegenstrebten, eine Tür, die Robert Mallory und dem Trawler und den Geschehnissen in jenem Herbst Eintritt gewährte – mir zumindest erschien es später wie eine Einladung, die wir gedankenlos aussprachen, ohne in irgendeiner Weise zu ahnen, welchen Preis wir schließlich dafür bezahlen würden."
Zu Beginn des Romans ist alles in bester kalifornischer Ordnung: Wie seine Freunde entstammt der Erzähler einem reichen Elternhaus. Er ist mit Debbie zusammen, seine beste Freundin Susan wiederum mit seinem besten Freund, dem Quarterback-Schönling Thom. Sie fahren in ihren Porsches, Mercedes’ oder Corvettes die Haskell Avenue und den Mulholland Drive hoch und runter. Wahlweise vor, während oder nach dem Unterricht konsumiert die Clique unter anderem Koks und das Sedativum Quaalude.

Ennui und Koks

Die Landschaft ist paradiesisch, der Lifestyle höllisch – jedenfalls für die Leser, die diese Geschichten rund um eine weiße Jeunesse dorée aus dem L.A. der 80er Jahre in- und auswendig kennen. Maßgeblich beteiligt an dieser kontroversen Gestimmtheit war Bret Easton Ellis selbst mit seinem Debütroman "Unter Null", in dem er das Chic- und Shiny-Elend kalifornischen Stumpfsinns einfängt. Das Buch machte ihn 1985 schlagartig bekannt und inspirierte weltweit zahlreiche Nachfolger. Christian Krachts "Faserland" ist ohne Ellis' Debüt schlichtweg undenkbar. Das gerade erscheinende "The Shards" ist indes glücklicherweise deutlich mehr als ein verspäteter oder heillos nostalgischer Zwilling des Debüts.
"Ich wollte im Whirlpool entspannen, hatte aber zu viel Angst, um allein im Freien zu sitzen, also nahm ich noch eine Valium und fiel ins Bett. Ich konnte den Gedanken nicht abschütteln: Etwas war in die Stadt gekommen, eine Präsenz war erschienen, und dieser Gedanke war mir nicht nur durch die einsame Taschenlampe auf dem Schulgelände, sondern auch durch die Erwähnung eines neuen Jungen in unserer Klasse gekommen, jemandem, der zu uns stoßen und an unseren Ritualen und Spielen, unseren Geheimnissen und Ausflüchten, den alltäglichen Dramen und undurchsichtigen Lügen teilhaben würde: Robert Mallory.
Dessen Auftauchen sowie eine unaufgeklärte Einbruchs- und Mordserie brechen den Trott der Clique auf. Erst dadurch nimmt der Roman an Fahrt auf. Bis dahin besteht das Leben der Teenager, diesen "Königen des Systems", wie es an einer Stelle heißt, gerade darin, eben keine Zielführung, keine Handlung zu haben.
"Das Erste, was ich sah: Bootsschuhe ohne Socken. Und als ich aufblickte, stellte sich mir die Frage: Wie konnten die scharf geschnittenen Züge von Robert Mallorys Gesicht, die Kieferpartie, die Wangenknochen noch schöner sein als Thoms? Warum war Robert Mallory mit einem Mal so viel begehrenswerter als jeder andere, obgleich er ebenso wie Thom und Ryan auf eine durch und durch amerikanische Weise scharf war und in einen Film und auf die Seiten eines Modemagazins gehörte?"
Ab diesem Zeitpunkt läuft der 740 Seiten starke Roman in zwei unterschiedlichen Geschwindigkeiten: Einerseits nimmt die Eskalation rasch ihren Lauf, wird das soziale Gefüge der Freunde durch den Neuankömmling aufgebrochen und die Krise unabwendbar, mit der sie ins Erwachsenenleben entlassen werden. Robert freundet sich unter anderem mit Thom an, zu dem Bret sich seit Jahren hingezogen fühlt. Auch mit Matt, mit dem der Erzähler regelmäßig in dessen Poolhaus schläft, knüpft der Neue Bekanntschaft.

Queere Paranoia

Die alte Ordnung, in der die Hauptfigur ihre Begierde auslebte, ohne sich öffentlich als homo- oder bisexuell zu outen, wird rissig. Und die Paranoia des autofiktionalen Erzählers, der exakt die schriftstellerische Karriere von Bret Easton Ellis einschlagen wird, nimmt nach und nach überhand. Für ihn, der gerade an seinem ersten Roman arbeitet, sind Fragen bezüglich Wirklichkeit und Fiktion, Realität und Illusion existenziell:
"Und wenn ich zwangsläufig in seine Machenschaften hineingezogen wurde, wenn selbst mir das passierte – dem wachsamen, aufmerksamen Autor, der nun wusste, wozu Robert Mallory fähig war –, wie würde es dann erst dem unbedarften, ahnungslosen, verwundbaren Matt Kellner ergehen? 'Going Under' von Devo lief auf dem Mixtape, und ich hörte: I know a place where dreams get crushed …"
Andererseits verspätet sich der katastrophale Höhepunkt, auf den alles offensichtlich hinsteuert, um gefühlt zweihundert Seiten. Denn die Figuren in "The Shards" tun vorwiegend das, was Figuren bei Ellis nun einmal so tun, selbst wenn es dem Plot absolut nicht zuträglich ist – nämlich auf betörende Weise so gut wie nichts. Dazu gehört: Mixtapes hören, viel rumfahren, nicht einschlafen können, Valium nehmen, um doch einzuschlafen, im Pool ein paar Bahnen schwimmen, sich von einem gleichgeschlechtlichen Elternteil der eigenen Freundin anmachen lassen, in eine Mall gehen, David Hockney im Polo Club begegnen, flattrig ziellose Gespräche führen und zum Abschluss noch einmal in den Pool springen. Auch die originale Veröffentlichung als serieller Podcast mit zahlreichen Wiederholungen und einem stilistischen Touch des Mündlichen führt dazu, dass im Roman beide Geschwindigkeiten nicht immer gut synchronisiert sind.

Das Handwerk des Romanciers

Insgesamt versucht Ellis in seinem ersten Roman seit dreizehn Jahren etwas Neues; zugleich bleibt er beim Alten. Das macht die Spannung, die Reibung dieses Romans aus. Im erwähnten Gespräch hatte Ellis 2012 Auskunft gegeben über die Art, wie er Romane plant und aufbaut:
"Als Kind war ich ängstlich, vielleicht sogar paranoid. Bis zu einem gewissen Grad hat das sicherlich meine Fiktion beeinflusst, aber das ist nicht der einzige Grund, weshalb Paranoia in meiner Arbeit so allgegenwärtig ist. Abgesehen von meinen persönlichen Erfahrungen erfüllt die Paranoia in meinen Büchern eine wichtige technische Funktion. In einem Roman, der nicht gerade auf eine Handlung ausgerichtet ist, was man von den meisten meiner Romane behaupten könnte, braucht man ein Gefühl des Mysteriösen, der Spannung, der Bedrohung, was auch immer es ist, um ihn voranzutreiben.
Vor dem Hintergrund zeigt sich, dass "The Shards" sich von den Vorgänger-Büchern wie "Unter Null" oder "Die Informanten" abhebt, auch wenn sein Setting und das Personal quasi identisch sind. Robert, auf den sich der Erzähler zusehends einschießt, ist nun aber eine konkrete Erscheinung, die Figur gewordene queere Paranoia, die Bret im Herbst 1981 heimsucht.
"Ich hasste es, dass er mich so paranoid machte, doch zugleich fand ich ihn unbestreitbar erotisch, ein beispielloses Objekt der Begierde und der Lust eines Jungen im Teenageralter, und es missfiel mir, dass ich diese beiden entgegengesetzten Gefühle in mir barg."
Auch der Trawler, der ritualistische Morde begeht und Tiere schändet, ist auf einer symbolischen Ebene die Ausgeburt der schreckenerregenden sonnenbeschienenen Hollywood-Landschaft. Hinter ihrer Licht-Maschinerie muss das Dunkel lauern, hinter ihren makellosen Bildern die Fratzen entstellter und verdrängter Sehnsüchte. Die berüchtigten Manson Family Murders, die Kalifornien Ende der 1960er Jahre erschütterten, sind nur der Archetyp eines Grauens, das sich immer wieder Bahn bricht:
"Die Los Angeles Times bestätigte auch, dass die Einbruchsserie, die die Stadt im Sommer 1980 und im Frühwinter 1981 terrorisierte und sich im Spätfrühling desselben Jahres fortsetzte, um nach einer Unterbrechung in der zweiten Septemberwoche von Neuem zu beginnen, eindeutig mit den Morden zusammenhing, da alle drei Opfer in den Wochen vor ihrem Verschwinden nachweislich über stumme Telefonanrufe, umgestellte Möbel in ihren Zimmern und mysteriöse Geschenke berichtet hatten – in Sarah Johnsons Fall ein Poster der Doppel-LP Second Edition von Public Image Ltd. und bei Julie Selwyn ein Werbeplakat für die Cure-Platte Three Imaginary Boys – und, was am unheimlichsten war, da jedes Mal eine große Zahl Tiere aus der Umgebung verschwand, die später geopfert wurden."
Während die Schüler die Pflichttermine ihres Abschlussjahres absolvieren, darunter die Homecoming-Parade sowie der Besuch von Colleges, die fürs Studium in Frage kommen, dimmt Ellis das Westküstenlicht immer weiter herab. Schließlich gibt er seine Figuren dem Horror und Splatter preis. In Anbetracht von Ellis' Genre-Vorlieben kommt diese Eskalationsstufe wenig überraschend. Sie scheint für ihn das einzige probate ideologie- und medienkritische Mittel zu sein, um die lügnerische Fassade der U.S.- und speziell der L.A.-Romantik einzureißen.

Psycho-Spiele und Mordopfer

2020 lief etwa "Smiley Face Killers" in den Kinos an, ein Film des sogenannten Slasher-Genres, basierend auf dem Drehbuch von Bret Easton Ellis. Auch dort werden gutaussehende junge Menschen gestalkt und Opfer brutalster Psycho-Spiele. In "The Shards" wird ein Mitschüler tot im Pool aufgefunden – und der Hauptfigur später anonym ein Tape zugespielt, auf dem zu hören ist, wie jemand gefoltert wird. Augenscheinlich besteht ein Zusammenhang zwischen dem Tod im Swimmingpool und dem Mitschnitt einer bestialischen, auf Kassette gebannten Folterung.
Das blutige Ende drängt sich im Hinblick auf das bisherige Werk von Ellis geradezu auf. Aus dieser Geschichte darf niemand heil hervorgehen; das würde der Poetik dieses Autors zu sehr widersprechen. Immer wieder nimmt Ellis in Gesprächen darauf Bezug, dass er Bücher schreibe, um sich seines Schmerzes zu entledigen. Zu Beginn des Romans, bevor der gealterte Erzähler in die frühen 80er eintaucht, bringt dieser die Herangehensweise auf den Punkt:
"Während ich mich an jenem Dezembertag von dem Lied in die Vergangenheit zurückversetzen ließ, glaubte ich, ich hätte mir das Rüstzeug angeeignet, um mit dem fertigzuwerden, was sich in meinem achtzehnten Lebensjahr ereignet hatte, ja ich war sogar so naiv und töricht zu glauben, ich hätte meine traumatischen Erfahrungen mithilfe der viele Jahre später, in meinen Zwanzigern und Dreißigern und bis in meine Vierziger hinein veröffentlichten Bücher bewältigt, doch dieses ganz bestimmte Trauma brach nun wieder über mich herein und führte mir vor Augen, dass es offensichtlich ein Irrtum war zu glauben, ich hätte irgendetwas aus eigener Kraft bewältigt, ohne es in einem Roman beichten zu müssen."
Durchgehend spielt Ellis, der auf unentwirrbare Art und Weise als Autor, Erzähler und Figur auftritt, mit dem historischen Wahrheitsgehalt seines Berichts. Das Autorenfoto im Buch stammt etwa aus dem Jahrbuch von 1981, als er tatsächlich seinen Abschluss machte. Auch verübte ein Serienmörder mit demselben Spitznamen wie im Buch zu jener Zeit Morde in der Umgebung L.A.s. Zugleich gab Ellis im erwähnten Austausch 2012 an, drei Menschen gekannt zu haben, die ermordet wurden. Die Namen sind jedoch nicht deckungsgleich mit den Figuren im Roman-Memoir. 

Das Memoir als Allegorie

Die Frage ist auch müßig, beziehungsweise: Sie führt in die Sackgasse dokumentarischer Lektüre, bei der nur dem Tatsächlichen eine echte, reale Wirkung zugestanden wird. Das Fiktive, das heißt im Fall von Ellis: die Aberration des Wirklichen, bleibt lässlich auf der Strecke. Tatsächlich gelingt es Ellis in seinem neuen Roman, beides ohne Widerspruch zusammenzuführen: Einerseits lässt er die biographisch verbürgte Lebenswelt der frühen 1980er Jahre aufleben. Andererseits gibt er der negativen, angstbehafteten und überstrapazierten Imagination eines 17-Jährigen ausreichend Raum, dem nur das Schauspiel und die Fiktion bleiben, um sich aus seiner Lage zu befreien. Das Genre des Memoirs ist vor dem Hintergrund lediglich das Vehikel, um gleichermaßen intim von sich zu erzählen und auf Distanz zu sich selbst zu gehen.
"Susan fragte mich: 'Was ist am Samstagabend passiert, Bret? In Roberts Wohnung?' Sie schwieg kurz. 'Sag mir, was wirklich passiert ist.' Ich hob die Hand und legte ihr einen Finger auf die Lippen, und sie lächelte verständig und schloss die Augen – die Geste, mit der wir einander mitteilten, dass wir nicht zu hören brauchten, was der jeweils andere sagen wollte, weil wir es bereits wussten und es ohnehin nichts ändern würde."
Am Ende der Lektüre steht eine sentimentale Erkenntnis: "The Shards" ist ohne Zweifel zu lang, teils zu repetitiv und teils zu fahrig in der Handlungsführung. Aber das sind nur weitere gute Gründe, das Buch zu lesen. Hier ist ein Melancholiker am Werk, jemand, der mit der Detailversessenheit eines Chronisten daran arbeitet, das einmalige Gefühl der eigenen Jugend festzuhalten, so traumatisch und schmerzhaft das auch sein mag. Es geht dabei weder darum, diese zu glorifizieren, noch darum, sie zu kritisieren, sondern schlichtweg darum, sie nicht entschwinden zu lassen.

Zurück zum Debütroman

Zugleich unternimmt Ellis nach fast vierzig Jahren eine literarische Wiederbegehung des eigenen Monuments, das er mit "Unter Null" geschaffen hat.
"Ich mochte mich vielleicht in ihn verliebt haben, aber es konnte niemals funktionieren, niemals Wirklichkeit werden, nicht zu dieser bestimmten Zeit und an diesem bestimmten Ort, in der Atmosphäre der Buckley, auf einer Highschool im Jahr 1981, also scheiß drauf, halte dich an die Gegenerzählung. Wen interessierte das überhaupt? Es war alles Blödsinn. Es fühlte sich so kathartisch an, die Dinge aus diesem Blickwinkel zu betrachten. Ich wollte dort sein, wo Susan Reynolds war. Und ich wollte auch auf diese Weise schreiben: Abgestumpftheit als Empfindung, Abgestumpftheit als Antrieb, Abgestumpftheit als Daseinsgrund, Abgestumpftheit als Ekstase."
Diese Abgestumpftheit, dieser Ennui – das ist die Ressource, die "Unter Null" zu seinem weltweiten Erfolg verhalf. Jetzt, in diesem Roman, lässt Ellis sich eben diesen Debütroman schreiben, während er im gleichen Atemzug eine neue stilistische Haltung zum selben Thema einnimmt.
Zu sagen, er klänge weiser, emanzipatorischer oder versöhnlicher, hieße zu verkennen, dass derlei Attribute für diesen Autor ohne ästhetischen Belang sind. Vielmehr ist "The Shards" von einer doppelten Nostalgie durchzogen: bezüglich einer Lebensphase, die längst vorbei ist, sowie bezüglich eines Stils, der sich längst überlebt hat. Diese Verlusterfahrungen treiben Ellis an, und als Leser folgt man ihm bereitwillig, wie er seine goldenste und schwärzeste Zeit auf ein Neues literarisch erkundet.
Bret Easton Ellis: „The Shards“
Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner
Kiepenheuer & Witsch, Köln
736 Seiten, 28 Euro