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Lebensformen und Achtung
Die Welt ist voller Augen

Die Frage, ob Tiere und Pflanzen nur für den Menschen da sind oder eigenständige fühlende Wesen, die sogar eine Seele haben, beschäftigt die Menschheit seit jeher. Wie groß, empfindungsfähig oder intelligent muss ein Lebewesen sein, um unseren Respekt zu verdienen?

Von Millay Hyatt | 14.02.2016
    Die europäische Moderne hat den Kreis der Lebewesen, denen Achtung gebührt, im Prinzip auf Menschen reduziert. Hochentwickelte Intelligenz sei die Voraussetzung für Einfühlungsvermögen und Rücksicht. In den letzten Jahrzehnten belegt aber gerade die aus dieser Moderne entstandene Naturwissenschaft immer häufiger, dass alle möglichen nichtmenschlichen Lebewesen - Tiere, Pflanzen - empfindungsfähige, intelligente Geschöpfe mit komplexen Innenleben sind.
    Schließt sich hier der Kreis zum Animismus, der alle Wesen als beseelt versteht? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für unsere Haltung gegenüber anderen Lebensformen?
    Millay Hyatt untersucht in ihrem Essay die Schnittstellen zwischen altem und neuem Wissen zu diesen Fragen.

    Lebensformen und Achtung
    Die Welt ist voller Augen
    Von Millay Hyatt
    Ein wuchernder Urwald, dunstig und feucht. Drei Dinosaurier stehen in einem träge fließenden Fluss. Sie beugen die Köpfe zu Boden, scheinen am Ufer zu weiden. Nach einigen Sekunden bläht sich im Vordergrund schwerfällig eine schnaufende Gestalt auf.
    Glich sie zunächst einem Steinhaufen am Ufer, zieht der gekrümmte Rücken nun jäh den Blick des Betrachters auf sich: Hier lebt etwas. Aber es scheint krank zu sein.
    Zwei Dinosaurier im Wasser nehmen Reißaus, der dritte läuft auf das kranke Tier am Ufer zu: Das liegende Tier - offensichtlich auch ein Dinosaurier, aber eine andere Art - hebt den Kopf, scharrt hilflos mit den Füßen, macht einem Versuch, sich aufzurichten: aussichtslos. Das gesunde Tier schlägt sofort zu: Es stellt die enorme Pranke auf den Kopf des zappelnden Gefangenen, zieht sie dann in einer sanften Bewegung weg. Das liegende Tier hebt den befreiten Kopf leicht an. Gleich landet die Pranke wieder darauf und wird wieder weggezogen. Dieses Mal bleibt das kranke Tier passiv, wird noch zwei Mal sanft berührt. Dann bewegt sich der Stärkere weg, lässt den Schwachen liegen. Verschont? Besiegt?
    Ist Empathie alleinig hochentwickelten intelligenten Wesen vorbehalten?
    Diese Szene in Terrence Malicks Oscar prämierten Film "The Tree of Life" dauert anderthalb Minuten. Sie wurde wegen ihrer suggestiven Aufladung kontrovers diskutiert: Ist ein Großreptil zu einem derartigen Akt der Gnade fähig?
    Anthropomorphismus pur, lautete die Kritik der Gegner. Nur Menschen seien empathische Wesen, außerdem höchstens noch einige andere Primaten und Delfine. Hochentwickelte Intelligenz sei die Voraussetzung für Einfühlungsvermögen und Rücksicht, so die weit verbreitete Auffassung.
    Bonobos im zoologisch-botanischen Garten Wilhelma in Stuttgart, aufgenommen am 24.04.2015.
    Bonobos sind soziale Wesen und zur Empathie fähig (picture-alliance / dpa / Benjamin Beytekin)
    Damit verbunden und ähnlich weit verbreitet ist die Annahme, dass nur Wesen von hochentwickelter Intelligenz und mit Einfühlungsvermögen selbst auch Adressaten von Empathie und Achtung sein können. Die Frage, wen oder was der Mensch einfach benutzt und was er wie Seinesgleichen behandelt, ist immer wieder gestellt und immer wieder anders beantwortet worden.
    Wer oder was ist ein Gegenüber?
    Wem gebührt Respekt?
    Wer oder was darf als Mittel zum Zweck behandelt werden?
    Wen oder was darf man töten, um selbst zu überleben?
    Um besser zu leben? Um zu genießen?
    Kriterien, um Wesen in die eine oder andere Kategorie einzuteilen, gibt es viele.
    "Sind sie Lebewesen?" fragen die indischen Jains seit 2.800 Jahren.
    "Können sie leiden?" fragte der englische Sozialreformer Jeremy Bentham im 18. Jahrhundert.
    "Haben sie ein Gesicht?" fragte der französische Philosoph Emmanuel Levinas im 20. Jahrhundert.
    "Zeig nicht mit dem Finger auf den Berg, das ist unhöflich" schimpfte die Alaskanerin vom Volk der Athabasken ihre Tochter, sie waren Zeitgenossinnen von Levinas.
    Die Grenzen der ethischen Verantwortung Leben zu achten setzt jede Gesellschaft anders
    Claude Lévi-Strauss berichtet in "Das Rohe und das Gekochte" von den indianischen Stämmen der US-amerikanischen Westküste, darunter die Yurok. Sie fällten keine lebenden Bäume für die Nutzholz- oder Brennstoffgewinnung, da dies als "Kannibalismus" gegenüber der Pflanzenwelt gegolten hätte. Stattdessen suchten sie nach totem Holz für ihre Feuerstätten und Hütten. Dabei war das Töten von Tieren bei den Yurok keineswegs tabuisiert. Sie lebten von der Jagd und vom Fischfang.
    Die Grenze dessen, was genutzt werden darf, und was geachtet werden muss, zieht jede Gesellschaft anders. Aber wo genau sie die Grenze zieht, sagt viel über eine Gesellschaft aus.
    Nicht Terrence Malick, sondern die Entwicklung der empirischen Naturwissenschaften in der frühen Neuzeit und deren Triumph über andere Weltzugänge hat die Frage der ethischen Verantwortung gegenüber anderen Wesen anthropomorphisiert - vermenschlicht. Nur denjenigen soll Leid erspart werden, die zu leiden scheinen wie die Menschen. Die wie oder ähnlich wie die Menschen und für die Menschen sicht- und hörbar die Miene verziehen. Sich wehren, schreien oder schließlich abstumpfen, wenn sie zu lange gequält werden. Die also die Fähigkeit des Empfindens oder besser noch das Bewusstsein dieser Empfindung besitzen. Und es zudem auf eine Art mitteilen, die dem Menschen verständlich ist.
    So gälte es hierzulande wohl den meisten Menschen als lächerlich, wollte jemand eine Kleidermotte davor bewahren, an einer klebrigen Falle zu verrecken, nur um menschliches Eigentum zu schützen.
    Ähnlichkeiten schaffen Wertigkeiten: Leidet ein Hund gefühlt stärker als eine Motte oder ein Baum?
    Aberwitzig erscheinen uns die religiösen Riten der Jains, die einen Mundschutz tragen und den Weg vor ihren Füßen fegen, damit sie keine Insekten oder sonstige Lebewesen verschlucken oder zertreten. Niedlich die Yurok, die ihre Rotwild- oder Lachssteaks nur über totem Holz gegart haben, um das Leben der Mammutbäume zu schonen.
    Für uns ist es offensichtlich, dass ein Hund mehr leiden kann als ein Lachs und ein Lachs mehr als eine Motte und eine Motte mehr als ein Baum. Offensichtlich, weil wir es mit unserem aufgeklärten Blick so wahrnehmen und seit Jahrhunderten mit der Idee einer Hierarchie der Lebewesen vertraut sind.
    Ein Mops mit Halstuch blickt in die Kamera.
    Kann dieser Gefährte des Menschen auch Leid und Trauer empfinden? (Imago / Future Image)
    Wir sind darin die Krönung und das Maß - je mehr das Leiden unserem Leiden ähnelt, desto schützenswerter ist der Leidende. Je ähnlicher uns ein Tier zu sein scheint, desto eher rechnen wir ihm das Vermögen zu, das wir für uns als "höhere Lebewesen" beanspruchen: Intelligenz, Selbstreflexion, Empathie.
    "Nicht nur wir und die mit unseren Gefühlsregungen seit vielen Jahrtausenden verbundenen Hunde und andere Haustiere träumten in der Nacht, sondern auch die kleineren Säugetiere, die Mäuse und Maulwürfe, halten sich schlafend, wie man an ihren Augenbewegungen erkennen kann, in einer einzig in ihrem Inneren existierenden Welt auf, und wer weiß, sagte Austerlitz, vielleicht träumten auch die Motten oder der Kopfsalat im Garten, wenn er zum Mond hinaufblickt in der Nacht," schreibt der deutsche Autor und Literaturwissenschaftler W. G. Sebald in seinem Roman "Austerlitz". Exakte Wissenschaft ist das natürlich nicht. Das Gefühlsleben der Motten allerdings wurde schon im 19. Jahrhundert vom französischen Insektenforscher Jean-Henri Fabre untersucht. Er beschreibt in einem Text über das Liebesleben des Eichenspinners, wie das Weibchen dieser seltenen Schmetterlingsart ihre Bräutigame von weit her anlocken kann. Den Duftstoff, den sie ausscheidet, kann die menschliche Nase nicht wahrnehmen. Fabre berichtet, wie er ein Eichenspinnerweibchen unter einer Drahtglocke in sein Arbeitszimmer stellt, um drei Tage später zu beobachten, wie mindestens 60 Eichenspinnermännchen, die durch das offene Fenster flattern, sich auf die Drahtglocke stürzen.
    "Sie treten sich auf die Füße, schubsen sich und versuchen, den günstigsten Platz zu ergattern. [...] Sie fliegen raus und rein, kreisen unermüdlich um die Glocke, flattern im Raum umher und führen so ganze drei Stunden lang ihre ausgelassene Sarabande auf."
    Sie müssen ihren Weg von sehr weit und aus allen Himmelsrichtungen gefunden haben, vermutet der Entomologe. Denn in seiner unmittelbaren Umgebung sind die Tiere nicht ansässig. Sie kommen selbst dann noch, wenn der Forscher das Zimmer mit Schälchen von Lavendelöl, Petroleum und Schwefelwasserstoff vollstellt und dazu noch kräftig Pfeife raucht, um ihren Geruchssinn zu irritieren. Doch die Anwärter schwärmen trotzdem in den verpesteten Raum, ihr Ziel klar im Visier. Eine Feinheit der Wahrnehmung, die ihresgleichen sucht.
    Fabre beobachtete sorgfältig und systematisch. Dabei berief er sich ausgerechnet auf jene Tradition innerhalb der Naturwissenschaft, die die Fähigkeit zu Leid und Freude normalerweise nur denjenigen Wesen zuschreibt, die in der Lage sind, sie für Menschen nachvollziehbar auszudrücken. Diese Tradition hat aber auch Instrumente hervorgebracht, die für uns heute Ausdrucksweisen nicht-menschlicher Wesen erkennbar machen, die wir lange Zeit nicht wahrnehmen konnten: Instrumente, die die Augen von Quallen sichtbar und das Kichern von gekitzelten Rattenbabys hörbar machen zum Beispiel. Oder das ausgeprägte Schmerzempfinden von Fischen nachweisen können.
    Trennung zwischen Menschen und Nicht-Menschen löst sich auf: Haben Pflanzen eine Intelligenz oder Empfindsamkeit?
    Durch diese Forschung scheint sich die systematische Trennung zwischen Menschen und Nicht-Menschen immer mehr aufzulösen. Ständig werden neue Fähigkeiten, die angeblich nur den Menschen auszeichnen, auch bei Tieren nachgewiesen: Von der Werkzeugnutzung über die Verwendung von Symbolen bis hin zu religiösen Handlungen. So diskutieren Biologen schon seit längeren über die Bedeutung von bestimmten rituellen Handlungen etwa bei Schimpansen, Elefanten und Delfinen oder fragen nach dem Sinn von Totentrauer bei diesen Tieren.
    Mehr noch: Auch Pflanzen kommunizieren miteinander, lernen, haben ein Gedächtnis, empfinden womöglich so etwas wie Schmerz, wie die Pflanzenphysiologie oder auch die "Pflanzenneurobiologie" zu belegen versuchen. Sie können sehen, riechen, hören, schmecken, fühlen und verfügen über noch etliche andere Sinne, die Tieren unbekannt sind, schreibt der italienische Pflanzenforscher Stefano Mancuso in seinem aktuellen Buch "Die Intelligenz der Pflanzen".
    Frischer Weizen blüht im Frühling in Bayern, Deutschland auf einem grünen Feld. 
    Frischer Weizen im Frühling auf einem Feld. Können Pflanzen miteinander kommunizieren? (imago / Westend61)
    Animismus, die Beseeltheit aller Dinge: Die empfindende Welt "ist voller Augen"
    Die Vergrößerung der Kategorie der Wesen, denen wir eine Empfindungsfähigkeit zurechnen, durch die gleiche Wissenschaftstradition, die diese Kategorie vor nicht allzu langer Zeit zusammengezurrt hat, ist bemerkenswert. In gewissem Sinne kehrt die Forschung damit zurück zu vormodernen beziehungsweise nicht-modernen Weltsichten. Im 19. Jahrhundert hat die Anthropologie einen Überbegriff für viele dieser Weltsichten entwickelt:
    Der Animismus ist die Vorstellung von der Beseeltheit aller Dinge. Demzufolge ist die gesamte Natur durchdrungen von Leben und Willen. Der britische Anthropologe Edward Burnett Tylor hat den Begriff in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt. Mit Blick auf nicht-europäische Kulturen verstand er den Animismus als die niedrigste Stufe der Religion: "Primitive" Völker hätten die kognitive Trennung zwischen Subjekt und Objekt noch nicht vollzogen und projizierten so irrtümlicherweise ihr eigenes Innenleben auf Tiere, Pflanzen, Berge oder Orte.
    Trotz dieser Entstehungsgeschichte im Schatten der Kolonialzeit ist der Animismus heute noch eine nützliche Kategorie, um nicht-moderne Weltsichten zu verstehen. Vor allem in der jüngsten Vergangenheit wird er von westlichen und indigenen Wissenschaftlern sowie von Menschen, die sich selbst als Animisten bezeichnen, neu definiert und reflektiert. Die israelische Anthropologin Nurit Bird-David etwa beschreibt das Wesen des Animismus nicht als den "Glauben" an eine Welt voller "Geister". Sondern als eine Welt, die ein Beziehungsgeflecht von Personen bildet - wobei der Personenbegriff nicht an das Menschliche gekoppelt ist. So gesehen ist der Animismus zuallererst eine soziale Praxis, die im täglichen Leben die Interaktionen zwischen Kühen, Schlangen, dem Wetter, Steinen, Bäumen, Menschen oder Steckrüben ernst nimmt und dem Gewicht dieser Beziehungen und Personen in jeder Handlung Rechnung trägt.
    Die sibirischen Jukagiren sagen: "Die Welt ist voller Augen."
    Der dänische Anthropologe Rane Willerslev führt aus:
    "Alles - von Tieren über Flüsse, Seen und Bäume bis hin zu Geistern und sogar Schatten - hat seine eigene Perspektive und erwidert unseren Blick. [...] Niemand ist hier einfach ein 'Beobachter' und nichts ist einfach ein 'Objekt'. Es gibt nur die empfindende Welt und die hat Augen überall."
    Wissenschaftler haben herausgefunden, dass bestimmte Pflanzen in Stresssituationen ein Gas absondern, das benachbarte Artgenossen vor Gefahren warnt. Daraufhin ist in einigen Veganer-Foren und Gruppierungen - die zugegeben eher zu den Randbezirken der Philosophie gehören - die Diskussion ausgebrochen, ob man Erbsen essen dürfe.
    Das mag heute überraschend klingen - der japanische Zen-Buddhist Dōgen Zenji jedoch mahnte schon im 13. Jahrhundert:
    "Es gibt eine Welt der fühlenden Wesen in den Wolken. Es gibt eine Welt der fühlenden Wesen in der Luft. Es gibt eine Welt der fühlenden Wesen im Feuer. Es gibt eine Welt der fühlenden Wesen auf der Erde. Es gibt eine Welt der fühlenden Wesen in der Welt der Erscheinungen. Es gibt eine Welt der fühlenden Wesen in einem einzigen Grashalm. Es gibt eine Welt der fühlenden Wesen in einem Stab. [...] Untersuche diese Bedeutung gründlich."
    Auf blauem Himmel ist ein kleiner Regenbogen zu sehen.
    Auf blauem Himmel ist ein kleiner Regenbogen zu sehen. Gibt es fühlende Wesen in den Wolken? (Deutschlandradio / Jörg-Christian Schillmöller)
    Eine gründliche Untersuchung dieser Bedeutung könnte zum Schluss führen, dass wir ständig - nicht nur mit jedem Schluck und jedem Bissen - sondern bereits mit jedem Atemzug, mit jedem Schritt und mit jedem Griff fühlende Wesen berühren, verletzen oder gar vernichten. Dass die leidvollen Blicke gequälter Säugetiere, wie wir sie aus den Broschüren von Tierschutzverbänden kennen, nur die Spitze des Eisbergs sind, wenn es um die Opfer des täglichen Sichbewegens und Agierens in der Welt geht. Der Eisberg selbst, dem würde der Meister sicherlich auch zustimmen, ist eine Welt der fühlenden Wesen: Die der prähistorischen Mikroorganismen zum Beispiel, würden die Geowissenschaftler des 21. Jahrhunderts ihm beipflichten. Etwa die der Bakterien, die sich über die Jahrtausende gerettet haben, indem sie sich in den Eisschichten einnisteten und seitdem geduldig der richtigen Bedingungen harrten, um wieder wachsen und sich vermehren zu dürfen. Diese Bedingungen werden ihnen heute in den modernen Labors von Mikrobiologen gewährt.
    Wie viele Mikroorganismen mussten sterben, als die Titanic gegen den eisigen Bakterientresor im Nordatlantik prallte und die winzigen Lebewesen plötzlich freisetzte in eine ökologische Umgebung, die ihnen nicht zuträglich war? Wo verläuft die Grenze, jenseits der es anfängt, uns gleichgültig zu sein, wenn Organismen leiden und sterben?
    Dōgen sagte auch, und zwar im gleichen Vortrag: "Grüne Berge sind weder fühlend noch nicht fühlend. Du bist ganz gewiss weder fühlend noch nicht fühlend."
    Bei ihm geht es nicht um die Definition einer Kategorie derer, denen Respekt gebührt, weil sie eine bestimmte Eigenschaft besitzen, sei sie noch so umfassend. Sondern darum, "dass auch die Wüste lebt und Feuchtigkeit enthält, [...], dass alles lebt und aus demselben Stoff gemacht ist,"
    so die Erzählerin in Clarice Lispectors Roman "Die Passion nach G. H." aus dem Jahr 1964. Diese Erkenntnis folgt einer erschütternden Begegnung mit einer Kakerlake.
    Sobald man genau hinschaut, entpuppen sich die Abgrenzungen zwischen Lebewesen oft als willkürlich gesetzt, das Leben erscheint insgesamt als ein einziges wuselndes, sich selbst immer wieder erneuerndes Gemenge. Der US-amerikanische Literat und Umweltaktivist Gary Snyder schreibt:
    "Es gibt keinen Tod, der nicht Anderen Nahrung liefert, und es gibt kein Leben, das nicht Anderen Tod bringt."
    Diese These würden wiederum die sibirischen Jägerschamanen unterschreiben, von denen die französische Anthropologin Roberte Hamayon berichtet, dass sie sich selbst nur als eine Spezies unter anderen sähen. In ihrer Kosmologie bedeutet ihre Jagd auf Tiere, dass sie selbst wiederum irgendwann ihr Leben den Tieren und dem Wald opfern müssen. Am Ende wird alles und jeder verschlungen, damit das Leben weitergehen kann - und keinem dieser Wesen ist es egal, denn keines von ihnen will sterben.
    In der westlichen Auffassung werden bestimmten Lebewesen die allgemeinen Grundrechte verweigert
    So trifft uraltes menschliches Kulturwissen auf neue Forschungen und behauptet: Es gibt keine wasserdichten Kategorien, keine klaren Trennlinien. Leiden und Lust gibt es überall. Die Mammutbäume ächzen und trauern - in ihrer Art, in ihrem eigenen Lebensrhythmus. Die Eichenspinner legen im Liebestaumel weite Strecken zurück und frohlocken, wenn sie ihre Weibchen gefunden haben, in einer Art, die für uns nur über Analogien verständlich ist.
    Das bedeutet, dass es keine Unschuld gibt und keine Sicherheit. Es bedeutet, dass Achtung nicht auf Eigenschaften wie Empfindungsfähigkeit, Bewusstsein, Ausdrucksfähigkeit oder körperlicher Größe beruhen kann. Es bedeutet, dass unser Versuch, uns als Spezies aus dem Geflecht des Lebens herauszustellen, uns sogar darüber zu stellen und nur eine einseitige Nutzung anderer Wesen wahrzunehmen, die größte vorstellbare Gewalt darstellt. Und zwar weil wir aufgrund dieser selbst ernannten Sonderstellung systematisch bestimmte Segmente des Lebens als verwertbar identifizieren, unabhängig von den konkreten Zusammenhängen oder unseren tatsächlichen Bedürfnissen - von der Perspektive der verwerteten Lebewesen ganz zu schweigen.
    Die US-amerikanische Biologin und Posthumanistin Donna Haraway war Professorin am Department für die Geschichte des Bewusstseins an der Universität von Santa Cruz. Sie argumentiert in ihrem Buch "When Species Meet" aus dem Jahr 2007, dass die Erstellung von Kategorien dessen, was getötet werden darf und was nicht, direkt zur Ausrottung ganzer Arten führen könne. Das ließe sich zum Beispiel über die letzten Jahrhunderte in der industriellen Landwirtschaft beobachten. Für den sibirischen Jäger ist der Hirsch wie der Mensch ein Lebewesen mit einer Seele und ebenso abhängig und verflochten mit unzähligen anderen Wesen. Der Tötung des Hirschs, um den Menschen zu nähren, folgt später der Tod des Menschen, der letztendlich den Tiergeistern zum Opfer fällt. So wird der Jäger nur den Hirsch erlegen, den er zu seinem eigenen Überleben braucht, er wird behutsam und nicht mutwillig töten.
    In der westlichen Vorstellung werden bestimmten Lebewesen die Grundrechte grundsätzlich abgesprochen. Das heutige Grundrechte‑Verständnis geht auf die europäische Aufklärung zurück, die allerdings mit einer sehr eng gefassten Kategorie von Rechteträgern operierte: männliche, weiße, erwachsene, heterosexuelle, nichtbehinderte Bürger - häufig mussten sie auch getauft sein und Grund besitzen.So konnten die Aufklärer guten Gewissens koloniale Ausbeutung betreiben und Menschen verdinglichen. Der US-amerikanische Präsident Thomas Jefferson ist ein gutes Beispiel dafür. Er war zugleich Sklavenhalter - und Mitverfasser der Unabhängigkeitserklärung. Der erste Satz der Präambel dieser Erklärung lautet:
    "Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit."
    Über die vergangenen Jahrhunderte haben soziale und politische Bewegungen die schmale Kategorie derjenigen, die mit diesen oder ähnlichen Worten gemeint waren, immer wieder ausgeweitet. Sie forderten die Rechte von Frauen, Nicht-Weißen, Kindern, Homosexuellen, Behinderten, Nicht-Christen, Land- und Papierlosen ein. Und immer wieder kam eine Gruppe von Ausgeschlossenen dazu, um die Kriterien der Eingeschlossenen zu kritisieren, und um zu zeigen, dass diese immer noch zu eng gefasst waren.
    Mit der Tierrechtsbewegung überschreitet die Debatte erstmals die Kluft zwischen Menschen und anderen Gattungen. Der Vorwurf lautet Speziesismus: Auch hier würden Trennlinien aufgrund von Eigenschaften gezogen. Mit "Tierrechten" sind je nach Zusammenhang die Rechte von empfindungsfähigen Tieren gemeint, von schmerzempfindlichen Tieren, von bewusstseinsfähigen Tieren, von Wirbeltieren, von Säugetieren. Es entstehen neue Kategorien: Auf der einen Seite die Arten, bei denen ein Nutzverhältnis durch die Menschen moralisch verwerflich ist, auf der anderen die Arten, bei denen es etwa aufgrund mangelnder Schmerzempfindlichkeit oder Bewusstseinsfähigkeit bedenkenlos möglich ist, sie zu verwenden. Hier steht der Mensch nach wie vor als Bestimmender und Wertender außerhalb des Geflechts der Beziehungen zwischen organischer und anorganischer Materie, zwischen Lebewesen und Dingen und entscheidet, wem Achtung gebührt und wem nicht - und zwar in Analogie zu sich selbst. Er entscheidet, dass er sich bei der Tötung der Kleidermotte oder dem Essen der Erbse berechtigt und niemand einer Antwort schuldig fühlen darf, während er gleichzeitig Tierversuche an Menschenaffen als unmoralisch ablehnt. Auf der einen Seite die wertfreien Notwendigkeiten des Lebens, auf der anderen Gerechtigkeit, Anstand, Moral.
    Der Mensch kann sich nicht durch Bildung von Kategorien aus dem Beziehungsgeflecht von Lebendigem und Nicht-Lebendigem herausziehen
    Donna Haraway schreibt:
    "Es ist ein Fehler, die Lebewesen der Welt in solche aufzuteilen, die getötet werden dürfen und in solche, die nicht getötet werden dürfen, und es ist ein Fehler so zu tun, als könnten wir leben ohne zu töten. Ein ähnlicher Fehler hat die Freiheit als die Abwesenheit von Arbeit und Notwendigkeit gesehen - der Fehler also, die Ökologien aller sterblichen Wesen zu vergessen, die in und durch den wechselseitigen Nutzen ihrer Körper leben."
    Auf die vermeintliche moralische Sicherheit von eigenschaftsbasierten Kategorien zu verzichten, könnte der erste Schritt in eine radikale, praxisorientierte Ethik des Miteinanders sein. Diese würde an die animistische Weltsicht anknüpfen, sich an Beziehungsgeflechten zwischen allen lebendigen und nicht-lebendigen Dingen zu orientieren, - also an Beziehungen, die sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesamtheit von Gewicht und Bedeutung sind. Eine solche Haltung bildet sich nicht ein, dass es einen Bereich des Lebens gibt, der so unbedeutend wäre, dass er nur einseitig benutzt werden könnte. Weil es keinem Wesen egal ist, was mit ihm geschieht.
    Nichts ist egal, überall blicken Augen zurück. Wir haben nicht die Möglichkeit, nicht den Luxus, wie Haraway es formulieren würde, uns diesem Geflecht zu entziehen. Wir haben keine Chance, uns für unbefleckt zu halten, weil wir angeblich anderen kein Leid zufügen. Dies anzuerkennen und verantwortungsvoll damit umzugehen, im Alltäglichen und im Einzelnen, wäre dann unsere Aufgabe als Teil dieses Ganzen. Anstatt der heroischen Fantasie zu verfallen, wie Haraway schreibt,
    "dass wir alles Leiden beenden oder kein Leid verursachen könnten,"
    würden wir dann der schrecklichen, wilden, auch schönen Realität in die Augen sehen, dass Leben, auch unseres, sich nur von Leben, auch unserem, nährt. Und dabei wach ist. Die Einsichten der neuesten Forschungen an Pflanzen und Tieren bestätigen dieses alte animistische Wissen und geben uns nicht nur die Aufgabe, Leben besser zu schützen, sondern auch zu lernen, besser zu töten, wie Haraway fordert. Wenn wir anerkennen, dass wir ständig andere Lebewesen als Mittel zu unseren Zwecken nutzen, wie auch wir genutzt werden (angefangen mit den Bakterienstämmen in unseren Därmen, Mündern, Ellenbogenbeugen), dann könnten wir diese Nutzung ehrlicher und achtungsvoller gestalten, anstatt so zu tun, als stünden wir außerhalb dieser unangenehmen Wechselverhältnisse.
    "Je schärfer das Messer, desto sauberer die Schnittlinie,"
    schreibt Gary Snyder. Zu welchen Schlüssen wir im Einzelnen kommen, zu welchen Zwecken wir unsere Messer wetzen, auf welche liebgewonnenen Genüsse und Bequemlichkeiten wir verzichten, - das kann nicht im Voraus und nie für alle Zeiten bestimmt werden. Es kommt immer auf die konkreten Begegnungen an.
    Achtvolle Betrachtung des Lebendigen hat eine Tragweite für Politik und Gesellschaft
    Dies bedeutet nicht, dass diese Ethik nicht politisch werden und klare Forderungen stellen könnte. Im Gegenteil: Es geht nicht um die moralische Konsumhaltung des Einzelnen, sondern um eine in die Praxis übersetzte Anerkennung der Perspektiven aller Wesen und ihrer existenziellen Verknüpfung miteinander. Auch der spanische Philosoph Michael Marder von der Universität Vitoria-Gasteiz vertritt die Position, dass Pflanzen denkende, fühlende Lebewesen sind. Daraus leitet er die Konsequenz ab, dass die Entwicklung von sterilem Saatgut verboten werden müsse. Diese Technologie führt nicht nur zu einer umstrittenen Patentierung von Lebewesen, sie zwingt die Landwirte auch sowohl rechtlich wie biologisch dazu, für jede Aussaat neue Samen zu kaufen. Dies sei ein klarer Fall von achtungslosem - mehr noch: verächtlichem - Umgang nicht nur mit den Bauern, sondern auch mit den Pflanzen. Diese würden, um dem Profitinteresse der Biotechnologiefirmen zu dienen, einer grundsätzlichen Fähigkeit des Lebens beraubt: der Fähigkeit, sich zu reproduzieren.
    Das Beispiel macht deutlich, dass die Frage des Gegenübers oder der Begegnung mit anderen Wesen in einer globalisierten, postindustriellen Gesellschaft von einer Komplexität charakterisiert ist, die den sibirischen Jäger und seinen Hirschen sehr weit weg erscheinen lässt. Die überwiegende Zahl der Menschen in Deutschland ist eben nicht unmittelbar beteiligt am Fang, der Ernte, der Züchtung, der Haltung oder der Tötung der Tiere und Pflanzen, von denen sie sich ernährt und kleidet, mit denen sie sich wäscht, schminkt, verarztet und mit denen sie zusammen lebt.
    Weil das alles so komplex ist, kann die Antwort nicht der achtsam agierenden Einzelperson allein obliegen. Als Gesellschaft müssen wir uns fragen, wie wir uns als Menschen zu den Wesen, von denen und mit denen wir leben, verhalten wollen. Auch wenn diese Wesen zuletzt auf der anderen Seite der Welt noch lebendig waren.
    Uns in den Industrieländern hätte eine gesamtgesellschaftliche Debatte darüber vor 200 Jahren womöglich vor der Klimakatastrophe bewahrt, in die wir heute offensichtlich hineinschlittern. Der französische Philosoph Bruno Latour legt den Finger in die Wunde wenn er schreibt:
    "Früher machten wir uns über primitive Völker lustig, weil sie sich vorstellten, eine Unordnung der Gesellschaft, eine Verschmutzung könne die Naturordnung bedrohen. Seit wir aus Angst, der Himmel könne uns auf den Kopf fallen, kein FCKW mehr verwenden, ist uns das Lachen vergangen."
    Eine Spritze samt Injektionsnadel mit roter Flüssigkeit steckt in Maiskörnern.
    Die Debatte über gentechnisch veränderte Produkte geht weiter. Achtvolle Betrachtung des Lebendigen hat eine Tragweite für Politik und Gesellschaft (picture-alliance / dpa / Thomas Eisenhuth)
    Die Dinosaurier sind aufgrund eines Meteoriteneinschlags ausgestorben. Ob es unter ihnen nun Rücksicht oder Reflexion über die Folgen ihrer Handlungen gab oder nicht.
    "In der Wildnis bekommt ein junger Eselhase höchstens ein einziges Mal die Möglichkeit, über eine Wiese zu laufen ohne sich nach oben abzusichern. Eine zweite Chance wird es nicht geben,"
    schreibt Gary Snyder. Wir sind von diesem grundsätzlichen Risiko des Lebens auf der Erde nicht ausgenommen. Das Beste, was wir tun können, ist scharfsichtig, ehrlich und in alle Richtungen achtungsvoll damit umzugehen.