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Lehmann

DLF: Bischof Lehmann, bevor wir über die Katholische Kirche sprechen, möchte ich Sie nach unserem Programm fragen. Der Deutschlandfunk sendet montags bis freitags um 6.35 Uhr die Morgenandacht, in der ausschließlich katholische und protestantische Theologen zu Wort kommen. Nun hat sich die Bundesrepublik in den vergangenen 50 Jahren verändert. Die christlichen Kirchen in Deutschland schrumpfen, während die muslimischen Gemeinden stark wachsen. Müsste bei uns und müssten in anderen öffentlich-rechtlichen Sendern nicht auch muslimische Geistliche zu Wort kommen?

Christoph Heinemann |
    Lehmann: Das ist eine Frage, die man sicher prüfen muss. Aber ich bin auch der Meinung, dass das Verhältnis zu den einzelnen Religionen in Staat und Gesellschaft einer differenzierten Würdigung bedarf. Wir sind nun mal in Mitteleuropa – bei aller Toleranz und Religionsfreiheit und bei der Herstellung entsprechender Rahmenbedingungen für alle Religionen – eben doch auch von einer, ich möchte mal sagen, christlichen Leitkultur geprägt. Man kann nicht alles, was in fast 1.000 Jahren - gerade auch im Verhältnis Staat/Kirche - gewachsen und erlitten worden ist, einfach übertragen. Aber das heißt natürlich nicht, dass eine Gleichheit der Rahmenbedingungen verweigert werden dürfte. Nur, ich sehe die ganze Frage sehr differenziert und meine, dass die schon beträchtliche Zahl von Moslimen noch nicht eine solche Gleichstellung rechtfertigt.

    DLF: Warum kehren viele Menschen in Deutschland der Katholischen Kirche den Rücken?

    Lehmann: So viele sind das eigentlich nicht. Die Zahl der Austritte hat sich reduziert. Sie ist natürlich immer noch auf einem relativ beträchtlichen Niveau stehen geblieben. Wir haben ja viel weniger Austritte als die Evangelische Kirche, trotz mancher Schwierigkeiten, die wir haben. Im Bistum Mainz sind das immerhin in jedem Jahr noch etwa 5.000 Mitglieder. Das ist eine ansehnliche Gemeinde.

    DLF: Warum gehen diese Leute?

    Lehmann: Ja, wir haben das ja sehr sorgfältig über Jahre untersucht mit Allensbach. Das Hauptmuster ist eigentlich eine langsame, schleichende Entfremdung mit der Frage auch: Gibt mir eigentlich die Kirche noch das – sozusagen –, was ich durch meinen Beitrag, durch meine Kirchensteuer und sofort, hineinstecke? Ist – sozusagen – die Gratifikation noch stimmig? Und das sagen eben viele Leute, die den Kontakt aufgegeben, verloren haben, eigentlich nicht mehr. Hinzu kommt, dass natürlich auch dadurch, aber auch durch sonstige Milieu- und Mentalitätsänderungen früher es eher penibel war, auszutreten – innerhalb der Gesellschaft. Heute ist es für viele schick, auszutreten. Das hat sich ja kräftig geändert, so dass man in Unterhaltungen, wie ich von vielen Leuten weiß, heißt: 'Was, bist Du noch drin?'. Da hat sich auch vieles geändert, und da geschieht manches gar nicht so schrecklich reflektiert. Dann gibt es auch Leute, die einen Zorn haben, weil sie mit dem Pfarrer vor Ort, mit dem Bischof oder mit dem Papst nicht einverstanden sind und die momentan schnell austreten. Das sind die Leute, die eher eines Tages unter Umständen wieder zurückkommen. Wir haben ja nicht sehr viele, aber wir haben doch immer wieder Leute, die zurückkommen. Wir halten es auch so in unseren Gemeinden, dass, wenn jemand weggeht, einen Brief bekommt: 'Wir müssen das respektieren, was haben Sie für Gründe, wir würden gern mit Ihnen reden'. Wir haben auch ein Faltblatt für diejenigen, die wieder eintreten, wie man das machen kann. Also, es ist schon so, dass das beunruhigt und dass da auch eine missionarische Aufmerksamkeit da ist.

    DLF: Wenn das so weitergeht: Spricht das nicht dafür, dass man irgendwann Staat und Kirche trennen muss?

    Lehmann: Ich bin ja der Meinung - schon lange -, auch durch die Vergleichsmöglichkeiten, die ich habe im Rahmen des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen, dass dieses Verhältnis unglaublich vielgestaltig ist in Europa und sogar in Mitteleuropa. Wir in Deutschland haben eigentlich kein – in Anführungszeichen – "System", das sozusagen festgefügt wäre, sondern ich denke, das sind zwei zentrale Pfeiler, die das Ganze halten. Beide, Staat und Kirche, brauchen jeweils Unabhängigkeit und Freiheit, um ihre eigenen Aufgaben erfüllen zu können. Und auf der anderen Seite gibt es dann die konkrete, aber doch mehr punktuell ausgerichtete Zusammenarbeit im Interesse des einen und ganzen Menschen, der zugleich Bürger und Christ ist. Und das sind auf der anderen Seite die individuellen Situationen, ich denke an das Krankenhaus, die Bundeswehr, die Polizei, aber auch an das Gefängnis usw. Und da bestehen ja überall konkrete einzelne Abmachungen. Das ist ja eigentlich nicht sozusagen ein globales System, das ist mehr ein offenes Gefüge denn als ein fixiertes System, und das ändert sich ja auch im Grunde genommen auch wieder. Und insofern verglichen – nehmen Sie doch mal Griechenland, England, die skandinavischen Länder: Da gibt es doch eine Staatskirche von unglaublicher Art . . .

    DLF: . . . aber in Frankreich sind ganz andere Verhältnisse . . .

    Lehmann: Ja, wenn Sie aber mal genauer in Frankreich zusehen, dann sieht das auch ein bisschen anders aus. Der Staat zahlt in sehr vielen Kathedralen die gesamten Renovierungen. Der Staat zahlt in Dijon den Chor des Departements, der zugleich der Chor der Kathedrale ist. Die Bischöfe haben keine offiziell mitgeteilten jährlichen Gespräche mit dem Staatspräsidenten, aber sie werden zum Frühstück und zum Mittagessen eingeladen. Also, ich habe dort viel gelernt, gerade von unseren französischen Freunden, wie viele informelle Dinge es eigentlich gibt, so dass die Trennung - wie auch bei uns - eine viel größere Rolle spielt als man denkt. Das Trennungselement ist ja auch, wie eine ganze Reihe von Staatskirchenrechtlern sagen, viel mehr realisiert. Ich bin auch überzeugt davon, dass natürlich dieses etwas starr erscheinende Staat-Kirchen-Verhältnis, das halt auch auf alte Modelle und Konkordate zurückgeht, dass das so natürlich nicht mehr in Zukunft – und jetzt auch in der Gegenwart – läuft. Ich glaube, wichtiger, als nur Staat und Kirche zu sehen, ist eigentlich das Dreieck Staat – Kirche – Gesellschaft.

    DLF: Sie haben drei Elemente eben genannt. Ich möchte ein viertes noch einfügen: Die Parteien. Nicht nur die Katholiken sind verunsichert, vielleicht auch entsetzt, über die Koffer und die schwarzen Konten der CDU. Helmut Kohl war lange Zeit Ansprechpartner, vielleicht sogar politischer Fürsprecher der Katholischen Kirche. Sind Sie vom Altbundeskanzler enttäuscht?

    Lehmann: Also, ich möchte nicht gerne jetzt auf diese Affäre im einzelnen eingehen. Mir wird ohnehin schon immer wieder zu viel an Wertung vorausgenommen innerhalb der öffentlichen Meinung. Ich wäre sehr froh, wenn auch über andere Gesetzesbrüche in unserer Gesellschaft so viel diskutiert würde, wie es an dieser Stelle eigentlich getan wird, von der Abtreibung angefangen. Also ich denke, das ist auch ein primär politischer Kampf letzten Endes, und deswegen möchte ich mich nicht auf diese Ebene begeben.

    DLF: Abtreibung – wie geht es weiter mit der Schwangeren-Konflikt-Beratung?

    Lehmann: Im Augenblick kann ich das beim besten Willen nicht sagen; nicht, weil ich etwas verschweigen würde, sondern weil die Gesamtsituation im Moment sehr unübersichtlich ist, und als Vorsitzender der Bischofskonferenz habe ich stelle mir selbst auch die Frage, wie weit wir künftig wirklich eine gemeinsame Linie finden können. Im Augenblick sind in den verschiedenen Bundesländern – etwa in Nordrhein-Westfalen, aber auch in Rheinland-Pfalz, teilweise, wie es scheint, auch in Bayern – unter den Bischöfen selber recht verschiedene Konzeptionen mit im Spiel. Ob wir da zu einer neuen Gemeinsamkeit kommen können, scheint mir in einer kürzeren Frist eher unwahrscheinlich zu sein. Da ist dann auch das Verhältnis der verschiedenen Träger – da ist der Caritasverband, da ist der Sozialdienst Katholischer Frauen, die haben zum Beispiel 40 Prozent der Beratungsstellen allein, da ist der neue Verein, der sich aufgetan hat – Donum vitae, Geschenk des Lebens. Der Verein ist für mich insofern wichtig und auch – wie soll ich mal sagen – eindrucksvoll, dass es Reihen gibt in der Kirche, die oft Jahrzehnte für einen besseren Lebensschutz gekämpft haben, nicht alles verwirklichen konnten, was sie für notwendig sahen. Aber ihnen jetzt einfach sagen: 'Das kann doch nicht sein, dass das, was gewesen ist, einfach nun vollkommen zurückgefahren wird und wir müssen doch schauen, ob es nicht Alternativen gibt, um die wichtigen Elemente der bisherigen Beratung – drin bleiben in der Beratung, Ausfüllen des Scheines – dass das nicht realisierbar ist. Aber das ist schwierig, weil die wahrscheinlich nicht Träger von Einrichtungen sein können. Dazu fehlen ihnen – auch von dem Gesetz her – im Grunde die Voraussetzungen, dass sie gewisse Erfahrung haben. Woher sollen sie die haben? Sie müssen ausbilden können und sie müssen die Fortbildung übernehmen können, usw. Und ob es da zum Beispiel Kooperationsmodelle zwischen dem Sozialdienst Katholische Frauen und dem Verein gibt oder auch dem Caritas. Das sind ungeheuer schwierige Fragen. Das rührt ja dann auch ein Stück weit an die Identität der einzelnen Träger, die ja zum Teil, wie der Sozialdienst Katholischer Frauen, 100 Jahre alt sind.

    DLF: Wie erklären Sie es sich, dass Ihre Einwände, auch die des Sozialdienstes, dass die in Rom offenbar sich nicht Gehör verschaffen konnten?

    Lehmann: Also, letztlich erklären kann ich das eigentlich auch nicht. Vielleicht kann man es ein Stück weit erklären. Erstens einmal: Unser System ist natürlich komplex und schon ganz schön differenziert. Man muss auch sogar sagen: Es ist natürlich vom Gesetz von 1995 her auch in Teilen so spannungsvoll und widersprüchlich, dass es also für andere Rechtskulturen gar nicht so leicht ist, das, was bei uns ja auch vor einem längeren historischen Hintergrund der Abtreibungsgesetzgebung steht, zu verstehen. Also wie kann ich zum Beispiel sagen: Jede Abtreibung ist – abgesehen von der medizinischen Indikation – rechtswidrig, und ist und bleibt ein Unrecht, und auf der anderen Seite dann also die Straflosigkeit der Abtreibung propagieren. Meines Erachtens muss man die Dinge natürlich sehr zusammen sehen. Das Zweite, was Schwierigkeiten bereitet, auch in der deutschen Diskussion selber, das ist natürlich, dass das Bewusstsein von diesem Unrechtscharakter ein Stück weit mehr und mehr weggebrochen ist, so dass die Straflosigkeit dann so aussieht wie ein Recht auf Abtreibung, was es aber eigentlich nicht ist. So gibt es viele, viele Dinge. Es sind auch von Deutschland aus viele Einwände nach Rom getragen worden und haben dort ein Gewicht bekommen, das für meine Begriffe - im Vergleich zu den anderen Meinungen und auf der Bischofskonferenz selbst - doch zu groß geworden ist. Aber mir ist eigentlich wichtig: Warum hat eigentlich die Frage einen so dogmatistischen Charakter bekommen; auch dieser regelrechte Krieg, der da geführt worden ist und die Heftigkeit der Attacken? Wir sind ja uns alle einig in der Frage, dass wir sehr viel mehr tun müssen und sollen, zunächst einmal die Abtreibungszahlen zu senken. Die werden wir nie ausrotten können. Und das muss positiv gewendet werden – in Hilfe für die Frauen und die Kinder, damit sie ein neues Leben annehmen können und leben können. Und da gibt es ja eine ganz erstaunliche Gemeinsamkeit, fast Geschlossenheit kann man eigentlich sagen, im katholischen Bereich. Und dann gibt es doch die verhältnismäßig auch pragmatisch zu sehende Frage: Wo sind die relativ besten Mittel, um also eine Verminderung der Abtreibung zu erreichen? Und da meine ich, dass das also eine Frage ist, bei der man nicht mit Hauen und Stechen dem anderen gleich den guten Glauben absprechen muss, sondern wo man einfach mal sagen muss: Das ist auch eine pragmatische Frage der Güterabwägung. Und da kann man auch verschiedener Meinung sein. Ich habe ganz bewusst in den letzten Jahren, auch wenn das vielleicht nicht so beachtet worden ist, bei den größeren Stellungnahmen immer gesagt: Ich verstehe, dass jemand für den Ausstieg sein kann und habe die Gründe aufgezählt. Weil ich also selber – ich würde nicht sagen grundsätzlich geschwankt habe, aber ich habe das Gewicht der Gegengründe irgendwo immer auch gesehen. Und da bedaure ich, dass das alles so ein absolutistisches, ausschließliches Gegeneinander exklusiver Art geworden ist. Und das hat uns eigentlich dann doch sehr, sehr geschadet. Da müssen wir – denke ich – wieder etwas aufbauen. Ich habe natürlich auch bis in die sprachliche Artikulation und die Übersetzung gemerkt in verschiedenen Gremien in Rom – ob das jetzt die Glaubenskommunikation gewesen ist, in der ich ein paar Jahre war, unabhängig vom Sitz des Vorsitzenden –, wie schwierig es ist, diese Dinge in fremden Sprachen gleich auf den richtigen Nenner zu bringen. Und wenn Leute unendlich viel anderes zu tun haben und andere Kompetenzen und Erfahrungen haben, dann ist es nicht so leicht, sich da einzuarbeiten. Ich muss auch sagen: Wir sind natürlich in Rom mit dieser Sache ja irgendwie auch auf die Nerven gegangen. In den Tagen, wo ich noch mal dachte, dass ein Gespräch mit dem Papst zustande kommt – in der zweiten Maihälfte war ich mal dort, an einem der schwierigsten Tage des Kosovo-Konfliktes und der Lösung. Ich habe mich fast geschämt, dass ich jetzt wieder sozusagen die Zeit wegnehmen muss, um diese Frage zu erörtern angesichts der Dringlichkeiten, die zu entscheiden waren. Das gibt, glaube ich, die Lehre – uns, aber vielleicht auch Rom –, dass es vielleicht doch gut gewesen ist, wie es 1980 herum damals entschieden war, zu sagen – von Rom her, als die Stellen eingeführt worden sind –: Wir brauchen - von Rom her gesehen - das nicht zu verurteilen, wir brauchen das auch nicht zu billigen. 'Macht das mal, probiert das mal – sozusagen auf Vorbehalt hin. Schickt jedes Jahr einen Bericht, und dann wollen wir mal sehen, wie es weitergeht'. Das hat eigentlich so sieben bis acht Jahre ganz gut funktioniert, bis immer mehr neue Anfragen von Rom kamen. Wir haben auch immer wieder unsere Papiere hingeschickt und unsere Ergebnisse. Man muss eigentlich sagen – ich glaube, dass viele Leute in Rom auch heute so denken –: Vielleicht wäre es eben doch besser gewesen, das weitgehend in der Kompetenz der Bischofskonferenz zu lassen . . .

    DLF: . . . und dass man dahin wieder zurückkommt? . . .

    Lehmann: . . . das ist wahrscheinlich im Moment schwierig. Es ist doch ein erhebliches Ringen geworden, wo Lösungsmöglichkeiten, die ich früher selber immer wieder vorgeschlagen habe, im Moment einfach – glaube ich – obsolet sind. Ich habe im Frühjahr und im Herbst immer wieder noch vorgeschlagen: Ist es nicht möglich, dass man wenigstens für einige Zeit man sich gegenseitig nicht verketzert und zwei Beratungssysteme nebeneinander lässt, und nach einiger Zeit wird sich das vielleicht wieder reduzieren, je nach Erfahrung. Da war eben auch ein enormer Druck da. Ich fühlte mich eigentlich zuerst berufen, unser – Anführungszeichen – 'System' überhaupt mal zu erklären, es vor ständigen Missverständnissen und zum Teil auch bösartigen Missdeutungen zu schützen, dass die eigentliche Diskussion darüber mehr oder weniger zu kurz kam.

    DLF: Ja, die eigentliche Diskussion – das ist das Thema 'Schutz des Lebens'. Wir sprechen hier in Mainz miteinander. Rheinland-Pfalz pflegt besonders enge Kontakte zu Ruanda. Katholischen Geistlichen wird dort vorgeworfen, sie hätten sich während des Völkermordes passiv verhalten oder gar den Hass der Hutus gegen die Tutsis angestachelt. Wie geht die Kirche damit um?

    Lehmann: Das ist ein sehr schwieriges Gebiet. Ich habe vor vier Wochen die Einladung von Ministerpräsident Beck angenommen, beim Besuch des starken Mannes von Ruanda, Paul Kagamé, Vizepräsident und Verteidigungsminister. Also selbstverständlich kann ich nicht ausschließen, dass einzelne – um die geht es eigentlich – sich falsch benommen haben. Das ist durchaus möglich. Aber unsere westliche Berichterstattung, das habe ich in der Vorbereitung meines Gespräches dann gelernt, ist eben doch sehr stark von der Regierungspropaganda von Ruanda beeinflusst, und auch in Berlin pflegt man erstaunlich positive Beziehungen zu Ruanda. Ich habe das Gefühl, dass man hier in Rheinland-Pfalz aufgrund des öfteren nahen Kontaktes etwas vorsichtiger ist, wobei ich nicht verkennen will, dass wir Hilfe geben müssen für den Wiederaufbau und für die Zivilisierung des Landes. Kagamé fährt ja – natürlich jetzt nicht, wenn er in Europa ist, aber in Ruanda – schon einen sehr deutlich antikirchlichen Kurs, und ich habe also mich sehr gut vorbereitet, auch mit Blick auf den Bischof Misago, der ja einen Prozess im Augenblick bekommt und habe dem Vizepräsidenten auch gesagt, dass ich kein Urteil abgeben kann, wie weit da unter Umständen Dinge geschehen sind, die hätten nicht geschehen dürfen. Aber ich habe auch gesagt, dass ich doch auch um Fairness bitte, dass Gegenzeugen wirklich auch gehört werden. Wir haben da Hinweise, dass Leute, die bestimmte Anschuldigungen als Augenzeugen widerlegen können, einfach nicht gehört werden. Es ist unglaublich schwierig, sich ein echtes Gesamtbild zu verschaffen. Es ist ja auch gar kein Zweifel, dass der Vizepräsident und seine Leute bei der starken Übervölkerung in Ruanda eine Erweiterung des Lebensraumes im Nordosten suchen, zum Beispiel in Zaire. Da spielen unheimlich viele Machtfaktoren eine Rolle, der auch wahrscheinlich auch die Kirche nicht ganz gewachsen gewesen ist.

    DLF: Bischof Lehmann, Heiliges Jahr 2000: Der Papst ist offensichtlich krank. Wäre das runde Datum möglicherweise – wie es auch schon mal angesprochen wurde, wie zu lesen war – ein geeigneter Zeitpunkt für einen Rücktritt?

    Lehmann: Ich habe in den letzten Wochen und Monaten durch die dreiwöchige Europasynode in Rom im Oktober und durch die einwöchige Besuche, die die deutschen Bischöfe alle fünf Jahre machen, doch mehr als sonst die Gelegenheit gehabt, dem Papst immer wieder zu begegnen. Er ist ja mit einer unglaublichen Ausdauer und Geduld und Disziplin bei der Europasynode bei allen öffentlichen Sitzungen da gewesen. Er war vielleicht mal eine Stunde weg, aber sonst war er immer da. Ich selbst – andere können was anderes sagen – habe ihn eigentlich immer im Aufnehmen der Dinge von einer erstaunlichen Geistesgegenwart gefunden in den mehreren Gesprächen und in den gemeinsamen Erfahrungen. Wie sich die offensichtliche Parkinsonkrankheit auswirkt im Blick auf die Leitung und die Beschlüsse usw., wo man ja noch mal über das Verstehen hinaus eine eigene Energie auch dann braucht, da kenne ich mich einfach nicht aus und wage kein Urteil abzugeben. Im übrigen habe ich den Eindruck über Jahre jetzt eigentlich gehabt, dass er die ganze Lebenskraft auf dieses Heilige Jahr, auf das Jahr 2000, hingelenkt hat. Und es ist ja auch unglaublich, was er sich jetzt an Terminen und an Auftritten aufgeladen hat. Und ich glaube, einer dieser geheimen Höhepunkte seines ganzen Wirkens in diesem Jahr ist ein Besuch in Jerusalem und in Israel. Da sieht er, glaube ich, doch einen entscheidenden Höhepunkt auch seines ganzen Pontifikates. Ich traue dem Papst persönlich zu, dass, wenn er das Gefühl hätte, dass er einfach nicht mehr genügend in der Lage ist, verantwortlich die Kirche zu lenken, ich glaube, dann hätte er die Kraft und den Mut zu sagen: 'Ich kann das nicht mehr so erfüllen, wie das nötig ist'. Es ist natürlich nicht einfach, daran zu denken. Niemand ist das gewohnt, dass es so etwas geben würde, wie einen zurücktretenden Papst. Immerhin hatten wir ja mit Celestin V. jemand, der das gemacht hat. Aber wenn der Papst das wollte, ob dann die Umgebung und alle, die sonst Rat geben, damit einverstanden sind und glauben, dass das besser ist, dass er zurücktritt, da bin ich mir unsicher, wie das ist. Es ist immer für die Kirche eine sehr sensible Zeit, wenn Päpste länger die Kirche geleitet haben und eben sich dann einfach verständlicherweise physische Schwächen zeigen. Es ist für die Kirche und vielleicht auch für die Gesellschaften auch nicht so ganz schlecht, wenn sie sieht, dass es also auch kranke Päpste geben kann. Wir sind ja sonst so, dass wir solche Leute eher wegschließen, und das Normale und das Wichtige ist, dass Gesunde und dass Junge, und alles, was sozusagen funktioniert – und da nun konfrontiert zu sein, dass man auf der einen Seite noch ein gutes Gedächtnis hat für einen strahlenden Mann, der die Medien in der Welt gewonnen hat durch seine Ausstrahlungskraft - wenn ich an 1978 denke an den Anfang. Und jetzt sieht man eben auch: Da geht ein Lebensbogen langsam dann dem Ende entgegen, und trotzdem bleibt der Mann treu. Wenn ich so denke: Ich war doch persönlich auch sehr beeindruckt, mit welcher Treue und mit welcher Pünktlichkeit er alle diese Synodensitzungen persönlich verfolgt hat. Das war ein unglaubliches Vorbild, für die Arbeit der Synode. Und insofern muss ich sagen, habe ich gerade durch diese Situation eher wieder einen größeren Respekt und ein Stück weit neue Anerkennung sozusagen für mich selbst eigentlich gefunden und beurteile das ein bisschen anders, als ich es vielleicht selber gesehen habe.

    DLF: Sollte der mögliche Nachfolger aus einem anderen als aus unserem Kontinent kommen, vielleicht aus Afrika oder Lateinamerika?

    Lehmann: Also ich spreche nicht gerne über einen Nachfolger des Papstes, denn ich habe jetzt einfach Respekt vor dem, der da ist und vor dem, der das Amt hat in Rom. Man natürlich schon sehr stark auch in die Kirche der Dritten Welt. Ich habe immer wieder das Gefühl, in Rom geht der Blick auf diesen Riesenkontinent in Lateinamerika, wo so viele Katholiken – fast eine Milliarde, ein ganz großer Teil – eigentlich leben, und wo sich vieles auch entscheiden wird. Aber ich glaube, man hat auch irgendwo auch wieder zugleich schätzen gelernt, was die Kirche in Italien doch für die Weltkirche auch wieder bedeutet. Ein Papst, der vielleicht außereuropäisch wäre, der darf also nicht nur ein leeres Symbol sein. Er muss in seiner Weise eben auch führen; natürlich können das nicht nur die Europäer. Aber ein Papst für eine solche Kirche, der schwach wäre, das wäre eine Katastrophe. Und insofern – denke ich – muss man das einfach mal offen lassen. Das Kardinalskollegium wird sich dann die Köpfe zerbrechen darüber.

    DLF: Herzlichen Dank.