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Lehmann

Kriege: Kardinal Lehmann, vor einigen Jahren - ich glaube, es war 1997 - haben Sie die Eröffnung der Herbstvollversammlung der katholischen Bischöfe in Deutschland dazu genutzt, um auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die der öffentlichen Ordnung in Staat und Gesellschaft drohen. Sie haben dabei mit einem relativ kurzen Schlenker, aber doch ganz konkret, die Korruption in Verwaltung und Wirtschaft angesprochen. "Die Korruption wuchert wie nie zuvor", war Ihre damalige Feststellung. Fühlen Sie sich in Ihrer Kritik bestätigt, wenn man mal sieht, was gerade derzeit an die Oberfläche gespült wird - die Vorfälle in Köln etwa? Wie sieht es aus?

Hartmut Kriege |
    Lehmann: Ja, leider ein wenig bestätigt, denn niemand kann sich über solche Bestätigungen freuen. Es ist ja eigentlich schon seit Jahren bekannt, dass in manchen Bereichen - wie der Bauwirtschaft in den Großstädten - immer Verführungen und Versuchungen erheblichen Ausmaßes waren. Man wird wohl auch sich natürlich fragen müssen, wie weit gab es das vielleicht in mehr versteckter Form auch in früheren Zeiten. Ich will da nicht alles vergolden, was war, und nicht verteufeln, was jetzt ist, da wird man sehr differenzieren müssen. Aber ich denke mir, es ist auch eine Frage der Anfälligkeit der politisch tätigen Menschen. Wenn die Parteien bei all der Parteienfinanzierung in unserem Land ständig nach Geld suchen müssen, dann muss man eigentlich fragen, ob der Wettbewerb so eng zusammenhängt mit immer wieder steigenden Ausgaben in diesem Bereich, ob es nicht auf ganz andere Dinge ankommt - die Überzeugungskraft von Programmen, die Vorbildlichkeit von Personen und dergleichen. Also, das macht mir eigentlich dann fast mehr Sorge, dass sich also immer mehr eigentlich alles abhängig macht von den finanziellen Ressourcen, die da sind.

    Kriege: Dennoch gewinnt man den Eindruck, dass Korruption im weitesten Sinne mit die Schmierfette inzwischen geworden sind, die den Karren Staat rollen lassen. Immer wieder wird vor der Politikerverdrossenheit gewarnt - die Bürger seien durchaus sensibel für Politik. Wie sehen Sie dieses gesellschaftliche Treiben - vor allen Dingen vor dem Hintergrund des inszenierten Eklats im Bundesrat, was ja nochmals sozusagen wie ein Schlussstein in dieser Diskussion wirkt?

    Lehmann: Die Parteien haben von unserer Verfassung, und natürlich auch vor dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts, und ich denke, mit Recht und wohl auch insgesamt mit einem guten Erfolg, eine starke Stellung. Es gibt bestimmte Entwicklungen, wo man sagen muss, dass da der Parteienstaat doch etwas zuviel Macht gewonnen hat. Ich denke zum Beispiel an das Trauerspiel der Wahl eines Intendanten des Zweiten Deutschen Fernsehens, wo der Fernsehrat, als Kammer sozusagen, wo auch die Länder eben dann vertreten sind, besonders gefährdet, eben doch in einer Weise übermächtig geworden ist, dass es der Sache nicht mehr dient. Und in anderen Rundfunkanstalten dürfte es vergleichsweise ähnlich sein; wo man sich dann wirklich fragen muss: Wo liegt eigentlich die besondere Kompetenz? Die Begehrlichkeiten sind ohnehin da. Da - glaube ich - sind Korrekturen notwendig im einzelnen. Sonst muss man sich einfach fragen, ob es nicht auch von manchen Personen abhängig ist, die ja zum Teil bei uns auch in einer ganz erstaunlichen Weise nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte an den Schalthebeln sitzen - das müssen nicht immer die sichtbarsten Positionen sein - und die doch manchmal eben auch so umgehen mit staatlicher Macht, als ob sie diese gepachtet hätten.

    Kriege: In diesem Zusammenhang haben Sie schon vor Jahren immer wieder beklagt, dass die Kirche - die Kirchen im Land, müsste man schon sagen - mit in jene Reihe von Gruppierungen gehört - zum Kreis sogenannter gesellschaftlich relevanter Gruppen zu rechnen sind. Wie sehen Sie die Stellung der beiden Kirchen in diesem Verbund? Ärgert Sie das, dass man sagt: Mit Gewerkschaft und Sportvereinen sitzen wir in einem Boot - der Bürger sieht das so. Wie sehen Sie es selbst?

    Lehmann: Ich halte das nicht von vornherein für nur schädlich, weil man ja mitten in der Gesellschaft steht, weil man den Diskurs, die Auseinandersetzung, unter Umständen auch den Wettbewerb braucht, man braucht aber auch, um bestimmte Ziele zu erreichen - also etwa in der Ökologie oder in sozialen Fragen -, man braucht auch gewisse Bundespartner und Allianzen. Man kann allein nicht soviel durchbringen, wie das früher vielleicht einmal der Fall gewesen ist. Auf der anderen Seite wird das ärgerlich, wenn man natürlich so eingeordnet wird, als ob man ein Lobby-Klub, ein Interessenhaufen sozusagen neben dem anderen wäre. Da muss die Kirche natürlich aufpassen, wie sie redet - dass sie nicht so spricht, dass man den Eindruck gewinnen kann, diesem Verein geht es auch nur im Grunde genommen um seinen eigenen Profit und um sein eigenes Fortkommen. Das muss man daran merken, wie man sich vor allen Dingen um andere engagiert, besonders diejenigen, die keine Stimme haben oder die an den Rand gedrängt sind, wo man also auch einfach eine Uneigennützlichkeit und eine Selbstlosigkeit sehen muss. Natürlich muss man hier nicht blauäugig werden deswegen, es gibt auch ein minimales Selbstinteresse für den Erhalt der eigenen Einrichtungen und eigenen Funktionen. Aber ich glaube, dass wir eben dadurch, dass wir möglichst uneigennützig, offen nach allen Seiten, aber auch kritisch nach allen Seiten - das heißt auch letzten Endes gegenüber sich selbst - dass wir dann unsere Aufgabe wahrnehmen, da und dort, auf das Gemeinsame aufmerksam zu machen, das ja in Gefahr ist, immer zu einem kleineren Nenner zu werden, und auf der anderen Seite immer wieder auch mit besorgt zu bleiben, dass die auseinanderstrebenden Kräfte doch wenigstens zum Gespräch zusammenbleiben - und selbst, wenn es dann also ein Streit ist. Rechtliche Sicherungen allein haben wir ja eigentlich genügend, um die Eigenart von Kirche hier herauszustellen - etwa die Körperschaft des öffentlichen Rechts und dergleichen. Aber das sind heute - und auch auf die Dauer - allein keine ausreichenden Sicherungen. Ich denke, das Zeugnis, das die Kirche bringt - als Ganzes und in den Einzelnen - ist viel entscheidender. Das andere ist eine Stütze, aber nicht Grund genug.

    Kriege: Nun ist die Kirche das, was sie heute in Deutschland ist, historisch bedingt. Man merkt in vielen Bereichen auch noch heute, dass sie eben aus der mittelalterlichen Reichskirche kommt, aus dieser Verbindung zwischen Reich und Kirche. Das hat sie geprägt. Andererseits, wenn die Kirchen in der Öffentlichkeit reden, gewinnen viele den Eindruck, dass sie sich so ein bisschen in der Rolle von ‚Ethikwächtern' wiederfinden, die schauen, dass die Gesellschaft nicht aus dem Ruder läuft. Nur - diese Rolle wird von vielen aber abgelehnt. Wie sehen Sie das?

    Lehmann: Also, zunächst einmal bin ich fest überzeugt, dass wir in Deutschland im Verhältnis Kirche - Staat mehr Elemente der Trennung haben, als man gewöhnlich eigentlich wahrnimmt. Das ist auch gut und notwendig, denn mehr als sonst brauchen beide Seiten Unabhängigkeit und Freiheit, und erst auf diesem Fundament kann dann auch eine partnerschaftliche Beziehung werden. Die ist aber nicht eigentlich ausgeprägt in einem System mit einem festen fixierten Gefüge und Privilegien und Rechten, sondern letzten Endes gibt es eben eine konkrete Kooperation im Interesse des einen und ganzen Menschen, der Christ ist und Bürger ist. Und das bezieht sich im wesentlichen auch auf ganz konkret begrenzte Felder: ob das jetzt die Schule oder soziale Einrichtungen sind oder die Seelsorge im Gefängnis oder in der Bundeswehr. Und das ist, denke ich mir, ein Beziehungsgeflecht, das sich immer wieder auch ein bisschen verschiebt. Man darf ja heute eigentlich nicht nur 'Staat und Kirche' sagen, man muss immer 'Gesellschaft' dazudenken, das ist ein Dreieck, und das verändert sich eben auch je nach dem Beziehungsgefüge. Und trotzdem glaube ich, dass das Ganze gar auch mit der Beweglichkeit doch eine in gewisser Weise immer noch exemplarische Bedeutung hat, man sieht das auch im Blick auf die Nachbarn. Aber es scheint mir, wir stehen so ein bisschen auch an einer Wegscheide. Jetzt brauchten wir auch - und gerade als Kirche - Jahre, Jahrzehnte, auch nach den Zeiten vatikanischen Konzil, um einen angemessenen, anerkannten Platz zu finden in der Gesellschaft. Da ist man natürlich zunächst mal inmitten vieler Stimmen, da hat man auch keinen überhöhten Platz mehr. Ich denke, da ist viel eingeübt worden und auch manches gewonnen worden, auch an Ansehen. Aber es gibt so einen Zeitpunkt, wo man dieses sich stärkere Einfügen auch doch nicht überspannen darf. Jetzt kommt es darauf an, nachdem sozusagen Freiheit und Toleranz im Verhältnis zueinander grundsätzlich gewonnen sind, dass man seinen eigenen Standort etwas stärker markiert. Natürlich kann man da schnell abrutschen in - ich nehme mal Schlagwörter - fundamentalistische oder eben auch fanatische Verhaltensweisen, da ist man nie sicher. Und da glaube ich aber, dass man ohne die Offenheit nach allen Seiten und zu allen Partnern und die Bereitschaft zum Diskurs aufzuheben, dass man etwas stärker markieren muss, wo man selber steht, was man selber einbringt. Und da könnte es schmeichelhaft klingen - und manchmal sind wir auch vielleicht darauf reingefallen -, dass man zum Wächter des Ethos in der Gesellschaft ernannt wird oder sich selbst ernennt. Das ist schmeichelhaft und gefährlich - schmeichelhaft, weil so viel Macht hat auch die Kirche heute nicht mehr, damit sie etwas tatsächlich also auch durchsetzen kann, jedenfalls nicht mit den Mitteln, mit denen das wirksam auf absehbare Zeit möglich wäre. Und auf der anderen Seite darf man - denke ich - alle anderen gesellschaftlichen Bereiche nicht aus der Verpflichtung entlassen, dass sie selber für das Funktionieren des Ethos mitsorgen, ob das der Sport ist oder die Wirtschaft ist oder die Politik. Und insofern würde ich sagen, muss man diese Rolle viel stärker eben offensiv ausüben und sich nicht in die Defensive drängen lassen, als ob man allein zuständig wäre oder allzuständig wäre, also für das Ethos allein. Das zeigt sich natürlich ganz besonders in elementaren Herausforderungen, wo es um Menschenrechte, Grundrechte geht, Lebensschutz, Schutz der Ehe, Familie und dergleichen. Da sollten wir als Kirche keine Hemmung haben, dass wir das bloßlegen, was gesagt werden muss, Wunden aufzeigen auch; da muss man auch streiten, da muss man auch Alternativen aufzeigen, muss sich zu ihnen also bekennen. Aber das wird auch eigentlich von vielen Menschen erwartet. Und ich bin eigentlich auch froh, dass wir in unserem Land in einer Situation sind, wo das bis zu einem gewissen Grad, auch wenn man vielleicht gar nicht inhaltlich einverstanden ist, von Kirche so etwas auch erwartet. Und schauen wir etwa nach Frankreich, dann sagen meine Bischofskollegen in Frankreich oft zu mir: 'Dazu - Schutz des Sonntags und Arbeitszeit, andere Themen - das erwartet man nicht von uns, dass wir dazu etwas sagen, oder dass man unter Umständen sagt: Dazu haben wir nicht die Leute'. Und da, muss ich sagen, bin ich froh, dass wir sagen können: 'Doch, das wird erwartet, dass wir den Mund auftun', und wir haben, Gott sei Dank, auch die personellen und die finanziellen Ressourcen, um mitarbeiten zu können und auch mit beurteilen zu können.

    Kriege: Nun geht die Politik aber ein bisschen auf Distanz zu den Kirchen. Der Chef der CSU-Landtagsfraktion, Alois Glück, hat zum Beispiel vor wenigen Tagen erklärt, seine Partei sieht sich nicht als verlängerter Arm der katholischen Kirche. Die Politik verweigert bisweilen schlichtweg, die Argumente der Kirche zu bestimmten Fragen zur Kenntnis zu nehmen - vielleicht auch wohl deswegen, so meine Vermutung, weil bei vielen sich der Gedanke inzwischen verfestigt hat, dass die Religion die Politik zu instrumentalisieren sucht und nicht umgekehrt. Sehen Sie die Anliegen der Kirche in diesem Land überhaupt noch in den Parteien, vor allen Dingen in denen, die von der grundsätzlichen Programmatik her den Kirchen nahe stehen, überhaupt noch vertreten?

    Lehmann: Also, zunächst muss man eigentlich froh sein, dass in den letzten Jahrzehnten in einem ganz hohen Maß in allen Parteien eine Ent-Ideologisierung stattgefunden hat, am sichtbarsten bei der Sozialdemokratie, als sie im Bad Godesberger Programm vieles Gedankengut aus einer etwas vulgärmarxistischen Sicht über Bord geworfen hat. Aber ich denke mir auch, dass es ein Fortschritt ist, dass in allen Parteien überzeugte Christen einen Platz gefunden haben. Insofern gibt es kein Privileg mehr für eine einzige Partei oder einen Grund für die Kirche, sich nicht allen Parteien gesprächsweise anbieten zu können. Es wird freilich auch nicht zu leugnen sein, dass Parteien, die sich in ihrem Programm ganz grundsätzlich zum Christentum bekennen, eine zunächst mal größere Nähe also haben. Aber vielleicht sind die Konflikte dann fast größer, wenn ein solcher Anspruch da ist. Es ist aber auch - so sehe ich das jedenfalls - im Laufe der Zeit deutlicher geworden, dass man der Kirche zubilligen muss - etwa in der Frage der Zuwanderung -, dass sie aus ihrer Perspektive, und das sind im wesentlichen die humanitären Aspekte, spricht, und da auch bestimmte Forderungen erheben wird. Und das gilt dann gegenüber allen Parteien. Und dass man auf der anderen Seite also auch immer wieder um Verständnis ringen muss, dass man die Eigenständigkeit dieser Frageweise und dieses Zugangs hinnimmt und nicht einfach aus einer bestimmten politischen Ecke beurteilt wird. Besonders in diesen Tagen sieht man eben, wie man aufpassen muss, dass man nicht nur in Wahlkampfzeiten, aber hier besonders, sich nicht verstricken lassen darf in irgendwelche Fragen politischer Taktik und politischer Strategie. Deswegen haben wir vor der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz noch einmal unsere Sachfragen gebracht. Wir waren auf der einen Seite froh, dass manche Dinge im Gesetzesentwurf realisiert waren - wie etwa die Regelung der Härtefälle. Wir haben aber auch Verständnis gehabt für den Einwand, die Öffnung zu Härtefällen hin könnte eine unkontrollierte Zuwanderung neu ermöglichen. Aber ich denke mir, in dem Augenblick, wo man also spürte, dass man jetzt eigentlich nicht mehr bereit ist, aufeinander zuzugehen und noch einmal sich zusammenzusetzen am runden Tisch, da ist auch unsere Einwirkungsmöglichkeit vorbei, und deswegen also kommen wir da an eine Grenze, die wir - denke ich - sehr stark beachten müssen.

    Kriege: Stichwort 'Einwirkungsmöglichkeiten'. Wäre es dann nicht für die katholische Kirche speziell, wenn man es mal auf sie fokussieren darf, sinnvoll, mal durchaus seriös darüber nachzudenken, ob man nicht doch vielleicht eine eigene politische Partei zur Verfügung hat, über die die Kirche dann ganz aktiv im Bundestag an der politischen Willensbildung mitwirken kann, unter Umständen sogar in Koalitionen sich einbinden lässt? Wäre es nicht sinnvoll, eine eigene Partei zu haben?

    Lehmann: Es mag von Zeit zu Zeit eine verführerische Idee sein. Ich glaube, dass das unter verschiedener Hinsicht ein falscher Weg wäre. Einmal bin ich überzeugt, dass bei der Pluralität, die heute auch in der Kirche - nicht zuletzt unter Laien, aber auch unter Geistlichen - es nicht so einfach wäre, eine Partei zusammenzuhalten. Da würde es eigentlich fast alle Tendenzen - von den ganz Extremen mal abgesehen - geben, die eben in der Gesellschaft bei bestimmten Fragen vorhanden sind. Das sieht man ja zum Beispiel auch im Verhalten etwa zum Embryonenimport. Und dann schätze ich, zumindest mal im Blick auf die 'C'-Parteien, den Ertrag, dass nach dem Krieg, als Kirche und Theologie längst noch nicht so weit waren, Menschen in der Politik aus den gemeinsamen Erfahrungen der Abwehr oder des Erduldens von Gewalt trotz der Trennung zusammengekommen sind, immer noch eine Sternstunde in unserer Geschichte. Und das muss natürlich immer wieder auch erneuert werden. Und deswegen wäre es also, scheint mir, geradezu fatal, wenn in einer Zeit, wo die Kirchen auch in den sozialethischen Gestaltungsfragen - bis jetzt hinein in die Diskussion der Bioethik - in einer manchmal für mich selbst erstaunlichen Weise gemeinsam sprechen können, man sich hinterher wieder konfessionell spalten ließe. Also, ich glaube, dass dafür eigentlich die Zeit vorbei ist. Ich werde immer wieder erinnert, wie ich noch während des Konzils mit meinem Lehrer Karl Rahner in Holland gewesen bin und Schilder gesehen habe: 'römisch-katholischer Friseur', 'römisch-katholischer Kaninchenzüchterverein'; ich hätte das niemals gedacht. Und wie ist diese konfessionelle Landschaft in wenigen Jahren vollständig verfallen. Heute ist es fast so, dass nichts mehr davon eigentlich da ist. Das ist - glaube ich - nicht mehr unsere Lebenswelt.

    Kriege: Andererseits ist natürlich der Staat sehr froh, dass die Kirchen - beide Kirchen - subsidiär in Tätigkeit treten für den Staat, an der Gesellschaft und gegenüber der Gesellschaft, wenn man einmal an den weiten, sehr weiten Bereich der sozial karitativen Aufgaben denkt. Sehen Sie auch nicht darin eine etwas gefährliche Entwicklung, wenn man zwar aufgrund der Kirchensteuer, die ja nicht unbedeutend ist - mit 8 Milliarden Euro für beide Kirchen zusammen - die berühmte Basis wegbrechen sieht, aber dann irgendwann eines Tages dasteht wie die berühmte Jungfrau ohne Unterleib, die zwar lebensfähig ist, weil die finanzielle Ressourcen da sind, aber eigentlich die Leute weg sind?

    Lehmann: Auf der einen Seite ist das ein Problem, weil die Spannungen sozusagen einfach dann größer werden. Es ist auch deswegen ein Problem, weil wir natürlich bei diesem hohen Engagement uns auch nicht leicht tun - angefangen von Kindergärten über die Schulen bis zu den Sozialeinrichtungen - immer die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden, die in dem Geist mitwirken, der notwendig ist, damit also diese Einrichtungen auch das darstellen, was sie sein sollen. Auf der anderen Seite habe ich eigentlich eher die Sorge, dass wir uns durch dieses übergroße Engagement natürlich so ein wenig in der Fläche verlieren. Aber wir tun's denke ich wenn man auch etwa die Beratung im Zusammenhang ‚Lebensschutz' sieht, dann übernehmen wir nicht einfach nur säkulare Aufgaben, sondern erfüllen sie auf unsere Weise und sind da auch flexibel, indem zum Beispiel im Blick auf Pränataldiagnostik und sofort neue Beratungsfelder einfach also dazukommen. Aber der Christ und die Kirche dürfen gerade vor den Zerrissenheiten unserer Welt nicht flüchten. Wie soll sonst eigentlich das Wort eingelöst werden - die Kirche sollte ohne Stolz eben statt auf dem Berg ‚Licht der Welt' sein. Diesen Anspruch darf man nicht preisgeben, aber man darf natürlich auch dabei kein ‚Schales Salz' werden.

    Kriege: Angesichts des heutigen Osterfestes lässt sich aber dann doch fragen, was darüber hinaus die Kirche den Menschen an Botschaft noch anzubieten hat - anderes gefragt: Wie halten es die Kirchen mit der Botschaft von der Auferstehung, die ja nun das Zentrum ist? Wo bleibt denn diese zentrale Botschaft in der Kirche? Kommt die nicht zu kurz?

    Lehmann: Also, das ist sicher eine Frage zur Gewissenserforschung, und es wäre schlimm, wenn es in weiterem Umfang so wäre; denn es ist kein Zweifel: Die Kirche ist zunächst um des Evangeliums willen da. Und wenn sie Kirchensteuer bekommt, dann bekommt sie eigentlich diese Mittel letztlich ja von den Gläubigen, damit sie in erster Linie dieser Botschaft Raum gibt. Und alles andere ist eigentlich eine integrale Verwirklichung dieser Grundbotschaft. Und das sollte auch - denke ich - nie verwischt werden, denn alles andere können andere auch und können andere manchmal besser. Aber es gibt eben Herausforderungen und Fragen, vor denen die allermeisten davonlaufen. Das dürfen wir nicht, sonst würden wir das Evangelium verraten, bedrängten Menschen - viele Nöte sind ja auch unsichtbar - zur Hilfe zu kommen, Trost zu spenden in verzweifelten Situationen - und da gehört eben auch Leid und Schmerz und Tod hinzu. Das ist kein letztes Wort, das wir sagen, sondern ein letztes Wort ist das, dass es eben im Glauben und ganz besonders seit der Auferstehung Jesu Christi, ebenso ist, dass dieser Tod nicht das letzte alleinige Wort mehr hat. Man muss auch nicht im Hass und in der Gewalt versinken, sondern es gibt eben trotz der Erfahrung dieser Gewalt eine größere Macht von Hoffnung und von Zuversicht, Versöhnung und Liebe. Das gilt auch in der Politik, auch für verzweifelte Situationen, wie etwa ein Israel. Und das ist die eigentliche Botschaft, und die wird Menschen anziehen. Und da sind wir unersetzlich.

    Kriege: Vielen Dank Herr Kardinal.