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Lehmann

DLF: Der Krieg gegen Jugoslawien hat viele Fragen aufgeworfen, Bischof Lehmann. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hat sich die NATO zu einem Angriffskrieg entschlossen, zum ersten Mal befinden sich Bundeswehrsoldaten in einem Kampfeinsatz, und dabei sind humanitäre Gründe für diesen Krieg geltend gemacht worden. Es geht darum, den Frieden zu erzwingen. Das Ziel ist es, die Vertreibung und Entrechtung der Menschen im Kosovo zu verhindern. Die Luftangriffe auf serbische Ziele halten an, ein Ende des Krieges ist noch nicht abzusehen. Die Frage nach der Legitimation bleibt, Bischof Lehmann, und sie stellt sich auch der Kirche. Ist Krieg im Namen des Friedens, ist Krieg gegen das Morden - wie DER SPIEGEL getitelt hat - hinnehmbar?

Thilo Kößler |
    Lehmann: In diesem Zusammenhang versagen eigentlich alle Begriffe, die wir bisher angewendet haben. Es ist schon recht schwierig, etwa den Begriff ‚Krieg' zu verwenden. Ein Krieg muß erklärt werden; das ist in diesem Sinne kein Krieg, aber zweifellos eine kriegerische Auseinandersetzung. Deswegen paßt auch etwa das klassische Schema des gerechten Krieges eigentlich nicht, aber zweifellos ist das, was hier geschieht, auch nicht einfach ein Angriffskrieg in dem bisherigen Sinn, sondern ich würde eher sagen, es ist ein Verteidigungskrieg für Menschenrechte. Aber es bleibt wahr: In jedem Fall ist es eine Tragödie, und das, was geschieht, ist ja immer ein Verlust an Humanität, wenigstens im Augenblick, wo viele Menschen einfach darunter leiden. Daran darf man nicht vorbeigehen.

    DLF: Das heißt, die Unterscheidung ‚Angriffskrieg' und ‚Verteidigungskrieg' ist aufgehoben. Gilt einfach: Menschenrecht vor Völkerrecht?

    Lehmann: Man ist verführt, vielleicht so zu denken mit Völkerrecht und Menschenrecht. Aber ich glaube, das ist eine sehr dialektische Struktur. Auf der einen Seite wird man sagen müssen: Im Blick auf die Vereinbarungen und Abmachungen, die international gelten, ist es sicher so, daß ohne UNO-Mandat es völkerrechtlich nicht gedeckt ist, was geschieht. Auf der einen Seite wissen wir: Das Völkerrecht ist ja erschreckend unverbindlich, und viele treten das Völkerrecht dauernd mit den Füßen. Hier wird man also sagen müssen: Auf der einen Seite ist es ein Verstoß gegen das Völkerrecht - aber im Interesse der Menschenrechte. Und deswegen denke ich mir, daß es - wenigstens also nach vorne gesehen, auf die Zukunft hin - eigentlich ein Beitrag zum Völkerrecht ist, daß das Völkerrecht nämlich verbindlicher wird. Das scheint mir überhaupt das Wichtige zu sein, daß man in einer Übergangsphase hier steht, wo das, was wir uns eigentlich alle wünschen, daß nämlich die Weltorganisation Mittel und Instrumente hat, um so etwas zu verhindern, im Grunde noch nicht so weit ist . . .

    DLF: . . . die UNO steht sich selbst im Wege . . .

    Lehmann: . . . steht sich selbst im Wege, und auf der anderen Seite, wenn man nach rückwärts schaut - man kann nach vorne schauen, nach rückwärts schauen, hat dann ein ziemlich doppeltes, widersprüchliches Janusgesicht - wenn man nach rückwärts schaut, muß man sagen: Wie ist die internationale Gemeinschaft, besonders Europa, ungeheuer blamiert und entwürdigt worden bei den ethnischen Säuberungen in Bosnien. Und ich denke mir: Das ist schon auch ein Gewinn, daß man jetzt aufgewacht ist und sich nicht in dieser Weise zurückzieht und die Verantwortung übernimmt. Das wird auch in Zukunft - denke ich mir - irgendwie sich in diese Richtung entwickeln müssen, daß die internationale Gemeinschaft bei einer so flagranten Verletzung von Menschenrechten einfach eintritt. Vielleicht ist dann der Druck, wenn das mehr sind, größer - wenn das etwas legitimierter ist - und besser. Vielleicht hätten früher auch schon gute Drohgebärden genügt. Aber jetzt ist es eben doch so, daß der Aggressor im Grunde genommen eigentlich immer profitiert hat - von der Untätigkeit letzten Endes. Und deswegen ist das eine ungeheuer verwickelte Geschichte, die dauernd zwei Gesichter hat - auch für den, der glaubt, daß er jetzt gut handelt.

    DLF: Die klassische Situation eines Dilemmas: Wie ich mich auch verhalte, ich muß mich schuldig machen.

    Lehmann: Ja, ich komme jedenfalls aus Verquickungen mit Unrecht nicht heraus, kämpfe aber für Gerechtigkeit.

    DLF: Wie geht ein Christ mit so einer Situation und mit so einer Entscheidung um? Läßt man Flucht und Vertreibung einfach geschehen, ist man konfrontiert mit dem Gebot zur Nächstenliebe. Greift man zu Mitteln des Krieges, gerät man in Konflikt mit dem Gebot ‚du sollst nicht töten'.

    Lehmann: Das ist auch für den Christen - der hat da keine anderen Mittel - ein im Grunde unlösbares Dilemma, das man - glaube ich - in dem Ernst und in der ethischen Unausweichlichkeit einfach auch annehmen muß. Es scheint mir, daß es natürlich leichter wäre, eine Antwort zu geben, indem man sich einfach zurückzieht und sich sozusagen keine ‚schmutzigen Hände' machen möchte. Es ist ja aber doch wieder interessant, daß ein großer Teil der pazifistischen Linken, die in den letzten Jahrzehnten sich hier sicher lautstark gemeldet hätte, jetzt doch eher etwas verhalten sich äußert, weil sie das Dilemma doch auch erkennt - niemand kann ja gegen den Eintritt für die Menschenrechte sein . . .

    DLF: . . . Pazifismus kann auch blutig sein . . .

    Lehmann: . . . genau, genau. Und auf der anderen Seite muß man sagen: Wenn wir so etwas wollen, wie zum Beispiel eine europäische Friedensordnung, die ja in vielen Verträgen - mit Den Haag und allen möglichen Dingen - ausgearbeitet ist: Dort kann Frieden ja nicht herrschen, solange Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Und da nun zuzuschauen - oder besser noch wegzuschauen und so fort -: Das kann auf keinen Fall die Lösung sein. Und insofern fand ich es eigentlich erstaunlich mutig von den verantwortlichen Politikern - was immer der einzelne auch noch für Motive hatte -, doch hier zu einer Gemeinsamkeit zu finden. Aber so, wie die Sache jetzt läuft, daß im Schatten des Luftkrieges eine so irre Vertreibung der Menschen geschieht, das zeigt natürlich noch einmal das ganze Dilemma von der anderen Seite.

    DLF: Sehen Sie in diesem Krieg unter Umständen einen unheilvollen Präzedenzfall, auf den sich im Zweifel andere Mächte berufen könnten? Könnte es zu einem neuen Bellizismus kommen?

    Lehmann: Also, das wird man sehen müssen. Man kann sich ja auch fragen, warum die internationale Staatenwelt in anderen Konflikten eigentlich in dieser Zeit nicht eingegriffen hat - warum ist in Afghanistan in 20 Jahren nie eigentlich etwas passiert, wo Menschen auch dauernd grausam vertrieben und schrecklich hingerichtet worden sind. Es ist ja nicht so einfach zu erklären, warum das im Irak geschehen muß und warum das hier im Kosovo geschehen muß. Aber diese Doppel-köpfigkeit des Ganzen, die bringt mich natürlich auch dazu, daß ich nicht nur diese Gefahr des Bellizismus sehen kann und der willkürlichen Wiederholung solcher Dinge, sondern daß ich auch sagen kann: Vielleicht ist das auch der Anfang einer Regelung, wo man also jetzt noch in dieser zwiespältigen Übergangsrolle steht. Aber vielleicht gelingt es das nächste oder übernächste Mal, vielleicht doch auch stärker diese Instrumente befriedigend einzusetzen. Ich hoffe es jedenfalls, da wird man ja später klug sein, das wird man später erst wahrscheinlich richtig beurteilen können, ob es jetzt falsch war oder nicht falsch war. Jedenfalls ist es ja doch schon ein interpretationsbedürftiges Zeichen, wenn Parlamentarier, die sonst sensibel sind, wissen, daß sie die Weltordnung eigentlich nicht hinter sich haben und trotzdem dafür eintreten, daß die Auseinandersetzung so betrieben wird. Das kann ja doch auch ein Zeichen sein, das am Ende der UNO nützt und die UNO voranbringt und das Völkerrecht voranbringt. Wenn man diese Schlüsse nicht zieht, dann fällt das Urteil - denke ich - viel schwieriger aus.

    DLF: Bischof Lehmann, zum ersten Mal haben hier in Deutschland wieder Eltern Angst um ihre Kinder, die als Soldaten in einem Krieg stehen. Die Verantwortung für die Entscheidung - Sie haben es ja auch angesprochen - ist nicht nur unseren Politikern ins Gesicht geschrieben. Markiert dieser Krieg gegen Belgrad eine tiefe Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte?

    Lehmann: Ich glaube schon - auch wenn wir jetzt bei verschiedenen Befriedungsversuchen logistisch und sonst mitgemacht haben - dann ist das doch jetzt auf den unmittelbaren Einsatz von Waffengewalt etwas Neues, allerdings auch etwas, wo wir uns praktisch auch irgendwie darauf vorbereitet haben - das mußte eines Tages ja auch dann kommen. Es ist auch eine merkwürdige Sache, daß ausgerechnet eine Regierung aus Parteien, die bisher eigentlich hier eher zögernd oder ablehnend reagiert haben, nun im Verbund der internationalen Staaten in einer Weise eigentlich zugestimmt und eingewilligt haben, wie man das eigentlich nicht so ohne weiteres erwarten konnte. Aber ich finde auch das wieder ein gutes Zeichen, daß man sich der ganz konkreten Verantwortung, in der man steht, daß man der eben auch gerecht wird und der auch nicht ausweicht - ganz unabhängig davon, was man gestern vielleicht erklärt hat, als man in der Opposition war.

    DLF: Was, glauben Sie, hat dieser Krieg zu bedeuten für das Verhältnis der Kirchen untereinander, für die katholische Kirche im Verhältnis zur orthodoxen Kirche insbe-sondere?

    Lehmann: Man muß hier sicher unterscheiden zwischen den einzelnen orthodoxen Kirchen, die ja auch eine starke eigene Geschichte haben. Aber das Kreuz mancher orthodoxer Kirchen ist eben doch auch eine fast unauflösbare Einheit nicht nur mit der Nation, sondern mit Nationalismus. Und ich denke, das ist überhaupt das Problem der Orthodoxie, wie sie verwurzelt ist in einem bestimmten Volkstum, in einer bestimmten Nation - was ja etwas positives eigentlich ist - wie sie verhindern kann, daß sie darin aufgeht, daß sie dafür instrumentalisiert wird letzten Endes. Und da - glaube ich - hinkt die Orthodoxie in der Aufarbeitung ihrer Geschichte eigentlich noch nach. Und deswegen findet man immer wieder, gerade auch bei manchen - nicht bei allen - serbischen Hierarchen eine solche Identifizierung, die dann nicht nur die Nation einbegreift, sondern die auch dieses nationalistische Verhalten mehr oder weniger deckt - wenn auch mit großem Bedauern, daß es da kriegerische Auseinandersetzungen gibt. Ich denke, das hat keinen Sinn, jetzt von oben herab da zu urteilen, den Stab darüber zu brechen. Wir müssen gerade in der Ökumene mit diesen Kirchen in ihren Höhen und auch in ihren Tiefen einfach dann ein Stück weit mitgehen und darüber sprechen. Das tun wir seit Jahren. Aber wir dürfen uns auch hier harte Fragen nicht ersparen, denn ich denke, daß man mehr oder weniger doch erpreßt und erdrosselt wird durch nationalistische Gesichtspunkte. Das zerstört im Grunde auch Kirche.

    DLF: Muß denn die Ökumene verstärkt werden im Sinne der Konfliktlösung? Ist da vieles versäumt worden? Müßte man es anders machen?

    Lehmann: Wir haben sehr viele Gespräche in ganz unterschiedlichem Rahmen. Aber zum Teil kommen manche Kirchen auch dann kaum mehr für die ökumenischen Gespräche in Betracht. Ich war jetzt zum Beispiel als einer der Vizepräsidenten des Rates der Europäischen Bischofskonferenz mehrfach bei Begegnungen mit den anderen christlichen Kirchen Europas, auch den Orthodoxen natürlich. Da treffe ich immer nur auf die Russen und die Griechen. Ich treffe auch die Rumänen, aber ich habe schon lange keinen Serben mehr gesehen, weil sie nicht kommen, oder weil sie am Tag abreisen, wenn man kommt. Ich denke, Serbien - ehemaliges Jugoslawien - ist sowieso noch eine zusätzliche große Aufgabe, weil: Wir sind ja hier an der Schnittlinie von Ost und West. Das ist der Unterschied von dem oströmischen und weströmischen Reich. Und daß es auch hier zum Beispiel einen ganz spezifischen Islam geben konnte, wie er sonst nicht existiert, der in Toleranz hineingewachsen ist, der ein pragmatisches Verhältnis zu anderen Religionen ausgebildet hat, der keinem Fundamentalismus anhing - das war doch an sich eine wenig beachtete, aber ganz wichtige Sache, und die ist durch diesen Krieg - zum Beispiel durch diese natürlich immer etwas labile und prekäre Balance - kaputtgemacht worden, so daß dann viele viele Schäden auch in der Ökumene - über die Christen hinaus - entstanden sind.

    DLF: 500.000 Menschen sind vertrieben worden seit Beginn dieses Konfliktes, sie stehen vor den Toren Europas. Muß man hier die Türen aufmachen, Bischof Lehmann?

    Lehmann: Ich habe schon in den letzten Jahren immer wieder darunter gelitten, wie viele Leute keine Duldung mehr hatten bei uns und in den Kosovo zurückgeschickt worden sind - bis in die letzten Monate hinein. Wir haben in vielen Gesprächen mit den Innenministern immer wieder gerade darauf hingewiesen, daß wir halt doch nicht immer in der Lage sind, konkret zu beurteilen - manchmal kommt es auf jedes Dorf und auf jede Stadt an -, ob Leute zurückgehen können oder nicht. Das Erste ist, denke ich, daß wir unbedingt den armen kleinen Nachbarvölkern wie Mazedonien und Albanien helfen müssen, die überschwemmt worden sind und die nach Hilfe rufen. Es hat wirklich keinen Wert, wenn die Leute einfach zu uns transportiert werden. Umso stärker muß dort die Hilfe sein. Im übrigen gilt ist festzustellen - ohne daß ich jetzt ablenken will: Wir haben ja mehr Flüchtlinge aus Bosnien übernommen als alle anderen europäischen Staaten. So kann es dieses Mal nicht sein. Da müssen die anderen eben auch etwas stärker mit anpacken. Ich denke, aus der kriegerischen Auseinandersetzung folgt natürlich für die Europäer eine viel größere Verpflichtung, jetzt auch den entstandenen Schäden sozusagen positiv zu begegnen. Und das sind zuerst die unschuldigen Flüchtlinge.

    DLF: Ein Thema, Bischof Lehmann, das die katholische Kirche in eine tiefe Krise gestürzt hat - wie viele sagen -, das die katholische Gemeinde und die deutsche Öffentlichkeit sehr bewegt, ist die Frage: Bleibt die katholische Kirche im staatlichen System der Schwangeren-Konfliktberatung oder steigt sie aus? Das letzte Wort darüber hat der Papst. Die Deutsche Bischofskonferenz hat Ende Februar ihr Votum abgegeben. Die Mehrheit hat wohl dafür plädiert, im Beratungssystem zu bleiben und den umstrittenen Beratungsschein zu einem Beratungs- und Hilfeschein auszuweiten. Wann kommt die Entscheidung aus Rom und wie wird sie ausfallen?

    Lehmann: Also, auf beides bin ich genau so neugierig wie alle anderen auch und habe keine Prophetie. Ich möchte von mir aus auch nicht in irgendeiner Weise drängen. Ich weiß, daß der Papst selber sich mit der Sache befassen wird und daß er sich sicher auch einige Berater dafür wahrscheinlich noch holen wird. Das braucht also mit Sicherheit Zeit. Ich habe von mir aus geschätzt - und möchte dabei auch bleiben -, daß wir auf jeden Fall vor der Sommerpause sozusagen eine Antwort kriegen. Aber ich glaube nicht, daß es jetzt vor Ostern oder direkt bis Pfingsten alles schon geklärt ist. Ich wünsche mir allerdings, daß eine Entscheidung jetzt dann auch relativ konsequent und zügig erfolgt, denn es ist ja in den vielen Jahren vielleicht nicht alles gesagt worden - man findet immer noch da und dort eine interessante Kleinigkeit, aber die Linien für eine Entscheidung sind eigentlich vorgegeben ein Stück weit. Und ich habe jetzt keine andere Möglichkeit als zu sagen: Ich habe beim Papst eine Audienz beantragt, als ich ihm noch einmal die ganzen Unterlagen geschickt habe von unserer Befassung damit, und ich habe die Zusicherung, daß, sobald der Papst sich noch mal intensiver damit befaßt hat, ich die auch bekomme. Dann habe ich sozusagen eine letzte Chance, noch einmal aufmerksam zu machen auf unsere Gesichtspunkte. Ich habe bisher immer darauf vertraut, daß unsere Argumentation und unsere - denke ich - gediegene Arbeit, die wir auf den verschiedenen Ebenen betrieben haben - die wird auch anerkannt, auch von außerhalb von Leuten, die sie kennen, wir haben es ja veröffentlicht -, daß das also eine Überzeugungskraft hat. Ich bin in diesem Sinne auf der einen Seite überzeugter Anhänger von Vernunft, weil ich glaube, daß unsere Arbeit für sich spricht. Auf der anderen Seite bin ich - denke ich mir - auch ein Realist, der einfach sehen muß: In unserer konkreten gesellschaftlichen Situation wird es nie eine gesetzliche Regelung geben, zu der Kirche ganz ‚Ja' sagen kann. Das darf aber nicht ein Grund sein - weil es da und dort Widersprüche und Spannungen und Schwierigkeiten gibt -, daß wir uns zurückziehen. Insofern steht für meine Begriffe schon sehr viel mehr auf dem Spiel, auch für das Verhältnis Kirche und Staat.

    DLF: Das heißt, es ist die Frage: Zieht sich die Kirche aus dem gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozeß zurück, oder wie weit will sie Einfluß behalten und mitreden?

    Lehmann: Völlig klar ist - wie immer der Papst antwortet: Wir werden auf jeden Fall in der Gesamtberatung bleiben. Und ich kann mir auch gar nicht denken, daß wir uns da zurückziehen, aber es wäre eben eine rein kirchliche Beratung. Und wir haben einfach - denke ich mir - jetzt für den Augenblick mindestens so viel Erkenntnisse, daß die abtreibungsgeneigten Frauen, die zunächst einfach mal nach dem Schein greifen - wenn wir ganz außerhalb des staatlichen Beratungssystems sind - eben nur in einer verschwindenden Zahl zu uns kommen würden. Wir haben da noch genug zu tun, denn wir sehen, daß 80 Prozent der Frauen, die zu uns kommen, die kommen nicht wegen des Scheines, sondern die sind in einer sozialen Not und brauchen Hilfe, und die muß natürlich noch verstärkt werden. Aber die Frauen, mit denen man sozusagen noch einmal kämpfen kann für das Leben, damit sie das Kind austragen, damit sie sehen, daß sie genügend Hilfen dafür bekommen - da entscheidet sich ja der Kampf zwischen Leben und Tod. Und sich daraus zurückzuziehen, das wäre nach meinem Empfinden ein Verhängnis.

    DLF: Steht in dieser Frage, Bischof Lehmann, die Einheit der Kirche mit dem Papst auf dem Spiel?

    Lehmann: Nein, so dramatisieren könnte ich das nicht. Ich glaube, daß jeder eigentlich sieht - und vielleicht ist das eine Frucht unserer Arbeit mit der Arbeitsgruppe im vergangenen Jahr bis jetzt -: Es gibt eigentlich keinen Weg, der für sich beanspruchen kann, daß er der absolute Weg ist oder der einzige Weg ist. Und da muß man sich auch nicht die Köpfe einschlagen, und dann hat man auch das Recht, daß man wohl gültige Grundsätze nicht aus dem Auge verliert: Du sollst nicht töten, Du sollst Dich in keiner Weise daran beteiligen - auch noch so subtil -, daß man aber einfach dann auch sieht: Ich muß das Plus und Minus, den Vor- und den Nachteil der einzelnen Wege abwägen. Und das ist kein Relativismus, daß ich dann hier unter Beachtung der Grundsätze eben zu einer Güterabwägung kommen kann und kommen muß. Vielleicht kann man sich am Ende auch fragen, ob es so eine Katastrophe wäre, wenn wir auf verschiedene Weise beraten. Es könnte ja auch eine legitime Konkurrenz von verschiedenen Beratungsstellen geben . . .

    DLF: . . . das heißt, in den Bistümern? . . .

    Lehmann: . . . zwischen den Bistümern vielleicht besser. Ich glaube nicht, daß in den Bistümern das möglich wäre. Aber das haben wir ja jetzt schon. Wir haben, seit Fulda sozusagen einen eigenen Weg geht, haben wir ja diese Verschiedenheit. Ich strebe - gerade als Vorsitzender - natürlich nicht nach der Verschiedenheit zuerst, weil ich ja doch eine große Gemeinsamkeit erreichen möchte. Man muß auch bedenken, daß unsere Führungsorganisation für die Beratung, wie der Caritasverband und der Sozialdienst katholischer Frauen - die brauchen ja auf jeden Fall auch eine gemeinsame Orientierung. Aber als letzten Ausweg im Hinterkopf habe ich natürlich immer auch diese Frage. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein hoher Prozentsatz der Diözesen und Bischöfe, die die Thesen ‚erneuerter Weg' gehen wollen, daß die einfach ein ‚Nein' hören werden, sondern ich hoffe, wir werden intensiv gehört. Und dann wäre ein letzter Ausweg, wenn es nicht anders geht, eben auch eine gewisse Pluralität - vielleicht mal auf einige Zeit, denn auch der Staat ist ja vom Verfassungsgericht 1993 angehalten, wenn er dieses Beratungskonzept einführt, das als ein Experiment anzusehen, das nachbesserungs- und revisionsbedürftig ist. Und wenn die Abtreibungszahlen damit nicht gesenkt werden können, dann muß der Staat sich was anderes einfallen lassen. Deswegen ist ja die Statistik verbessert worden. Jetzt kann man - für meine Begriffe - nicht verantwortlich schon sagen, ob das Experiment schief geht oder nicht. Da muß man noch ein paar Jahre warten, und vielleicht wäre so lange, ohne jetzt eine grundsätzliche Entscheidung einfach hinauszögern zu wollen - wir haben schon lange genug verschoben -, vielleicht muß man geduldig auch bis dorthin warten, aber nicht geduldig passiv, sondern in der Zwischenzeit wollen wir auf vielen Wegen für das Leben eintreten.

    DLF: Wir haben über das Verhältnis von Kirche und Staat gesprochen im Zusam-menhang mit der Schwangeren-Konfliktberatung. Vielleicht können wir ganz allgemein mal fragen: Wie sieht denn das Verhältnis der Katholischen Kirche zur rot-grünen Bundesregierung aus?

    Lehmann: Ich habe es schon vor den Wahlen bei einem Gespräch mit dem damaligen Ministerpräsidenten Schröder gesagt: ‚Wenn Sie am Anfang mit Blick auf Ihre Klientel bestimmte Akzente in den Vordergrund rücken, wie ‚Gleichschaltung von homosexuellen Gemeinschaften mit Ehe' oder ‚Abtreibungspille RU 486' - dann müssen Sie mit unserem deutlichen Widerstand rechnen'. So ist es auch eingetreten, aber das definiert nicht eine Ablehnungsstrategie im Ganzen. Wir sind mitverantwortlich auch zu unserem Teil für diese Gesellschaft und für diesen Staat und wollen das einbringen. Und deswegen gibt es eine ganz konkrete begrenzte gezielte Zusammenarbeit, die auch mal Streit einschließt.