Archiv


Lehmann

Burkhard Birke |
    Birke: Kurz vor Weihnachten, dem Fest des Friedens, mehren sich wieder die Zeichen, die auf Krieg deuten. Die internationale Staatengemeinschaft, insbesondere die USA, werfen ja dem Irak vor, die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen zu verschleiern. Es wird mit Gewalt gedroht. Kardinal Lehmann, für wie wahrscheinlich halten Sie denn ein militärisches Eingreifen im Irak?

    Lehmann: Ich hoffe bis zum Schluss, dass es nicht notwendig wird. Wir haben, denke ich, auf jeden Fall noch Zeit bis zum 27. Januar, dann müssten die Waffeninspektoren ihre endgültigen Ergebnisse vorlegen. Bis dorthin werden die Amerikaner und die Engländer wohl auch zeigen müssen, ob sie zusätzliche Erkenntnisse haben. Dann wissen wir auch vielleicht besser, ob wirklich in großem Maß betrogen wird. Dann erst können wir wissen, in welchem Ausmaß auch konkret Gefährdungen ausgehen. Es sind da jetzt viele Verhandlungen, viele Mahnungen, viele Warnungen ausgesprochen worden, so dass man natürlich nicht sagen kann, ein möglicher Krieg sei ohne Verhandlungen und ohne entsprechende Maßnahmen schnell schlagartig vom Zaun gebrochen worden. Dennoch ist es vielleicht auch für die künftige Zeit schwierig, wenn die westlichen Länder in dieser schwierigen Region von sich aus eben eine militärische Auseinandersetzung beginnen würden. Ich glaube, dass die Folgen im ganzen unberechenbar sind, auch für die innere Stabilität der Staaten im Nahen Osten. Also, wenn man alles mal miteinander auch in Vergleich bringt – nicht nur die Zerstörungen und das Leid, das der Krieg selbst bringt, sondern auch mögliche Umorientierungen in Teilen der Welt – dann muss man sich das sehr, sehr gut überlegen.

    Birke: Wie werten Sie die Position der US-Amerikaner? Ist das Kriegstreiberei?

    Lehmann: Ich glaube, dass man zugeben sollte, dass trotz mancher etwas säbelrasselnder Worte der Präsident selber ja immer wieder mit der UNO sich vereinbaren konnte und auch bisher gemeinsam mit der UNO einen Weg geht. Aber es ist natürlich erkennbar, dass zugleich eine Doppelstrategie nebenherläuft für den Fall, und ich kann nur sagen: Der Krieg ist heute mit den Möglichkeiten und den Verwüstungen, die er bringt, eben auch nicht mehr ein letztes Mittel um Ordnung zu schaffen. Dafür ist zuviel Zerstörung am Werk.

    Birke: Begrüßen Sie denn die Haltung der Bundesregierung, die sagt: Keine deutschen Soldaten in den Irak – wie auch immer?

    Lehmann: Ich begrüße das insofern, als es zweifellos auch Staaten geben muss, die hier zur Nüchternheit und zur Zurückhaltung warnen. Das fließt dann ein, dass man sich selber weniger beteiligt. Aber man muss natürlich auch sehen: Durch die Bündnisverpflichtungen Deutschlands kann man sich nicht ganz aus der Sache heraushalten. Das sind dann Überflugrechte, Schutz der amerikanischen Einrichtungen und gewiss auch noch viele andere logistischen Hilfen, sodass das keine völlige Desolidarisierung bedeuten kann.

    Birke: Und es könnte auch, Kardinal Lehmann, bedeuten, dass die Deutschen dennoch irgendwie in den Krieg mit reingezogen würden?

    Lehmann: Ich hoffe nicht, aber das ist nicht meine Sache, darüber zu entscheiden oder zu urteilen.

    Birke: Kardinal Lehmann, das Irak-Problem muss man doch im Gesamtkontext der Lage auch im Nahen Osten sehen. Die Geburtskirche in Bethlehem, und wir reden ja hier zwei Tage vor Weihnachten, wurde ja im zurückliegenden Jahr für Wochen Zentrum der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern. Wäre es denn nicht sinnvoll, erst diese Probleme politisch zu lösen, bevor an weitergehende Schritte im Irak gedacht wird?

    Lehmann: Also, zweifellos ist die Spannung zwischen Israel und den Palästinensern ein unaufhörlicher Herd von Gewalt, und das steckt ja auch letzten Endes hinter diesen ganzen Problemen des Irak. Man würde jedenfalls viel leichter fertig werden, wenn dieser Herd nicht dauernd brennen würde. Aber es ist ja einfach nicht zu erkennen, wie diese Spirale der Gewalt auf beiden Seiten eingedämmt werden könnte, ohne dass wahrscheinlich sehr viel mehr Druck auch von den Amerikanern kommen müsste. Es ist natürlich auch eine echte Frage, ob Arafat sich – selbst wenn er es möchte – sich durchsetzen könnte, die Gewalt einzudämmen. Ich glaube, dass nur durch eine ganz breite internationale Front, die auch viel Geduld, Kraft und Geld aufbringen muss über Jahre, ein echter Friede möglich ist.

    Birke: Könnte die Katholische Kirche irgendwie vermitteln zwischen den beiden Gruppen?

    Lehmann: Ach, da sind wir sicher vom Politischen und vom Diplomatischen her insgesamt zu schwach, da geht es um ganz andere Dinge. Aber dass wir unaufhörlich mahnen, dass wir immer wieder auch versuchen, Gerechtigkeit zu bringen nach beiden Seiten hin, das kann ein kleiner Beitrag sein.

    Birke: Israel betrachtet ja sein Vorgehen gegen die Palästinenser als eine Art Anti-Terror-Kampf. Und seit dem 11.9. vergangenen Jahres ist ja dieses Schlagwort "Anti-Terror-Kampf" auch generell in aller Munde. Dieses Schlagwort, verbirgt sich dahinter nicht auch irgendwie so was wie eine Ablehnung auch der ganzen anderen Kultur, auch bei uns?

    Lehmann: An diesem Punkt vielleicht weniger als in anderen Zusammenhängen. Aber ich denke, man muss im unabdingbar notwendigen Kampf gegen den Terrorismus sehr aufpassen, dass man nicht selber eben auf andere Weise zum Gewalttäter wird. Ich denke zum Beispiel, Verletzung der Menschenrechte dürfte in diesem Terrorkampf nicht passieren. Oder ich halte es für äußerst problematisch, wenn zum Beispiel in Amerika der Präsident eine Liste mit 20 Terroristen freigibt, die sofort zum Abschuss freigegeben sind. Das sind, denke ich, solche schwierigen Grenzsituationen, wo der, der mit Recht Ordnung und Demokratie und Menschenrechte verteidigt, einen Bumerang in sein Gesicht bekommt.

    Birke: Verletzt denn Israel Ihrer Meinung nach die Menschenrechte mit dem Vorgehen gegen die Palästinenser ?

    Lehmann: Man kann das natürlich aus der Ferne nicht ohne weiteres beurteilen, was da in den Lagern geschieht und mit einzelnen Häusern, die zerstört werden. Aber es ist doch auch ein Phänomen, dass in Israel offensichtlich immer mehr jüngere Leute den Dienst verweigern und die Öffentlichkeit zwar keine geschlossene einheitliche Meinung hat, aber die Zahl derer, die im Grunde genommen nach einem Übereinkommen sich sehnen, wächst.

    Birke: Kardinal Lehmann, erkennen Sie denn Fortschritte bei der Zusammenarbeit, bei der Integration, Annäherung der Muslime und der Christen in Deutschland, in Europa, insbesondere nach dem schrecklichen Terroranschlag auf die zwei Türme des World Trade Centers?

    Lehmann: Also, es gibt natürlich mehr Zusammenkünfte, es gibt viele Gespräche, wo man viel stärker als früher Muslime beteiligt. Das ist nicht so leicht, denn so viele Gesprächsteilnehmer sind auch nicht verfügbar. Man muss auch sagen, dass von unserer Seite aus sicher noch manches unternommen worden ist. Wir sind zum Beispiel in Frankfurt an der Hochschule der Jesuiten, in St. Georgen, zusammen mit unserem Institut Cibedo von der Fachstelle Bischofskonferenz zur Verbesserung der Beziehungen zwischen den Christen und Muslimen schon seit fast 30 Jahren existent. Die beiden Institutionen kamen zusammen. Und dort bilden wir jetzt einen Studiengang - der läuft jetzt zum ersten mal mit 30 Leuten –, der in einem Blockverfahren Leute in zwei Jahren ausbilden kann mit einem zusätzlichen kleinen Diplom. Ich freue mich, dass fast 30 Leute gleich von Anfang an eigentlich diesen Kurs mitmachen. Ich freue mich, dass wir ein Projekt begonnen haben, das schon sehr weit ist – wo die Leiterin des Cibedo-Institutes Kurse hält für die Erzieherinnen in den Kindergärten um dort Lebensgewohnheiten der Muslime zu vermitteln. Die über 100 Kindergärten, in denen sie zum Beispiel im Bistum Mainz gewesen sind, sind spürbar leichter in der Lage, mit muslimischen Familien umzugehen. Und ich denke, auf vielen kleinen Flammen sozusagen kann ein besseres Verhältnis geschaffen werden. Die großen, plakativen Dinge, die sind wichtig, die müssen auch mal sein für die öffentliche Meinung, aber verändern tut sich eigentlich nur so was.

    Birke: Zu den großen Dingen, nicht unbedingt plakativ, aber enorm wichtig, gehört aber mit Sicherheit auch das Zuwanderungsgesetz. Das ist uns ja buchstäblich in letzter Minute durch die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung abhanden gekommen sozusagen – wegen eines Formfehlers. Sie haben das auch schon öffentlich bedauert, Kardinal Lehmann, aber verwundert es Sie nicht, dass gerade die Parteien mit dem "C" in dem Namen bei der Zuwanderung engere Schrauben anziehen wollen oder engere Grenzen setzen wollen?

    Lehmann: Also, nun gibt es ja innerhalb der "C-Parteien" auch sehr unterschiedliche Stimmen. Und wenn man die Ergebnisse der Süßmuth-Kommission, die natürlich nicht eine "C-Kommission" war, aber auch die Kommission unter Ministerpräsident Peter Müller betrachtet, dann gibt es in der CDU/CSU, denke ich, eine wachsende Gruppierung, die jedenfalls jetzt zu einem Einvernehmen eigentlich kommen möchte. Jemand sagte vor ein paar Tagen, wenn Peter Müller und ein anderer entsprechender Partner zusammen wären und die Freiheit hätten, dann wären sie in zehn Minuten zu einem Konsens gekommen. Das ist vielleicht ein bisschen überzogen . . .

    Birke: . . . aber es gibt ja noch ein paar Politiker weiter im Süden . . .

    Lehmann: . . . ja, ich denke, man darf auf keinen Fall jetzt in einer falschen Eile die Sache einfach durchziehen. Einmal wird vor dem 2. Februar ohnehin nichts passieren, beziehungsweise man muss Sorge haben, dass das bis dorthin Wahlpulverdampf ist. Das könnte erneut schädlich sein. Und dann gibt es natürlich schon einige Dinge, die diskutiert werden müssen von verschiedener Seite her. Wir sind von kirchlicher Seite ja zum Beispiel auch nicht zufrieden mit den Regelungen über das Nachzugsalter der Kinder. Wir wollten das eigentlich noch bis 18 Jahre heraufsetzen . . .

    Birke: . . . sehen Sie da überhaupt noch eine Chance . . .

    Lehmann: . . . och, ich denke, jetzt wird es – glaube ich – einfach doch noch einmal möglich sein, über alles zu reden. Und dann muss das also auch auf das Tapet kommen . . .

    Birke: . . . also, diese Forderung würden Sie auch an die Politiker richten?

    Lehmann: Die werden wir nach wie vor erheben. Ich sehe natürlich schon auch eine Wende der Unionsparteien gegen eine Aufhebung des Anwerbestops. Da sind wohl auch einige Unklarheiten – gesetzesmäßig. Es wird in der Koalition sicher auch zu ernsthaften Gesprächen zwischen SPD und den Grünen kommen. Die Grünen haben sich ja in vielen Dingen durchgesetzt. Ich weiß nicht, ob die SPD da sozusagen mehr Weiteres hinnehmen kann, wenn zum Beispiel ein im Bundesrat ja dann auch wichtiger Konsens verhindert würde. Und das Entscheidende ist, dass man ja wohl sagen kann, einmal: Unsere Ausländergesetzregelung, die sehr zerklüftet und zerstückelt ist, muss endlich mal einen Gesamtentwurf bekommen. Zweitens: Es ist jetzt in den letzten Jahren so viel an Annäherung gewesen, und man war so nahe beieinander, dass es jetzt absolut nicht mehr vertretbar wäre, und da jetzt auch – ich denke, mehr durch das Verfassungsgerichtsurteil – ein mahnender Hinweis auch erfolgt ist auf die Kultur und den Stil im Umgang miteinander, ist gerade an diesem Punkt kein Feilschen und Taktieren und kein Schachern und Taktieren möglich. Das darf jetzt nicht auf dem Rücken der Betroffenen irgendwo ausgetragen werden. Ich könnte mir denken, dass nach den Wahlen vom 2. Februar, wie immer die ausgehen, es vielleicht gar nicht mehr so schwer sein wird.

    Birke: Kardinal Lehmann, die Union argumentiert ja bei der Zuwanderung auch immer mit der Massenarbeitslosigkeit und dass infolge der hohen Massenarbeitslosigkeit unser Land nicht so offen sein dürfte und auch die Menschen nicht so viel Verständnis dafür haben, wenn wir Andere, Fremde noch mit aufnehmen. Wie empfindet eigentlich der Seelsorger das Problem der Massenarbeitslosigkeit, die Aufnahmebereitschaft der Menschen in Deutschland? Hat sich da etwas verändert?

    Lehmann: Ich glaube, dass sich insofern etwas verändert hat, dass viele Menschen Angst haben. Es ist ja auch so, dass Leute oft über Nacht ihren Arbeitsplatz verlieren, und zwar in bisher sehr gesicherten Positionen bei sozial sehr verantwortungsvollen Firmen. Und auch da, wo Leute angeworben worden sind vor einiger Zeit, verlieren viele wieder den Platz, obwohl man mit ihnen durchaus zufrieden ist. Also, da macht sich im Untergrund schon bei vielen, gerade auch bei etwas älteren Arbeitnehmern Angst breit in einer Weise, wie es bisher, glaube ich, nicht der Fall gewesen ist. Da sehe ich schon eine Verstärkung der Sorge. Und das ist natürlich auch dann fast die notwendige Folge, dass man bei jedem Ausländer, der ins Land kommt, die Sorge hat, ob er nicht einem Einheimischen einen Arbeitsplatz wegnimmt. Ich sehe das nicht so, und zwar deshalb, weil ja viele Ausländer zum allergrößten Teil Arbeitsaufträge bei uns haben, die in den meisten Fällen kein Deutscher macht. Unter den Müllmännern der Stadt, die bei mir den Müll wegräumen, sehe ich keinen Deutschen.

    Birke: Kardinal Lehmann, gerade im Bereich der Sozialpolitik, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, hatten sich ja auch die Kirchen immer wieder mit dem Hirtenbrief auch vor der Wahl zumindest als mahnende Stimme zu Wort gemeldet. Sind Sie eigentlich enttäuscht von den Maßnahmen der Regierung nach der Wahl?

    Lehmann: Also, das wäre vielleicht vor ein paar Tagen noch leichter gewesen, zu sagen: Ja. Jetzt, wenn ich das recht verstehe, was in den letzten Tagen wenigstens im Blick auf einen Teil der Hartz-Reformen gemacht worden ist, was wenigstens dann auch unterwegs ist im Blick auf Sozialversicherungssysteme, glaube ich, kann man etwas besser urteilen. Ich würde mich vor allen Dingen freuen, wenn es gelingen würde – was ich immer wieder auch angemahnt habe -, dass man ohne eine große Koalition eben doch zu einem größeren Konsens der Parteien kommt. Man kann mit fünf, sechs Stimmen Mehrheit nicht gut Gesetze durchpeitschen, die im Grunde über Jahrzehnte zu den Grundlagen einer Gesellschaft gehören. Und deswegen sehe ich einerseits in Minister Clement einen Politiker, der ganz bewusst einen größeren Konsens anstrebt und dem es offenbar in den letzten Tagen auch gelungen ist, einige Konsenselemente vorzubereiten oder schon zu schaffen. Und ich denke, auf der Unionsseite gibt es ganz sicher auch nach dem Wahlkampf auch Leute, die hier wissen: Wir müssen an einem Strick ziehen.

    Birke: Kardinal Lehmann, aber Maßnahmen, wie die Abgeltungssteuer auf Zinserträge müssten Sie doch eigentlich als Kirche bedauern. Zum einen, weil Ihnen Kirchensteuereinnahmen abhanden kommen, zum anderen, weil ja die soziale Ausgewogenheit im Gegensatz zur Vermögensteuer dann doch nicht mehr gegeben ist.

    Lehmann: Also, natürlich kann man darüber diskutieren. Aber man muss zunächst mal sagen, das ist offensichtlich eine Steuer, die in vielen Teilen Europas längst in Gültigkeit ist. Man wird auch dann sagen müssen: Uns tangiert vielleicht nicht so sehr an erster Stelle der Verlust an Geld, sondern es ist eigentlich so, dass die Einkommensteuer und die Lohnsteuer die Bemessungsgrundlage sind für die Kirchensteuer. Und dann ist es natürlich konsequent, dass Zinserträge eben auch zum Einkommen eigentlich gerechnet werden. Wenn das jetzt einfach durch das technische Verfahren, dass die Banken sofort einziehen, verunmöglicht wird, dann wird natürlich stillschweigend die Basis der Kirchensteuer angekratzt und wir haben darüber Gespräche verlangt und man hat auch verstanden, dass wir die wollen. Es ist also nicht einfach nur der Verlust an Kirchensteuermitteln, sondern es ist die Frage, dass sozusagen ein Systemfehler hier dann durchgeführt würde und darüber muss man wenigstens mal reden.

    Birke: Kardinal Lehmann, war das vergangene Jahr ein "annus horribilis", wenn man an die ganzen Probleme mit Pädophilie, vor allen Dingen in der angelsächsischen Kirche denkt?

    Lehmann: Ich kann das nicht so sehen. Ich glaube auch, dass der Verlauf dieser Debatte insgesamt, besonders bei uns auch in Deutschland, zu mehr Transparenz geführt hat und es gibt ja viele Dinge, die hier noch zu sagen wären. Wir sind als Kirche die bisher einzige Großorganisation, die auch verbindliche Leitlinien geschaffen hat die auch anerkannt worden sind, so dass man weiß, wenn bedauernswerterweise ein Fall vorkommt: Jeder ist einer zu viel. Und dann haben wir gezeigt, wie wir reagieren.

    Birke: Das nächste Jahr ist das Jahr der Bibel. Was ist Ihr liebster Bibelspruch, Kardinal Lehmann?

    Lehmann: Also, mein liebster Bibelspruch ist natürlich zunächst einmal das Leitwort für meinen bischöflichen Dienst, das ich mir vor fast 20 Jahren gewählt habe: "Steht fest im Glauben". Das ist mehrfach in der Bibel, besonders auch beim heiligen Paulus. Aber ich liebe natürlich auch viele andere Worte, die Gott sei Dank immer auch wachsen, weil man immer mehr wieder den Schatz der Bibel entdeckt, aber ich liebe zum Beispiel sehr das Wort des heiligen Paulus, dass man "allen alles werden" soll. Das klingt wie eine Utopie, aber Seelsorge und Evangelium heißt, dass man das unablässig versucht.

    Birke: "Allen alles werden" - könnte es auch werden, dass im Rahmen der Ökumene wir ein gemeinsames Abendmahl oder Kommunionsfeier bekommen?

    Lehmann: Daraufhin läuft sicher die ganze Ökumene, das kann man nie ausblenden. Aber so weit sind wir, denke ich, trotz vieler Fortschritte also noch nicht. Da braucht es viel Geduld und ich denke, das gemeinsame Lesen der Bibel, eine größere Gemeinsamkeit noch im Abgeben von Stellungnahmen zu politisch-sozialen Gestaltungsfragen, neuer missionarischer Aufbruch angesichts so vieler Mitchristen, besonders in neuen Bundesländern, die das Christentum gar nicht kennen, ist ein breiter Boden. Und da gehört auch die Diskussion um die Gottesdienste hinein. Und Motor für die Eucharistiegemeinschaft ist gerade auch für mich selbst die bekenntnisverschiedene Ehe, die danach ruft, dass das, was der Herr nicht wollte und in schreiendem Gegensatz steht zu seiner Botschaft, dass wir das von uns aus mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, abbauen – auch wenn das nicht so schnell geht, wie wir gerne möchten.

    Birke: Also, aber eine gemeinsame Eucharistiefeier im nächsten Jahr wird es Ihrer Meinung nach nicht geben?

    Lehmann: Nein, das halte ich sogar für eine gefährliche Entwicklung. Denn die würde zu einem großen Streit führen. Die würde möglicherweise auch in unserer Kirche zu Auseinandersetzungen dann führen, je nach dem, wie man reagiert. Aber es ist kein Schaden, wenn wir immer wieder gemahnt werden, dass das eine ganz vordringliche Aufgabe ist und bleibt, nachdem wir im wichtigen Punkt der Rechtfertigung gemeinsame Aussagen gefunden haben.

    Birke: Aber mit der evangelischen Kirche gemeinsam wollen Sie ja im Zeitalter der Multimediatechnik auch jungen Menschen die Bibel näher bringen. Wie soll das geschehen?

    Lehmann: Ach, ich bin ganz froh, wie das jetzt begonnen hat. Wir haben ja schon einmal ein Jahr der Bibel gemacht, und dort hatte ich den Eindruck, dass das doch eine stärker von oben aufgesetzte Sache gewesen ist. Jetzt geht es stärker von den Gemeinden und den Diözesen aus. Da spielt die moderne Technik natürlich auch eine gewisse Rolle in der Vermittlung. Es gibt die Bibel auf kleinsten Einheiten und so weiter. Aber dass die Menschen miteinander reden, dass sie die Bibel deuten für ihr Leben und das gemeinsam machen, und nicht nur so ein paar mal feierlich im Jahr bei ökumenischen Gottesdiensten, sondern dass das eigentlich ein Stück weit die Regel unter Christen wird, das wünsche ich mir eigentlich.

    Birke: Kardinal Lehmann: "So lange es nur Leiden kostet, hält er durch." – so wurde unlängst der Kardinalsdekan Josef Ratzinger zum Gesundheitszustand des Papstes zitiert. Kardinäle sind ja ab 80 nicht mehr wahlberechtigt. Wäre es nicht im Sinne der Kirche, wenn der Papst von sich aus zurückträte, sollte sich sein Gesundheitszustand weiter verschlechtern?

    Lehmann: Der Gesundheitszustand hat sich nach meinem unmittelbaren Wahrnehmenkönnen in den letzten Wochen – also mein Wahrnehmenkönnen bezieht sich auf die letzten Wochen – verbessert. Der Papst geht zwar immer noch gebrechlich, aber er braucht keine Hilfe, wenn er geht. Er geht alleine zu seinem Thron, er setzt sich alleine, steht auf alleine, er spricht sehr viel artikulierter und verständlicher, das Gesicht hat nicht mehr diese Starre, die man kannte. Ich war einmal beim Mittagessen in den letzten 14 Tagen bei ihm mit Kardinal Meissner wegen des Weltjugendtreffens und vorher bei einem großen Kongress über das christliche Krankenhaus – war deswegen mehr als die Monate vorher in der Lage, das aus der Nähe zu erfahren. Und ich bin froh, dass der Papst, der immer eine öffentliche Gestalt ist, nun eben auch noch mal anders auftreten kann.

    Birke: Die Frage war aber: Wenn sich der Gesundheitszustand verschlechtert. Wäre das ein Schritt . . .

    Lehmann: . . . Ich habe früher immer schon erklärt: Das weiß der Papst besser als alle anderen. Ich traue ihm das zu.